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„Wenn ich den Befehl nicht ausgeführt hätte, wäre ich selbst erschossen worden“, sagen die Täter, „Befehlsnotstand“ sagen ihre Strafverteidiger, wenn es um während des Zweiten Weltkrieges begangene Verbrechen geht. Eine praktische Ausrede, dieses angebliche moralische Dilemma. Allein, der Befehlsnotstand ist ein Mythos.
Erst während eines Praktikums bei der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen lernte ich, dass keine Fälle bekannt sind, in denen deutsche Soldaten oder SS-Angehörige hingerichtet wurden, weil sie offensichtlich rechtswidrige Befehle, wie z.B. zur Massenerschießung von Zivilisten, nicht ausführten. Die schlimmsten Konsequenzen waren Beförderungsstopp oder Versetzung, in manchen Fällen an einen Schreibtisch in der Heimat, was zwar als langweilig galt, aber immer noch besser war als ein Winter in Stalingrad.
Unverhofft entdeckte ich vor ein paar Tagen in der süditalienischen Hafenstadt Trani ein Beispiel hierfür. Auf dem dortigen Platz der Republik steht gemütlich unter Palmen und in Hörweite eines erfrischenden Springbrunnens dieses Denkmal:
In Beton gemeißelte Reihen von Namen erinnern ja meist an historische Katastrophen, und als ich das Datum 18. September 1943 las, konnte ich mir schon denken, worum es ging. Zwei Wochen zuvor hatte Italien, das bis dahin an der Seite von Nazi-Deutschland gekämpft hatte, einen Waffenstillstand mit den Alliierten vereinbart. Plötzlich waren Deutsche und Italiener keine Verbündeten mehr. Die Wehrmacht war jetzt eine Besatzungsarmee und verhielt sich dementsprechend, inklusive der für sie typischen Kriegsverbrechen.
So erwartete ich eine Gedenktafel für ein weiteres Massaker, stolperte jedoch über die Passage „… und die noble Geste des deutschen Kommandeurs Friedrich Kurtz“. Das passte nicht. Hier muss etwas anderes passiert sein.
Tatsächlich: Einige Tage vor dem 18. September 1943 waren in der Nähe von Trani fünf deutsche Soldaten in einem Hinterhalt erschossen worden. Die Deutschen vermuteten italienische Partisanen dahinter, und gemäß den damaligen Gepflogenheiten der Wehrmacht erhielt Oberleutnant Kurtz den Befehl, zur Bestrafung 50 männliche Bewohner der Kleinstadt zu erschießen. Die Geiseln waren bereits zusammengetrommelt, das Erschießungskommando stand bereit, als der Bürgermeister, der Erzbischof und die Frauen der Geiseln das Gespräch mit Kurtz suchten.
Der deutsche Befehlshaber ließ sich auf das Gespräch ein und entschied am Nachmittag, abzurücken ohne die Geiseln zu erschießen. Die 54 auf dem Marktplatz versammelten Männer überlebten dank dieser Befehlsverweigerung. Die Alliierten waren zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem italienischen Festland gelandet und britische Truppen standen vor der Einnahme von Trani. Möglich, dass dies die Entscheidung von Kurtz beeinflusste.
Eine eindeutige Befehlsverweigerung, während des Krieges, in der Nähe zur Front. Was passierte Oberleutnant Kurtz? Er blieb Offizier, wurde allerdings nicht mehr befördert. Genauso erging es den (wenigen) deutschen Soldaten, die anderswo Befehle zu Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung verweigerten. Von Befehlsnotstand keine Spur.
Einen Monat später, am 18. Oktober 1943, kam der italienische König in die Stadt und überreichte dem Bürgermeister und dem Bischof die Tapferkeitsmedaille. In den Jahrzehnten danach kam das Gespräch in Trani aber immer wieder auf den „guten Deutschen“, dessen Identität niemand kannte und der sich selbst nie gemeldet hatte. Erst 2003 begann die systematische Suche in den Archiven und die Laienhistoriker kamen so auf Friedrich Kurtz. Der bekam davon und von der Einweihung des Denkmals im Jahr 2005 nichts mehr mit. Er war bereits 1993 gestorben.
2012 wurde das Geschehen unter dem unpassenden Titel „Das Wunder von Trani“ verfilmt. Auch während eines Krieges sollte es kein Wunder, sondern Normalität sein, dass an militärischen Handlungen nicht beteiligte Zivilisten nicht aus Rache erschossen werden. Ein Wunder ist eher, wie oft so etwas vorkam, wieviele Soldaten sich daran beteiligten und wie wenige ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie – was selten vorkommt – später damit konfrontiert werden.
Links:
- Weitere Artikel aus Italien.
- Und noch viel mehr Geschichte.
- In diesem Zusammenhang ist besonders die Schlussstrich-Debatte von Interesse.
Pingback: “… and the noble gesture of the German commander” | The Happy Hermit
Danke, für die sehr interessanten Informationen. Ich war gerade in Trani und werde in meinem Blog aus deinem Text gerne zitieren.
Oh, das freut mich immer am meisten, wenn jemand meine Artikel zur Vor- oder Nachbereitung einer Reise entdeckt.
Ich freue mich auf die Verlinkung und bin schon neugierig auf einen Blog! Auch, um die Erinnerungen an Apulien wieder zu reaktivieren…