Vor vielen Jahren hatte ich über die schockierende Entdeckung berichtet, dass auf dem Bauernhof meiner Urgroßeltern – den die Weltöffentlichkeit bereits aus dieser Geschichte kennt – einst ein sowjetischer Zwangsarbeiter schuften, melken und ausmisten musste. Vielleicht war genau der gleiche und selbe Zwangsarbeiter jedoch ganz erleichtert, unter Obstbäumen im Bayerischen Wald statt unter Granatbeschuss bei Uman zu liegen. Vielleicht auch beides, gleichzeitig oder nacheinander, in der einen oder anderen Reihenfolge.
Man weiß es es nicht und wird es niemals wissen. Denn meine Suche nach Dimitri, wie der sowjetische Held in der Überlieferung heißt, hat bisher – trotz tatkräftiger und hier ausdrücklich zu lobender Unterstützung durch das Staatsarchiv in Landshut – keine Ergebnisse zutage gefördert.
So bleibt als einziges greifbares Memorial das auch drei Generationen später noch hochgeschätzte Holzkästchen, das Dimitri vor 80 Jahren geschnitzt, gebastelt und geleimt hat.


Eingangs hatte ich von dem Schock über die Erkenntnis berichtet, dass auch meine Familie in die Zwangsarbeit während des Nationalsozialismus verstrickt war. Dabei wäre eigentlich eher das Gegenteil überraschend. Zwangsarbeit war das NS-Unrecht, mit dem der größte Teil der deutschen und (auch wenn sie es dort nicht gerne hören) der österreichischen Bevölkerung im Alltagsleben in Berührung kam. Kaum eine Fabrik, kaum ein Gehöft, kaum ein Steinbruch und natürlich keine christliche Kirche, die keine Zwangsarbeiter hatte.
Auf dem Gebiet des Deutschen Reiches waren etwa 13,5 Millionen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen eingesetzt, in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten weitere Millionen von Menschen.
„Und von all diesen Millionen von Menschen gab es einen, der sich bei der Familie, der er zugeteilt worden war, mit solch einem filigranen Kunstwerk in Erinnerung hielt“, dachte ich. Aber das war Wunschdenken.
Denn bald meldeten sich aus dem ganzen Land Menschen, Museen und Gedenkstätten, die ähnliche Kästchen aus dem gleichen historischen Zusammenhang im Inventar hatten.


Insbesondere der Förderverein Gedenkstätte Stalag 326 (VI K) Senne e.V. hat etliche derartige Objekte und viel Wissen zusammengetragen. Eben ist Band 5 der Schriftenreihe des Vereins erschienen: „Verflochtene Geschichten: Kunsthandwerkliche Arbeiten sowjetischer Kriegsgefangener in Sammlungen, Ausstellungen und Vermittlung“

Auch unsere Zigarrenkiste hat es, wahrscheinlich als das reichsweit schönste Exemplar, in das Buch geschafft:

In der Publikation wird herausgearbeitet, dass die Kriegsgefangenen diese Handwerkskunst meist nicht – wie es wohl die familiäre Überlieferung gerne hätte – aus Dankbarkeit herstellten, sondern um sie gegen Lebensmittel zu tauschen oder zu verkaufen. Die handwerkliche Produktion von Holz- und Strohkästchen, aber auch von Besteck oder Kinderspielzeug aus Holz war also Teil der Überlebensstrategie in einer Lage, in der Millionen von Kriegsgefangenen an Hunger, Krankheit, Überarbeitung oder auch direkter Gewalt starben.
Tatsache ist, dass man zu kaum einem Objekt die Geschichte – insbesondere nicht aus der Perspektive des Zwangsarbeiters oder der Zwangsarbeiterin – kennt.
Links:
- Mehr Artikel über den Zweiten Weltkrieg und über Geschichte im Allgemeinen.
- Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit.
- Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ über die NS-Zwangsarbeit.
- Die Gedenkstätte Stalag 326 (VI K) Senne in Schloß Holte-Stukenbrock.
- Eine fünfteilige Reihe des Deutschlandfunks über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen sowie die späte Aufarbeitung.
