Ein Unfall, sechs Meldungen

Aus dem Polizeibericht heißt diese Zeitungsparodie von Kurt Robitschek, veröffentlicht 1929. Anhand von sechs verschiedenen Meldungen über das gleiche nebensächliche Ereignis erhält man einen Überblick der Zeitungslandschaft in der Weimarer Republik:

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Telegramm 3986, aufgenommen 15.30 Uhr

Auf dem Kurfürstendamm an der Ecke Meinekestraße wurde gestern von dem Radfahrer Peter K. ein Hund unbestimmter Rasse angefahren. Nur dem Einschreiten unserer wackeren Schutzpolizei ist die Verhütung eines größeren Unfalls zu verdanken. Polizeipräsident Zörgiebel, Polizeivizepräsident Dr. Weiß und der Kommandeur der Schutzpolizei, Oberst Heimannsberg, weilten an der Unfallstelle.

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BERLINER TAGEBLATT

Der Kurfürstendamm liegt still und versonnen da. Denn die Republik ist gefestigt in ihren Grundlagen. Ein Radfahrer jubelt den Kurfürstendamm entlang. Mit weit ausgebreiteten Armen und ebensolchen Augen ruft er: „Zehn Jahre freiheitliche Verfassung!“ Da springt ein Hund aus dem fahrenden Autobus. Hund und Radfahrer jagen den Kurfürstendamm entlang, sie eilen, wenn es auch hier und da eine kleine Schramme gibt, in die glänzende Zukunft der deutschen Republik, von der schon Shakespeare so treffend sagte: „To be or not to be, singing fool, that is the question.“

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VOSSISCHE ZEITUNG

Kleine Ursachen – große Wirkungen.

Von Chefredakteur Professor Dr. h.c. G. B., MdR, Präsident des Vereins Berliner Presse, zweiter Vorsitzender des dritten Unterausschusses des Reichstages zur Aufdeckung der Brückenzölle, Vorstandsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei. Ein Hund ist gestern auf dem Kurfürstendamm angefahren worden. Von einem Radfahrer. Ein schwarzer Hund mit weißen Flecken. Der Vorfall wäre an und für sich ganz belanglos, wenn nicht ein kleiner Zwischenfall die politische Bedeutung des Ereignisses erwiesen hätte. Der schwarz-weiße Hund zeigte plötzlich auf dem überfahrenen Pfötchen einen roten Blutstropfen. Man beachte: Schwarzer Hund, weiß gefleckt, rotes Tröpfchen. Die Deutsche Demokratische Partei muss an den Herrn Reichsinnenminister einerseits schärfsten Protest richten, während sie dessen Vorgehen andererseits nur billigen kann. Die Deutsche Demokratische Partei ist sich dessen bewusst, dass es für sie nur einen Weg gibt: Einerseits – und hie und da auch andrerseits.

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BERLINER LOKAL-ANZEIGER

Radfahrer, Hunde und die deutsche Republik.

Wie viele tausend deutsche Herzmuskeln sitzen heute am sonnigen Eckfenster und gedenken des August vor fünfzehn Jahren! Wie waren damals die Straßen von jauchzenden, jubelnden, singenden Menschen erfüllt! Und heute? Radfahrer schleichen über den Asphalt der Straße. Gestern hat ein ausländischer Radfahrer den Hund eines Generals a. D. überfahren. Vor fünfzehn Jahren wäre das deutsche Volk wie ein Mann aufgestanden und hätte den ausländischen Radfahrer in hellem, männlichem Zorne hinweggefegt! Heute aber liegen unsere treuen Hündchen kraftlos am Boden, niedergeschmettert durch jene Schmachverträge, die uns immer wieder beweisen, dass an allem nur die Radfahrer schuld sind.

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rote-fahne-1918

DIE ROTE FAHNE

Arbeiter! Arbeiterinnen und Jugendliche! Werktätige und national Unterdrückte aller Länder! Auf dem Kurfürstendamm, jener Prunkstraße der satten Kapitalisten, auf der in kürzester Zeit die proletarische Revolution gegen die Imperialisten marschieren muss, hat ein Hund einen einfachen, proletarische Radfahrer überfallen! So fängt es an! Erst überfällt ein Hund den einzelnen Radfahrer, und dann vereinigen sich alle Hunde gegen die Sowjetunion! Es ist höchste Zeit zu handeln! Denn schon ersteht dem Hund vom Kurfürstendamm ein Helfer in der Person des Generals Tschiangkaischek, der die Ost- China Bahn den Händen der Sowjets entreißen und durch die Kantstraße auf den Alexanderplatz leiten will, wo Zörgiebel und seine Gummiknüppelgarden bereitstehen, um die proletarische Armee der Radfahrer den nationalfaschistischen Weltunterdrückern auszuliefern. Darum sei die Parole: Heraus aus den Betrieben! An die Bäume mit den Hunden! Es lebe die Diktatur der Radfahrer!

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VÖLKISCHER BEOBACHTER

Der gestrige Vorfall am Kurfürstendamm, dem ein aufrecht fahrender deutscher Radfahrer zum Opfer gefallen ist, hat gezeigt, welcher Werkzeuge sich die Weisen von Zion bedienen. Wieder ist ein Parteigenosse von einem krummbeinigen, o-füßigen Dackel bei Nacht und Nebel hinterrücks überfallen worden. Krummbeinig – das verrät die wahre Rasse dieser ostjüdischen Haustiere, die mit herabhängenden, gelockten Ohren am Rückenmark unserer Volksgenossen saugen und unserem deutschen Schäferhund den Knochen vor der Nase wegschnappen. Unser Führer Adolf Hitler spricht morgen im Sportpalast zu dieser nationalen Sache. Parteigenossen erscheinen in einfacher Feldausrüstung, mit Handgranaten und Flammenwerfern.

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ACHT-UHR-ABENDBLATT

Furchtbares Verkehrsunglück am Kurfürstendamm. Rasender Radfahrer zerfetzt das Straßenpflaster. Große Hundemassen schwer verletzt. Feuerwehr greift mit Alarmstufe zehn ein. Aus den Trümmern der Straße tragen Sanitätsleute den schwer verletzten Zwergdackel Peter von Strohlendorf, der sich jetzt mit der Niederschrift seiner Erlebnisse für die Leser des „Acht-Uhr-Abendblattes“ beschäftigen wird. Wir beginnen morgen mit der Veröffentlichung der Erinnerungen des Zwergdackels Peter von Strohlendorf unter dem Titel: „Aus den Geheimnissen der Hundehöfe – Als ich noch Ludendorffs Hund war.“

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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10 Antworten zu Ein Unfall, sechs Meldungen

  1. American Viewer schreibt:

    Ein toller Artikel. Robitscheks Werk erinnert mich stark an Exercices de Style von Queneau. Nur war Robitschek offenbar 18 Jahre eher dran. Wahnsinn. Ich bin bisher immer davon ausgegangen Queneaus Werk beruhe auf einer einmalig originellen Idee. Pustekuchen.

    • Andreas Moser schreibt:

      Dafür kannte ich „Exercises de Style“ noch nicht, habe es aber gleich auf meine Wunschliste gesetzt.

      Bei Wikipedia habe ich gelesen, dass die Idee auf „De Utraque Verborum ac Rerum Copia“ von Erasmus und damit sogar auf das Jahr 1512 zurückgeht.

    • American Viewer schreibt:

      Vielen Dank für die Infos. Offenbar ist keine Idee mehr wirklich originell, wenn man nur gründlich genug in der Vergangenheit guckt.

      Exercices de style fand ich bisher nicht so toll (habe es nie zu Ende gelesen), aber für angehende Schriftsteller ist es angeblich ein Muss. Es soll so ein Buch sein, bei dem die Übersetzung sehr schwer ist, andererseits ist mein Französisch zu schlecht. Ich habe jedenfalls die englische und die deutsche Ausgabe, ich glaube ich schicke dir meine deutsche, ich kann damit sowieso nicht mehr viel damit anfangen, das Buch ist bei dir sicher besser aufgehoben.

      P.S. Du liest ja sehr viel. Fallen dir aus der Fülle dieser ganzen Literatur (spontan) 1-2 Stellen/Seiten ein, die dir besonders gut gefallen haben? Ich sammele so etwas.

    • Andreas Moser schreibt:

      Oh, vielen Dank! Das würde mich tatsächlich sehr freuen!

      Das mit den Ideen kenne ich auch. Oft habe ich welche, schreibe sie zur späteren Verwendung nieder und lese dann nach Monaten einen Artikel oder ein Buch, in dem genau „meine“ Idee vorkommt.

      Was gute Stellen in guten Büchern angeht, so habe ich diese leider selten notiert oder aufgeschrieben. Ausnahmen sind „Grapes of Wrath“ von John Steinbeck und „Journey by Moonlight“ von Antal Szerb (jeweils mit Links auf meinen englischsprachigen Blog, wo sich die Zitate finden).

      Ganz spontan fällt mir das Kapitel über das Handelsunternehmen von Milo Minderbinder in „Catch-22“ ein.

      Als ich den „Zauberberg“ von Thomas Mann las (zugegeben ein wuchtiges Unterfangen) haben mich schon die ersten Zeilen des Vorworts des Autors gepackt:

      „Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen.
      Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts. Es steht jedoch so mit ihr, wie es heute auch mit den Menschen und unter diesen nicht zum wenigsten mit den Geschichtenerzählern steht: sie ist viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen; mit einem Worte: sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, – eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei.
      Um aber einen klaren Sachverhalt nicht künstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie vor einer gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt … Sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.“

    • American Viewer schreibt:

      Danke für deine Antwort. Wenn es dich freut, dann umso lieber. Danke für die Zitate, finde alle interessant, außer vielleicht Mann. Ich habe den Zauberberg Ende Dezember 2016 probiert und bin in der Tat auch auf der ersten Seite hängen geblieben. Nach diesen Sätzen ist mir wieder eingefallen, dass Mann für seine Schachtelsätze berüchtigt ist. Ich finde seinen Stil grausam und habe das Buch sofort wieder weggelegt. Naja, Geschmäcker sind eben verschieden.

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich habe für den „Zauberberg“ auch wirklich lange benötigt.

      Das am einfachsten zu lesendste, und das lustigste, Buch von Thomas Mann ist „Felix Krull“. Er konnte auch locker und amüsant schreiben, nur wollte er anscheinend selten.

      Ein wirklich schwierig zu lesendes Buch ist „Joseph und seine Brüder“. Selbst als Mann-Fan bin ich da nicht über die ersten Seiten hinausgekommen. Vielleicht werde ich es mal wieder in Angriff nehmen.

    • American Viewer schreibt:

      Ich kenne genau eine Person, die Joseph und seine Brüder gelesen hat. Und das war kein Muttersprachler. Ich glaube Muttersprachler lesen so etwas gar nicht mehr. Das Buch ist auch nicht lesbar. Oder ich bin einfach zu dumm dafür, das kann natürlich auch sein.

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich glaube, das ist so ein Buch, das man nur liest, wenn man absolut nichts anderes mehr zum Lesen aber viel Zeit hat. Als Matrose auf einem Containerschiff nach Singapur zum Beispiel. Oder wenn es das letzte Buch in der Gefängnisbibliothek ist, das man noch nicht kennt.

    • American Viewer schreibt:

      Der Typ las auch ein bisschen Heidegger. Und sehr viel Hegel. Phänomenologie des Geistes und so. Ich spreche viel besser Deutsch als er, habe aber trotzdem nahezu keinen Satz der Phänomenologie verstanden. Was wollte Hegel uns mit diesem Buch sagen? Ich weiß es nicht. Ein absurdes Buch. Dagegen ist Mann’s Joseph vielleicht sogar lesbar, jedenfalls vom Inhalt her. Bei Hegel versteht man nicht einmal, was er eigentlich sagen will. Und das liegt nicht an der Sprache selbst, die ist fast wie modernes Deutsch. Schoppenhauer zum Beispiel versteht man heute noch problemlos. Hegel hatte vielleicht nicht wirklich viel zu sagen, deshalb musste er so verschwurbelt schreiben. Bei Marx ist es ähnlich. Und ich hege den Verdacht bei Mann ist es teilweise auch so. Wenn auch nicht ganz so extrem.

      Ich habe kürzlich gelesen man liest im Leben nur 80-600 Bücher. Also vielleicht am besten keine Zeit mit unlesbaren Büchern verschwenden. Wenn man sich durch zu viele Seiten quälen muss: Zumachen und weglegen.

    • Andreas Moser schreibt:

      Bei manchen dieser Werken steige ich auch aus, obwohl ich Mutterprachler bin und Philosophie studiert habe.

      Früher dachte ich, man müsse sich da durchquälen, aber mittlerweile bin ich zu der gleichen Erenntnis wie Du gekommen: Wenn ein Autor (evtl. mit Hilfe des Lektors) nicht verständlich oder interessant schreiben kann, dann ist mir die Zeit zu schade. Jetzt gebe ich oft nach 2-3 Kapiteln auf und wende mich dem nächsten Buch zu.

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