Eine Dampflok steht einsam auf den Gleisen. Sie fährt zwar nicht mehr, passt aber gut in das Erscheinungsbild des Bahnhofs. Prilep ist die viertgrößte Stadt Mazedoniens, aber der Bahnhof sieht aus wie in einem 2000-Einwohner-Dorf. Einem sterbenden 2000-Einwohner-Dorf. Die Gleise sind mit Gras überwachsen.
Vier Züge kommen hier pro Tag auf der Strecke von Skopje nach Bitola durch. Die Preise für die Fahrscheine sind handschriftlich in eine Tabelle eingetragen, die über der einen Luke für den Fahrkartenverkauf in einem mit toten Mücken verschmutzten Glasrahmen an der Wand hängt. Die Luke ist geschlossen. Die Bahnhofsuhr geht 10 Minuten nach.
16:45 Uhr. Die Sonne scheint noch heiß, wirft aber schon lange Schatten. Ich lehne an der den Gleisen zugewandten Wand des Bahnhofsgebäudes, mein Rucksack wird später voller Kalk sein. Manche der Wartenden haben große Stofftaschen mit Wäsche und Haushaltsgegenständen dabei. Zwei Männer stellen Getreidesäcke und Kisten mit Tomaten auf dem Bahnsteig ab.
Der Fahrkartenverkäufer kommt, versteckt sich aber in seinem Büro, von der Menge der wartenden Reisenden nicht beeindruckt. Von überall her schieben alte Männer ihre Fahrräder über die Schienen. Ein Mann im Automechaniker-Overall kommt mit dem Mofa auf den Bahnsteig. Ob das mit in den Zug soll? Der Wind bläst Kartons von rechts nach links durchs Bild. Männer in karierten Hemden rauchen Zigaretten. Gegenüber fährt zweimal ein Pferdefuhrwerk mit Strohballen vorbei.
Je länger die geplante Abfahrtzeit um 17:12 Uhr ereignislos verstreicht, desto mehr verstehe ich die fehlende Eile des Fahrkartenverkäufers: Er wusste natürlich von der Verspätung des Zuges. Schließlich öffnet er doch für wenige Minuten sein Fenster und verkauft ohne sichtbare Begeisterung ein paar Tickets. Mit einer 100-Denar-Banknote, die er aus seiner Kasse nimmt und hochhält, signalisiert er mir den Preis. Zwei Denar bekomme ich noch zurück. 98 Denar, das sind eineinhalb Euro, für eine Strecke von etwa 50 Kilometern. Hier kann man noch zum Vergnügen mit der Bahn fahren.
Schon die ganze Zeit kam ich mir in der Hitze und dem Staub, mit dem Blick auf die Berge und mit den im Sicherheitsabstand voneinander herumstehenden, geduldigen Passagieren wie in einer Szene aus einem Western vor, da klingelt tatsächlich das Mobiltelefon eines älteren, kleinen Mannes mit der Melodie von „Spiel mir das Lied vom Tod“. Ich schiebe mich ein wenig näher zum türlosen Eingang zur mit Spinnweben verhangenen Bahnhofshalle, um mich zurückziehen zu können, sobald die ersten Schüsse fallen.
Da kommt er, der lange erwartete Zug. Vollbepackt steigen Alte und Junge aus, die aus der Hauptstadt Skopje angekommen sind. Der Mann mit dem Mofa ist nur hier, um jemanden abzuholen. Er hilft einer alten Frau (seiner Mutter? seiner Oma?) aus dem Zug. Sie ist blind. Hoffentlich hält sie sich gut fest auf dem Zweirad.
Von Prilep nach Bitola wollen heute anscheinend nicht mehr so viele Menschen. Der Zug ist spärlich besetzt, aber noch leerer ist die Landschaft, durch die sich die Eisenbahn vorwärtskämpft. Die Abendsonne taucht die Getreidefelder in kräftiges Gold, die Wiesen in saftiges Grün. Die Hügelketten sind perfekt geschwungen.
Ein riesiges Sonnenblumenfeld auf der linken Seite; die Sonnenblumem haben entgegen dem Gerücht über ihr Verhalten die Gesichter von der Sonne abgewandt. Der Fahrtwind bläst durch die offenen Fenster und wirbelt die dicken Gardinen umher wie freiheitsverkündende Fahnen. Schnell sind wir nicht unterwegs, für die 50 km ist fast eine Stunde Fahrtzeit anberaumt.
Von zusammengefallenen oder abgebrannten ehemalige Bahnhofsgebäuden wird der Zug immer wieder mal zum Halt im Nirgendwo überredet.
Dazugehörige Dörfer kann ich nicht erkennen, auch keine Straßen. Trotzdem steigen an den Haltestellen Menschen aus. Die müssen mindestens noch ein paar Kilometer über die Felder gehen, bis sie nach Hause kommen.
Erst kurz vor Bitola, der zweitgrößten Stadt Mazedoniens, kommt wieder menschliches Leben in die Landschaft. Immer öfter muß der Zug warnend pfeifen, wenn er Straßen überquert. So erfährt die ganze Stadt von der Ankunft des Abendzuges. Am Bahnhof laufen zwei Männer mit einem großen Kühl- und Gefrierschrank auf die Lokomotive zu und hieven ihn durch die Tür gleich hinter das Führerhaus.
Vor dem Bahnhof lehnt ein Mann am Kofferraum seines Audi 80, der nur durch ein gelbes Schild auf dem Dach als Taxi gekennzeichnet ist. Ihm vertraue ich meinen Rucksack sowie meine Zieladresse in der Altstadt von Bitola an. Als er einsteigt, nimmt er das Taxi-Schild vom Dach. Einen Taxameter hat er nicht. So kann man sich am Feierabend etwas dazuverdienen.
Im Hostel treffe ich am nächsten Morgen beim Frühstück einen Amerikaner, der sich darüber beklagt, dass die Züge in Mazedonien keine Klimaanlage haben. Mir hingegen haben die Waggons mit offenen Fenstern statt Klimaanlagen so gut gefallen, dass ich traurig darüber bin, ab jetzt mit dem Bus weiterreisen zu müssen. Denn in Bitola ist Schluss mit der Eisenbahn. Die Direktverbindung von hier nach Griechenland wurde 1991 stillgelegt; auch nach Albanien geht kein Zug.
(Auch die Zugfahrten von Thessaloniki nach Skopje und von Skopje nach Prilep waren landschaftlich wunderschön. Selbst wenn Ihr nur wenige Tage in Mazedonien seid, solltet Ihr auf jeden Fall eine Reise mit der Bahn antreten. Tickets gibt es in den größeren Städten am Bahnhof, ansonsten zahlt man einfach im Zug. – Hier geht es zum Video einer Zugfahrt durch Mazedonien. – To the English version of this report.)
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