Nur durch die umliegenden Berge wirkt die Stadt weniger deprimierend als sie sonst wäre. Das war mein erster Gedanke beim Anblick Podgoricas. Ob Länder ohne Berge wohl eine höhere Selbstmordate haben, obwohl die Berge den Suizid eigentlich vereinfachen?
Düstere Gedanken in einer düsteren, grauen Stadt ohne besonderen Charme. Vor einer Apotheke hält mir jemand ein Arzneimittelrezept vor die Nase und will so ein paar Euro erbetteln. Ich widerstehe.
Ich war mit Marko zu einem Treffen verabredet, denn ich über Couchsurfing kennengelernt hatte und der mir eine Stadtführung angeboten hatte. Er schlug ein Treffen „am Platz im Zentrum, neben der Transformer-Statue“ vor. Samstag um 13 Uhr. Damit wir uns erkennen würden und weil ich kein Telefon hatte, zählte ich haargenau auf, welche Kleidung ich tragen würde und dass ich als Erkennungsmerkmal ein Notizbuch in der Hand halten würde. Samstag Nachmittag am zentralen Platz einer europäischen Hauptstadt schien mir genau die Kombination von Ort und Zeit zu sein, zu der man sich leicht verpaßt oder gezwungen wäre, wildfremde Menschen anzusprechen, um sie nach ihrer Identität zu fragen.
Durch einen kleinen Park spaziere ich Richtung Zentrum. Ein Obdachloser beginnt, mich anzusprechen, erblickt dann meine durchlöcherten Schuhe und entschuldigt sich mitleidsvoll. Ich beginne, die ersten positiven Seiten Podgoricas zu sehen: nette, sehr freundliche Menschen, attraktive Mädchen.
Am Platz der Republik angekommen, merke ich, wie übertrieben Marko die Detailtreue meiner Selbstbeschreibung vorgekommen sein muss. Der Platz im Zentrum der Hauptstadt ist menschenleer. Und windig. Und grau.
Jetzt verstehe ich auch, wer der Transformer ist. Ich dachte, es wäre jemand, der Montenegro transformiert hätte. Ein Held, ein Partisan, ein Stadtplaner, ein König, ein Mönch. So etwas wie die Jesus-Statue in Rio de Janeiro habe ich erwartet. Stattdessen ist es ein aus Altmetall und Autoreifen zusammengeschraubtes und mit einer übergroßen Tarnjacke überzogenes Abbild einer Figur aus dem „Transformer“-Film, circa 12 Meter hoch, mit bedrohlichen Klauen. Vielleicht traut sich deshalb niemand mehr auf den Platz.
Nach ein paar Minuten kommt Marko mit schnellen Schritten auf mich zu, wir begrüßen uns, und dann – „let’s go!“ – beginnt schon die Stadtführung. Marko ist so alt wie ich, seine Haare schon etwas grauer, er ist einen Kopf größer und einer der wenigen Menschen, die noch schneller gehen als ich. Durch die Fußgängerzone hastend erklärt er, dass es bis vor ein paar Jahren einen McDonalds in Podgorica gegeben habe, aber dass Montenegro jetzt das einzige Land in Europa ohne diese Fast-Food-Kette sei. „Ich nehme an, dass den Leuten hier das Essen nicht geschmeckt hat und dass McDonalds deshalb wieder abgezogen ist.“ Oder die Kinder hier sind weniger quengelig und beeinflussen die Restaurantwahl ihrer Eltern nicht so stark.
„Hier ist das Parlament.“ Ich will ein Foto machen, aber Marko eilt schon über die Straße, zur Brücke über die Morača. Er zeigt mir die Brücken, erwähnt die Namen, deutet die Stadtviertel auf der anderen Seite des Flusses an. Es ist offensichtlich, dass er diese Stadtführung schon oft gegeben hat.
Dann gehen wir auf einem kleinen Trampelpfad ins Gebüsch. Der Gedanke, sich mit einem fremden Mann, den ich nur übers Internet flüchtig kannte und erst vor fünf Minuten kennengelernt hatte, in einer fremden Stadt in einem fremden Land in die Büsche zu schlagen, kommt mir erst jetzt bei der Niederschrift komisch vor. Aber keine Sorge, liebe Leser. Erstens ist auf meine Menschenkenntnis Verlass, zweitens kannte Marko den Weg zur schönsten Stelle in Podgorica, den ich allein nie gefunden hätte: zum Zusammenfluss von Ribnica und Morača.
Eine alte Steinbrücke, die man nur über steile Treppen erreichen kann, geht über die Ribnica, die hier wie ein Gebirgsbach aus einem kleinen Wald herunterfließt.
„Wie in einem Nationalpark!“ entfährt es mir erstaunt, schließlich waren wir vor ein paar Minuten noch im Stadtzentrum.
Meine Versöhnung mit Podgorica hat begonnen. Aber ruckzuck geht es weiter, über die Brücke in das muslimische Viertel von Podgorica. Man fühlt sich hier wie in einem beliebigen Balkandorf mit Einfamilienhäusern, Hunden und Hühnern, Nachbarschaftsplausch über den hohen Zaun.
Der Turm des Minaretts hilft bei der Orientierung durch die engen Gassen. Auch der freistehende Uhrturm stammt aus der osmanischen Zeit.
Wenn ich hier nur mehr Erinnerungsbruchstücke abreisse, dann um das Tempo dieses Spaziergangs aufzuzeigen, und weil ich mich angesichts desselben zwischen Fotografieren und Schreiben entscheiden mußte und das Visuelle die Oberhand gewann. Ich wäre an vielen Orten gerne länger verweilt, hätte mir Notizen gemacht, aber Marko schien bald zu einem Termin zu müssen und ich war der sich dem unterzuordnen habende Gast.
Über die Brücke ans andere Ufer der Morača, dort durch einen großzügigen Park zum Winterpalast auf dem Kruševac-Hügel. Irgendetwas mit Königsfamilie, österreichische Besatzung im Ersten Weltkrieg, Krankenhaus, Museum für Tito-Bilder habe ich mir gemerkt, aber vielleicht bringe ich das durcheinander.
Weiter zum Denkmal des Metropoliten Petar I., der bis 1830 Bischof und Fürst von Montenegro war.
„Montenegro war mal eine Theokratie“, erklärt Marko, und nach 40 Minuten legt er zum ersten Mal eine kleine Pause ein, so dass ich ihn endlich fragen kann, was er eigentlich beruflich macht. Aufgrund der Detailtiefe seiner Erzählungen tippe ich auf Tourismusbranche, Stadtplaner oder Historiker. Tatsächlich ist er Mathematiklehrer, hat aber mangels familiärer Beziehungen keine Stelle gefunden oder die alte verloren und gibt jetzt Privatunterricht.
Zwischen einer Unterhaltung über das Verhältnis von Montenegrinisch und Serbisch sowie zwischen Montenegro und Serbien („Ich fühle mich als montenegrinischer Serbe, aber mein Bruder fühlt sich als serbischer Montenegriner.“) fragt mich Marko plötzlich freudig: „Willst Du Dir das Krankenhaus ansehen? Es ist gleich hier in dieser Straße.“ Die ängstlichen unter den Lesern denken jetzt an Organentnahmen und -handel, aber bis zu dieser Niederschrift kam mir dieser Gedanke nicht einmal in den Sinn.
Unter dem Eindruck, dass Marko wohl jemanden im Krankenhaus kennt, mit dem er mich bekannt machen will, stimme ich zu. Er spaziert aber einfach zur Notaufnahme und erklärt, dass er einen Besucher aus Deutschland mitgebracht habe, der sich mal umsehen wolle. Nun bin ich aber überhaupt kein Mediziner, so dass mir nur die scherzhafte Bemerkung einfällt, dass ich am morgigen Halbmarathon teilnehme und mir mal ansehen wollte, wo ich denn im Bedarfsfall eingeliefert würde.
Das bricht das Eis und die mittlerweile vier oder fünf Ärzte, Krankenschwestern oder Krankenpfleger (wie hält man das auseinander, wenn jeder weiße Kittel trägt?) erzählen von den Vorbereitungen auf den Halbmarathon, von den Fällen, die sie sonst so bekommen und fragen dann aber mehr, wie es mir in Montenegro gefällt, wie lange ich bleibe, was ich mir alles ansehen will. Eine ältere Krankenschwester versucht ihre jüngeren Kolleginnen zu verkuppeln, verwirrenderweise gleich mehrere auf einmal. Es geht locker, entspannt und humorvoll zu, aber – immerhin sind wir in der Notaufnahme – jede halbe Minute schaut jemand mit einem geschwollenen Auge, einem humpelnden Bein, einem schmerzverzerrten Gesicht durch die Tür. Jedes Mal zischen die Mediziner die Patienten an, dass sie auf dem Flur warten sollen. Ich komme mir fast so vor wie einer jener nervigen Politiker, die mit ihren Besuchen in öffentlichen Einrichtungen alles lahmlegen. Jetzt muss nur noch der alte Mann vorbeikommen, dem ich vor ein paar Stunden den Zuschuss zum lebensrettenden Medikament versagt habe. Schließlich ziehen wir weiter, aber nicht bevor mir jeder „good luck!“ für den morgigen Lauf gewünscht hat. Hoffentlich ist zwischenzeitlich keiner der wartenden Patienten verstorben.
In der Nähe der Klinik steht eine kleine Kirche, wie in einem Garten, umgeben von Bäumen, die sie überragen. Die schlichte Sankt-Georgs-Kirche (crkva svetog Đorđa) ist etwa tausend Jahre alt und eines der ältesten erhaltenen Bauwerke in Podgorica. Die Fresken stammen aus dem 16. Jahrhundert.
Von hier aus geht es auf den Gorica, den namensgebenden Hügel, der mitten in der Stadt thront. Eine grüne Oase, groß, ruhig, aber auch sehr steil. Marko wird nicht langsamer, ich bekomme hier ein ausgiebiges Training für den morgigen Halbmarathon. Auf all den Waldwegen verlaufen wir uns zum ersten Mal ein bißchen, aber da wir ganz nach oben wollen, verlieren wir das Ziel nicht aus den Augen. Nur vereinzelte Spaziergänger, Jogger und jugendliche Paare haben den weiten Weg bis hier hoch gefunden.
Es wäre ein schöner Ort, um den Sonnenuntergang zu beobachten, aber wir müssen weiter. Zuerst zum Partisanendenkmal, typisch jugoslawisch, typischer sozialistischer Brutalstil, aber in einer Stadt, die bis 1992 Titograd hieß, natürlich obligatorisch. Jetzt sieht es so aus, wie wenn es vefällt und kaum noch jemand der Partisanen gedenkt. Schade.
Zurück in der Stadt laufen wir zur Auferstehungskathedrale, eine jener großen, neuen Kirchen, die in allen orthodoxen Ländern Osteuropas aus dem Boden sprießen. Busse mit Wallfahrern stehen auf dem einkaufszentrumsgroßen Parkplatz.
Marko stellt sich als ziemlich religiös heraus, er zündet Kerzen an, küsst Ikonen, verbeugt sich vor Altären. Mit viel Weihrauch und Gesang ist gerade eine Taufe im Gange.
Mit all dem Herumrennen sind sowohl Zeit für als auch Appetit auf ein spätes Mittag- oder frühes Abendessen gekommen. „Let’s eat at the church“, schlägt Marko vor. Na gut, ich bin zwar Atheist, aber die meisten Priester sehen wohlgenährt aus, also kann das Essen nicht schlecht sein. Verwirrenderweise gehen wir dann doch in die Fußgängerzone, wo sich das Rätsel auflöst, als wir in ein Restaurant mit dem Namen „The Church“ eintreten.
Holzgetäfelt-rustikal mit einer niederen Decke, Ikonen und Bildern von Klöstern an den Wänden. Aus den Lautsprechern dringen sanfte Choräle.
Das Restaurant wird tatsächlich von der orthodoxen Kirche betrieben, womit das Geld laut Marko „einem guten Zweck“ zugute kommt. Speisekarte gibt es keine, der Kellner erklärt einfach was heute gekocht wurde (Huhn mit Reis), und der Gast sagt ja oder nein. Wir ordern mit einem doppelten Ja.
Ein mit Büchern über Montenegro, seine Geschichte und natürlich die Religion gut bestücktes Bücherregal steht neben der Eingangstür. Wir blättern gemeinsam durch die Bildbände und stellen meine Route für die nächste Woche zusammen. Wenn ich eines der Bücher mitnehmen möchte, sei das kein Problem, ich könne es einfach nach ein paar Tagen wieder zurückbringen.
Mir wird volles Vertrauen entgegengebracht, weil es keinen Grund gibt, mir nicht zu vertrauen. Genauso gibt es keinen Grund, anderen Menschen nicht zu vertrauen. Wer davor zurückschreckt, verzichtet auf so vieles und schränkt seine Erfahrungen ein. Deshalb nütze ich zum Beispiel Couchsurfing, um mich mit vorher Fremden zu verabreden, wenn ich reise. So wurde aus dem anfänglich tristen und grauen Podgorica innerhalb eines Nachmittags eine interessante und lebendige Stadt.
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