Der Dichter auf seinem Berg

Nach einem ausgedehnten Rundgang durch Cetinje will ich die letzten Sonnenstrahlen, ein Buch und eine Zigarre auf dem Adlerfelsen genießen, der über der alten Hauptstadt Montenegros thront.

Adlerfelsen

Der Aufstieg ist kein Problem, eher ein leichter Spaziergang nach den Bergerfahrungen der letzten Tage. Schon nach 20 Minuten eröffnet sich auf der einen Seite der Blick über die Weite des Lovćen-Nationalparks

Adlerfelsen Ausblick 1

und auf der anderen Seite der Blick hinab nach Cetinje. Und dieses kleine Dorf mit seinen paar hundert Häusern soll mal Hauptstadt eines Königreichs gewesen sein? Schwer zu glauben.

Adlerfelsen Ausblick 2

Auf den Stufen vor dem Sarkophag des Metropoliten Danilo lasse ich mich nieder und hole Die Akte H. von Ismail Kadare aus der Tasche. Der albanische Autor beschreibt darin die halb auf Tatsachen basierende Geschichte zweier amerikanischer Homer-Gelehrter, die während ihrer Nachforschungen in Albanien für Spione gehalten werden.

Sarkophag

Gegenüber von mir, auf der anderen Seite des Plateaus, haben sich mittlerweile vier ältere Männer eingefunden, die nach mir den Berg heraufgeschnauft sind. Sie stehen im Kreis und genießen den Inhalt der Bierflaschen, die sie aus den Taschen ihrer Leder- und Jeansjacken geholt haben. Sie machen den Eindruck von Bauarbeitern, die sich nach der Arbeit ausruhen.

File on H

Ich bin gerade an der Stelle des Buches, an der Kadare den tiefsitzenden Konflikt zwischen Serben und Albanern erwähnt (ein nationalistischer serbischer Mönch will verhindern, dass die Quellen des antiken Homer in Albanien verortet werden), als einer der Männer – das Bier ist alle – zu mir herüberommt. Ich blinzle in die Abendsonne als wir uns begrüßen. Er fragt, ob ich Serbisch oder Russisch spräche. In diesem Städtchen könnte man wirklich alle europäischen Sprachen lernen.

Ich schlage mein Buch so zu, dass er den Titel nicht lesen kann. Man will einen Serben ja nicht unbedingt mit einem Buch des bekanntesten albanischen Autors provozieren, vor allem wenn ich vor dem Grab eines montenegrinischen Kirchenfürsten sitze. Ich hätte besser etwas von Ivo Andrić mitgebracht. Am Flughafen in Belgrad war noch immer eine ganze Wand zum 50. Jubiläum seines Nobelpreises verziert gewesen, obwohl auch dieses Jubiläum schon wieder ein paar Jahre her ist.

Aber der Glatzkopf ist literarisch interessiert und fragt nach. Natürlich kennt er Ismail Kadare, und erwartungsgemäß ist er nicht allzu begeistert. „Diese Albaner, die haben Geld, die werden immer veröffentlicht. Aber niemand veröffentlicht serbische Literatur“, baut er eine Weltverschwörungstheorie auf. Die Vermutung, dass Albaner im Allgemeinen reich wären, überrascht mich nach meiner Albanien-Reise doch etwas.

Sogleich folgt eine noch größere Überraschung: Der dicke Mann holt ein dickes Buch aus seiner Jackentasche. Einen Gedichtband, den er selbst verfasst hat, und von dem – er beklagt sich wiederholt – es leider keine Übersetzung gäbe. Auf der Titelseite prangt das Bild des Mausoleums Petars II. auf dem gegenüberliegenden Gipfel des Jezerski Vrh mit einem Adler. Vielleicht konnte das Königreich Montenegro nicht länger bestehen, weil alle Gipfel schon mit Mausoleen von Fürsten und Bischöfen belegt waren und kein Platz für weitere Grabstätten vorhanden war.

Obwohl wir uns nur mit Bruchstücken aus vier oder fünf verschiedenen Sprachen verständigen konnten, war es interessant, an diesem unerwarteten Ort mit einem Literaturliebhaber ins Gespräch zu kommen. Herr Vujović hat übrigens nur für das Foto so ernst geblickt, ansonsten war er ein ganz sympathischer und umgänglicher Mensch.

Veselin Vujovic

Dank diesem über die Grenzen Montenegros und Serbiens hinaus unbekannten Lyriker komme ich endlich auch mal zu einem Foto von mir selbst:

Andreas Moser Adlerfelsen

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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Eine Antwort zu Der Dichter auf seinem Berg

  1. Pingback: Cetinje, einstmals Hauptstadt des Königreichs Montenegro | Der reisende Reporter

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