1889, das war ein Putsch, als das Militär den brasilianischen Kaiser Pedro II. stürzte und ins Exil zwang.
1964, das war ein Putsch, der zu 20 Jahren Militärdiktatur führte.
2016, das ist ist, entgegen aller anderslautenden Rhetorik und Rufen von „Putsch“ und „Staatsstreich“ nichts dergleichen.
Es ist ein in der Verfassung vorgesehenes Amtsenthebungsverfahren. Zwar ist es ein Riesenzirkus, in dem korrupte und kriminelle Politiker einer nicht der Korruption angeklagten Politikerin haushaltstechnische Vorwürfe machen, die im Vergleich zu allen anderen Vorwürfen im Land unerheblich sind. Zwar ist es traurig für die brasilianische Demokratie, wenn Abgeordnete ihre Entscheidung unter Berufung auf ihre Familien, auf Götter, auf die Militärdiktatur, gegen den Kommunismus oder wie in einem Fall „für Frieden in Jerusalem“ abgeben. Zwar hat das brasilianische Parlament in der Abstimmung offenbart, das es eine noch größere Peinlichkeit als die Fußballnationalmannschaft darstellt (immerhin verlor Präsidentin Rousseff die Abstimmung nicht mit einer Quote von 7 zu 1). Zwar gibt es tatsächlich ein paar Irre in Brasilien, die eine Militärregierung wollen. Zwar ist die Stimmung gefährlich aufgeheizt und das Niveau der politischen Debatte bodenlos.
Aber das alles konstituiert keinen Putsch und keinen Staatsstreich.
Vielmehr ist es ein Symptom von vielem, was in Brasilien im Argen liegt. Nur dass jetzt die ganze Welt das Chaos bemerkt, das Brasilianer, die es sehen wollten, schon die ganze Zeit gekannt hatten. Leider jedoch, und das ist nur eine der vielen Ursachen, sind zwar in den Jahrzehnten des Ölbooms Millionen von Haushalten ökonomisch in die Mittelschicht aufgestiegen, doch hat sich nicht genauso schnell und weitflächig ein politisch aktives Bildungsbürgertum herausgebildet. Ebensowenig eine ausdifferenzierte und unparteiliche Medienlandschaft (überall nur Globo, Globo, Globo). Zudem hat die Regierung Lula den Spielefaktor der Brot-und-Spiele-Strategie dank Fußball-WM und Olympischen Spielen hervorragend ausnützen können, um von den wirtschaftlichen Problemen abzulenken. Das alles sind allerdings keine Probleme, die auf Brasilien beschränkt sind.
Was jedoch speziell für ein Land mit der Vergangenheit Brasiliens gilt: Mit Wörtern wie „Putsch“ und „Staatsstreich“ sollte man vorsichtig umgehen. Man muss es ja nicht heraufbeschwören. Und Ausdrücke wie „Kacke am Dampfen“ genügen doch vollkommen, um die politische Situation Brasiliens angemessen zu beschreiben.
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Jens Glüsing von SpOn spricht laufend von „Putsch“, „Staatsstreich“ und „Hexenjagd“. Vor wenigen Tagen fiel ihm noch eine weitere Kreation ein: „Putsch des Parlamentes“.
Würde gerne mal wissen, was der raucht.
Anscheinend nicht die Zigarren aus der deutsch-brasilianischen Dannemann-Manufaktur. 🙂
Das mit dem „parlamentarischen Putsch“ könnte aus der Verlautbarung des kubanischen Außenministeriums stammen, das natürlich die Oligarchie, die Reaktionäre und den transnationalen Imperialismus dafür verantwortlich macht. Was ich hier von manchen Regierungen und Kommentatoren in Südamerika höre, erinnert mich in der Wortwahl an meine Zeiten bei den Jungsozialisten, und selbst da waren in den 1990ern die Marxisten schon eine schrumpfende Minderheit.
„Hexenjagd“ kann man sogar noch durchgehen lassen, denn der Hass, mit dem sich viele gegenüber Präsidentin Rousseff äußern, ist tatsächlich ekelhaft. Man kann hier wirklich keine der beiden Seiten von Kritik ausnehmen. Rousseff wird zutiefst persönlich beleidigt, auch rassistisch (ihr Vater war Bulgare). Einer ihrer Gegner gab bei der Abstimmung an, dass er seine Stimme im Gedenken an den obersten Folterer der Militärdiktatur abgebe (Rousseff war während der Diktatur inhaftiert und wurde gefoltert). Rousseff wird einfach für alles verantwortlich gemacht, was irgendwo in Brasilien schiefläuft, und dabei gibt es gegen sie – anders als gegen viele ihrer Gegner – keinen Verdacht der persönlichen Bereicherung.
Unfair ist das ganze also schon, aber eben kein „Putsch“.
Wenn ich mal Zeit und Muße habe, will ich einen etwas analytischeren Artikel darüber schreiben, weshalb „Linke“ in Europa und Nordamerika sich reflexhaft mit allen Regierungen in Lateinamerika solidarisieren, die sich ebenfalls „links“ nennen. Ich bin selbst wohl durchaus auch ein „Linker“ (oder vielleicht eher ein „Linksliberaler“), aber ich hatte noch nie diesen Reflex. Für mich sind die Castros Diktatoren, Chavez ein Autokrat, Morales ein werdender Autokrat. Und was mich bei allen etwas anwidert, ist der krankhaft verschwörungstheoretische Antiinternationalismus (meist hauptsächlich gegen die USA und den IMF gerichtet). Zugegeben, während des Kalten Krieges standen die USA auf diesem Kontinent oft auf der falschen Seite, aber das ist 25 Jahre her (wobei in Bolivien die Einmischungsversuche noch etwas länger andauerten).
Vielen Dank, vielen Dank für deine ausführliche und sehr informative Antwort!
Mit Vergnügen!
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