„Warum gerade Targu Mures?“ werde ich gefragt, seit ich hierher gezogen bin. Jetzt kann ich mit Zuversicht antworten: „Weil wir die rumänische Fußballmeisterschaft gewinnen werden.“
Dabei ist das örtliche Team, ASA Tirgu Mures, erst in dieser Saison von der zweiten in die erste rumänische Liga aufgestiegen. Nach einem Überraschungssieg gegen Steaua Bukarest in der letzten Woche steht ASA jetzt auf Platz 1, mit zwei Punkten Vorsprung vor eben jenem Bukarest, das bereits 25 Mal die rumänische Meisterschaft gewann. Ein Kleinstadtverein besiegt den rumänischen FC Bayern und steht fünf Spieltage vor Saisonende vor einer Sensation.
Also gehe ich zum ersten Mal in meinem Leben zu einem Erstligaspiel. Am Tag vor dem Spiel öffnet der Ticketschalter um 17 Uhr. Es seien noch 2.500 Karten erhältlich, hatte der Verein verlautbart. Das Stadion hat 8.200 Plätze. Angesichts des erwarteten Ansturms bin ich Punkt 17 Uhr vor dem Stadion und reihe mich eine lange Schlange. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite verrottet das alte Stadion. Der „Fan-Shop“ ist eine kleine Holzbude, windschief und geschlossen. Alles etwas sympathischer als bei den großkotzigen Millionärsvereinen. „Das ist ja wie unter Ceaușescu“ kommentiert ein Mann vor mir die Länge der Warteschlange, in der ich einige Sportjacken mit den Namen von von einstmaligen Regional- und Kreisligisten aus Deutschland erspähe, die wahrscheinlich schon lange die Lizenz verloren haben.
Nach 30 Minuten bin ich an der Reihe. Welche Plätze ich haben will? Direkt hinter den Toren kosten die Sitzplätze 5 Lei (= 1,14 €) und auf der Seitentribüne 10 Lei (= 2,28 €). Für ein Erstligaspiel des Tabellenführers! Unglaublich.
Am darauffolgenden Tag gibt es übrigens noch immer Karten. Das Stadion ist nicht ausverkauft, was auch am Wetter liegen mag. Den ganzen Tag hat es geregnet, dunkle Wolken liegen noch über dem Stadion, die für den Spielbeginn um 18:30 Uhr schon eingeschalteten Flutlichter heben sich davon ab wie vier Sonnen. Manche der Besucher kommen in Gummistiefeln und Anglerjacken. Andere haben Plastiktüten gegen den Regen dabei; Regenschirme müssen nämlich am Eingang abgegeben werden.
Kurz vor Einlass kommen auch die Art von Fans, wegen derer ich dem Fußball bisher skeptisch gegenüberstand (ganz abgesehen von der üblichen Intellektuellenüberheblichkeit gegenüber Ballspielen). Etwa ein Dutzend junge Männer marschieren wie im Gleichschritt Richtung Stadion, schwenken Schals in den Vereinsfarben über ihren Köpfen und schreien „Mures, Mures, Mures“. Wenn ich diese Ansammlungen von Fans sehe, kann ich mir die Assoziation mit faschistischen Massenaufläufen nicht verkneifen. Die Uniformen, die Schreie, das Anhimmeln von Idolen, das bereitwillige Unter- und Aufgehen in der Masse, die Verherrlichung des Kampfes und das Abwerten des Gegners.
Aber der Leser erwartet einen Spielbericht, keinen Aufsatz über politische Philosophie. Los geht’s also: Der augenfälligste Unterschied zwischen den beiden Mannschaften ist das Alter. Die Spieler von ASA Tirgu Mures könnten die Väter derer von FC Viitorul Constanta sein. Auf der einen Seite alte Männer mit Vollbärten und teilweise mit Bauchansatz, auf der anderen Seite sprintstarke Teenager. ASA spielt kämpferischer, robuster, nicht gerade filigran. Wenn Constanta im Ballbesitz ist, geht es blitzschnell nach vorne bis vors heimische Tor, wo die auswärtigen Jungs dann aber scheitern. Einige der Spieler von ASA Tirgu Mures sind Ende 30, man merkt ihnen die Erfahrung und Gelassenheit an.
Das Spiel geht so hin und her. In beiden Spielfeldhälften ist gleich viel los. Keine Mannschaft dominiert. In der 37. Minute gibt es eine gelb-rote Karte für einen Spieler von Constanta, obwohl ASA insgesamt etwas rauer spielt. Die Überzahl der Heimmannschaft bricht den Willen von Constanta nicht, scheint das Spiel auch nicht zu kippen.
Der laute Schrei eines Constanta-Spielers durchreisst den Regen. Er geht zu Boden. Das hörte sich nach echtem Schmerz an. Beim Kopfballduell sind zwei Spieler mit den Köpfen aneinander geprallt, ohne böse Absicht. Der Constanta-Spieler liegt regungslos am Boden, der ASA-Mann kümmert sich nicht und läuft weg. Ich bin schockiert nicht ob der Rohheit des Spiels, sondern angesichts der Rohheit der Reaktionen: Die Zuschauer buhen den am Boden liegenden Verletzen aus. Als die Sanitäter aufs Spielfeld laufen, werden die verbalen Anfeindungen und die hämischen Rufe noch lauter. Die Sanitäter werden beschimpft. Ein Mensch ist verletzt, aber die Mures-Fans im Stadion zeigen sich von der schlimmsten menschlichen Seite. Erschreckend, und jetzt bin ich wieder bei meinen anfänglichen Bedenken gegen Fußball.
Kurz vor der Halbzeit fällt das 1-0 für ASA Tirgu Mures, eher ein erleichternder als ein ermutigender Zwischenstand. In der Pause gehen einige der Zuschauer komplett durchnässt und frierend nach Hause. In den Gängen zwischen den Sitzreihen steht das Wasser wie in Venedig. Nach der ersten Halbzeit kann man keinem verübeln, dass er sich vom Acker macht. Bundesliganiveau war das nicht gerade. Wer jetzt geht, wird sich allerdings in 45 Minuten in den Arsch beißen, weil er das Spiel der Saison verpasst hat.
Denn die zweite Halbzeit beginnt mit dem 2-0 für Mures. „Campioni, campioni“ ruft die Menge schon begeistert, wie wenn die Meisterschaft jetzt sicher ist. Dabei darf sich ASA Mures in den verbleibenden vier Spielen keinen Patzer erlauben, solange Rekordmeister Bukarest so dicht auf den Fersen folgt.
Dann das 3-0, wie eine Kopie des 2-0. ASA dominiert, Constanta ist eingeknickt. Noch 25 Minuten Spielzeit. Ich zünde mir zur Feier eine Zigarre an, denn dieses Ergebnis wird sich nicht mehr drehen lassen. Und tatsächlich geht es weiter: 4-0. Diese Halbzeit erinnert mich an das WM-Spiel zwischen Deutschland und Brasilien. 4-1, ein kleiner Ausrutscher, keiner bejubelt das Gegentor. Sind überhaupt Fans von der Schwarzmeerküste hier? Ich sehe keine. 5-1. ASA Tirgu Mures kann jetzt spielen, wie wenn Constanta nicht mehr auf dem Feld steht. 6-1. Die Anzeigetafel kommt kaum mehr mit, in so kurzen Abständen fallen die Tore.
Schlusspfiff. Der höchste Sieg der Saison. „Campioni, campioni“-Rufe, aber die Spieler sind zu erschöpft, um noch lange auf dem Rasen zu verweilen. Obwohl der Regen aufgehört hat, strömen auch die Zuschauer zügig von dannen. Ich erkenne Freude über ein Fußballfest, auch einen gewissen Stolz, dass die Heimatstadt jetzt landesweit bekannt ist, aber nur wenig authentische Identifikation mit der Mannschaft.
Etliche Besucher erklären mir, dass sie noch immer Fans der Mannschaft aus den 1970ern sind, die dreimal im UEFA-Cup gespielt hat (und nie über die erste Runde hinauskam), und dass die jetzige nur aus Brasilien und dem Senegal zusammengekauft sei. Da ist etwas dran, und zukunftsfähig ist so ein Konzept wohl nicht. Wenn ein anderer Verein mehr bietet, sind die Jungs (das Wort „Söldner“ fällt oft in Gesprächen darüber) wieder weg.
Noch dubioser wird das Ganze, wenn man erfährt, dass die Fußballmanschaft aus dem städtischen Haushalt finanziert wird. Vor dem Rathaus von Targu Mures steht in Erinnerung an das römische Erbe die Romulus-und-Remus-Statue, aber von „panem et circenses“ ist nur der Zirkus übrig geblieben. Währenddessen klaffen in den Straßen metertiefe Löcher, alte Menschen hungern sich mit mickriger Rente durch den Winter, öffentliche Gebäude verfallen und einige tausend Bewohner von Targu Mures leben in Vierteln, die man nur als Slums bezeichnen kann.
Es ist eben alles eine Frage der Priorität.
Pingback: A small town on the way to the championship | The Happy Hermit