Was macht man an Weihnachten, wenn man nicht daran glaubt und wenn man direkt neben einem Nationalpark wohnt? Klar, man geht wandern. Die 20 km von Lencois zum Morro do Pai Inacio schienen genau die perfekte Entfernung für einen Tagesmarsch.
Kurz nach Lencois tauchten schon die ersten Berge auf. Bei so einer Aussicht macht wohl selbst die Gartenarbeit Spaß.
Oder auch weniger, wenn ringsherum die Waldbrände wüten.
Im Minutentakt wechselten sich die Landschaften ab, von Bachläufen im Herbstlaub zu wüstenartiger Landschaft, dann wieder Palmen und Alleen aus Obstbäumen.
Der Weg folgte ab etwa halber Strecke sowohl einem alten Aquädukt als auch einer Spur der vom Brand geschlagenen Verwüstung.
Nach etwa drei Stunden Wanderung, immer leicht bergauf, tauchte zum ersten Mal das Ziel am Horizont auf: der markante Morro do Pai Inacio. Eine Szene wie aus einem Westernfilm, nicht zuletzt dank meines passenden Hutes.
Der Berg schien nah, der Weg dorthin direkt, doch beides war eine Täuschung. Wie bei einer Fata Morgana blieb die Entfernung noch für mehr als eine Stunde optisch genausoweit, egal wie schnell ich ging.
Und wie in der Wüste tauchte eine nicht auf meiner Landkarte verzeichnete Oase auf. Ein verfallendes Haus mit riesigen, prallvollen Mangobäumen. Annehmend, dass dieses Anwesen verwaist war (von den Tieren lagen nur Skelette im Garten), wollte ich einen der Bäume besteigen, als ich auf der Veranda einige Schuhe und eine zum Trocknen aufgehängte Goldgräberjeans sah.
Plötzlich hatten die Totenschädel im Garten eine ganz andere Bedeutung, und ich nahm reißaus, quer durch einen Wald, durch den ich mich die letzte Stunde schlug, bis ich endlich vor dem Pai Inacio stand.
Da erst merkte ich „holla, ganz schön steil, dieses Teil“ und wunderte mich, woher all die Touristen ihre Fotos vom Gipfel dieses Brockens hernahmen. Die würden doch kaum alle eine senkrechte Wand hochklettern. Und tatsächlich: Von hinten ist der Berg ganz leicht zu besteigen, und außer mir fuhr jeder Besucher bis auf die letzten fünfzehn Minuten mit dem Auto hinauf.
Das löste wenigstens ein Problem, das sich aufgrund des fortgeschrittenen Tages stellte: In zwei Stunden würde es dunkel werden, und für den Hinweg hatte ich sechs Stunden benötigt. Selbst wenn ich auf dem Rückweg schneller wäre und keine Pausen einlegen würde, müßte ich die Hälfte der Strecke im Schein des Vollmondes bewältigen. Romantisch, aber auch irgendwie spukig mit all den Schlangen, Pumas und fleischfressenden Pflanzen. Aber wo Menschen mit dem Auto hinkommen, würde sich hoffentlich jemand finden, der mich zurück nach Lencois nehmen könnte. Gerade an Weihnachten.
Bevor ich überhaupt jemanden fragen mußte, sprach mich Davi an, ein Brasilianer, der zusammen mit zwei Freunden die Steilwand hochgeklettert war, die ich als unbezwingbar abgetan hatte. Ob Haken zur Sicherung in der Wand wären, fragte ich. „Nein, hier gibt es gar nichts in der Wand. Hier ist man vollkommen frei, das ist ja gerade das Schöne“, lachte er. Und als er von meiner Wanderung hörte, bot er mir sogleich an, mich nach Lencois zurückzunehmen.
Je mehr ich die Welt bereise, umso mehr universell gültige Grundsätze lerne ich. Einer lautet: In jedem Land der Welt trifft man die freundlichsten, hilfsbereitesten und oft auch interessantesten Menschen in Nationalparks und in Bibliotheken.
Zum Glück waren Davi und seine Kollegen nicht in Eile, so dass ich auf dem Plateau den kühlenden Wind und grandiose Ausblicke genießen konnte. Leider gibt es hier Nationalparkwächter, die sicherstellen, dass niemand auf dem Berg übernachtet.
Auf der Rückfahrt stellte ich anhand des „Advogado“-Aufklebers an seinem Auto fest, dass Davi ebenfalls Jurist ist. Zum Vergnügen unserer Beifahrer beschlossen wir den Tag mit einer rechtsvergleichenden Diskussion über Verfassungsprozessrecht, die ich gerne noch den ganzen Abend fortgesetzt hätte. Zuhause angekommen, gab es die nächste Überraschung: Meine Vermieter warteten mit Braten und Bier mit Whiskeygeschmack.
So kann man Weihnachten ertragen.
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