Lipari – Tag 2

(Dies ist die Fortsetzung von Tag 1 auf Lipari.)

Als ich den aushängenden Fahrplan im Fenster des Büros der Busgesellschaft in Lipari studiere, um meinen Tagesablauf zu planen, kommt ein freundlicher und hilfsbereiter Busfahrer vorbei, der mir nicht nur einen Fahrplan aushändigt, sondern auch gleich etliche Wandervorschläge für die Insel unterbreitet. „Warten Sie unten am Hafen unter der großen Palme,“ ist seine Antwort auf meine Frage nach dem Abfahrtsort des nächsten Buses nach Quattropani. An der Haltestelle sonnt sich ein großer Hund, der so satt oder verwöhnt ist, daß er das Stück Schokoladenhörnchen, das ihm ein Junge vor die Schnauze wirft, ignoriert.

Der voll besetzte Kleinbus schlängelt sich den Berg hinter Lipari-Stadt hinauf, in jeder Kurve einen wunderbaren Blick auf die Stadt mit ihrer alles dominieren Burg freigebend. Jeder Halt geht mit einem Schwätzchen einher. Aus- und einsteigenden älteren Damen sind andere Passagiere behilflich. Den Grund, warum der Busfahrer nebenbei telefoniert, bemerke ich bald: Er fungiert auch als Paketbote. Vor manchen Hauseinfahrten und an manchen Haltestellen werden ihm Pakete oder Einkaufstüten übergeben, an anderen reicht er sie aus dem Fenster an die schon wartenden Empfänger weiter.

In Quattropani, einem weitläufig über die Berghänge verteilten Städtchen, steige ich aus und gehe zur Alten Kirche ganz im Norden der Gemeinde. Die sehr schlichte Kirche, die sich neben dem großen Vorplatz verletzlich klein auswirkt, ist von 1646, aber frisch renoviert, ganz in weiß gestrichen, ohne jegliche Schnörkel oder Verzierungen und heute leider geschlossen. Die Fassade mit den drei grünen Blechtüren könnte auch zu einem Wohnhaus gehören, so unaufgeregt ist die Architektur des Gotteshauses. Der Wind bläst wie wahnsinnig, aber der Ausblick ist noch wahnsinniger. Wer diese Kirche geplant hat, verstand vielleicht, daß sie mit dem, was die Natur hier bietet, nicht konkurrieren können wird – und hat gleich gar nicht den Versuch dazu unternommen.

Chiesa Vecchia Quattropani

Fünf der anderen sechs Inseln kann ich von hier aus sehen. Die Vulkanberge von Salina, Panarea, Filicudi, Alicudi und Stromboli stechen aus der königsblauen See. „Komm uns doch auch besuchen, wir sind mindestens so schön wie Lipari!“ scheinen sie mir zuzurufen. Hinter der Kirche geht ein leichter Abhang zu einer windgeschützten Stelle, gelbe Blumen blühen, das Gras ist grün und weich, ein wunderbarer Ort für ein Picknick. Ich habe Lust, mich ein paar Stunden ins Gras zu legen und die Sonne zu genießen, aber ein ehrgeiziger Wanderplan drängt mich weiter.

Quattropani Andreas Moser

Auf halbverwucherten oder den Berghang hinabgespülten Feldwegen wandere ich nach Süden. Manchmal muß ich etwas herumklettern, aber außer den Kakteen stellen sich keine besonderen Gefahren in den Weg, der hoch über dem Meer verläuft und grandiose Ausblicke auf die beiden Vulkankegel von Salina bietet. Mehrere Stunden lang begegne ich keinem anderen Menschen. Da dennoch immer ein Weg erkennbar ist, verliere ich das Vertrauen in meine Landkarte nicht, wundere mich aber, wann hier zum letzten Mal jemand vorbeigekommen ist. Abends in Lipari-Stadt wird mir Antonio, der Besitzer einer an diesem Abend deprimierend leeren Bar, von einer englischen Lady erzählen, die auf Lipari wohnt und Wanderwege vom Gestrüpp freischneidet. „Sie macht das ohne Bezahlung; das würde kein Italiener machen,“ sagt er halb anerkennend, halb verständnislos. Danke an die Unbekannte!

west coast Lipari 2
west coast Lipari

Zusätzliche Farben – aber auch zusätzliche Gerüche – kommen ins Spiel, als ich in ein Tal hinabsteige, das einstmals dem Abbau von Kaolin diente: Cave di Caolino. Das Gestein leuchtet wie ein Regenbogen in verschiedenen Farben, von rosa über gold bis hin zu pechschwarz. Aus einigen wenigen Fumarolen steigen Rauch und Gestank auf. Der Vulkan versucht sich bemerkbar zu machen, wie ein alter Herr im Ruhestand, der gegen das Vergessenwerden ankämpft.

Cave di Caolino
gold Lipari 2

Der Weg hinab durch dieses farbenspielerische Tal ist ausgewaschen und weitet sich schließlich zu einem veritablen Flußbett aus, das allerdings so zugewuchert und von umgestürzten Bäumen versperrt ist, daß ich einen anderen Weg suchen muß. Aber die Orientierung ist einfach: immer der Küste entlang, bis ich wieder auf die Zivilisation treffe.

Vorher treffe ich jedoch auf das genaue Gegenteil von Zivilisation: auf ein Schauspiel der Naturgewalten. Von Westen her, wo auch die kräftige Sonne scheint, ziehen dunkle Wolken auf. Sie sind vollgesogen mit Wasser, das erkennbar darauf drängt, endlich als Regen herunterprasseln zu dürfen. Es sieht nach einer Menge Regen aus. Die Wolken kommen auf die Insel zu, und ich beschleunige meinen Gang. Aber dann brechen die Wolken auf und geben die Wassermassen ans Meer zurück, noch ehe sie das Land erreicht haben. Ein fantastisches Zusammenspiel von Sonne, Wolken, Regen und Meer. Noch nie hat sich mir der Kreislauf aus Verdunstung und Regen so schön dargeboten.

sun clouds west coast Lipari
sun rain sea Lipari

Bei den Thermen von San Calogero, die schon von Griechen und Römern als Heilbad benutzt wurden, angekommen, kann ich leider nicht verweilen. Der Nieselregen geht in Hagel über. Die Bäume am Rand der Straße, die just hier beginnt, bieten nur wenig Schutz. Ein froschgrüner Fiat Panda hält an, und ein alter Mann lädt mich zum Mitfahren ein. Er fährt zwar nicht ganz nach Lipari-Stadt, aber in die richtige Richtung. Bei diesem Hagelsturm ist jeder überwundene Kilometer ein Gewinn. Er erzählt mir, daß er vino dolce, süßen Wein, produziere, was neben Kapern die Spezialität der Äolischen Inseln sei. Nach dem längeren typischen Gespräch darüber, wo ich herkomme, was ich auf Lipari mache und wo ich als nächstes hinwolle, fragt der freundliche Herr, ob ich vielleicht etwas von seinem Wein kosten will, wenn wir bei ihm zuhause ankommen.

Eigentlich trinke ich keinen Alkohol und würde lieber einen guten Platz suchen, um die in einer Stunde untergehende Sonne zu fotografieren. Zuerst nehme ich nur aus Höflichkeit an, aber als wir in Pianoconte ankommen, hagelt und regnet es noch immer in Strömen, so daß wie sowieso noch im Auto sitzen bleiben müssen. Ich lasse mich langsam von der fehlenden Eile meiner jüngsten Bekanntschaft anstecken. Der Winzer hat einige unetikettierte Flaschen und Plastikbecher im Auto und schenkt mir einen Becher ein. Sobald ich den süßen Wein am Gaumen spüre, bin ich entzückt. Diesmal muß ich nicht lügen, wenn ich ein Kompliment über einen mir angebotenen Drink mache. Es ist das erste Mal, daß mir ein Wein schmeckt. Obwohl mich der Preis von 15 Euro zum Schlucken bringt (davon könnte ich 15 Flaschen meines sizilianischen Libelingsgetränks Spuma erwerben), nehme ich das diesbezügliche Angebot an und schließe und vollziehe den Kaufvertrag an Ort und Stelle, bevor ich mich verabschiede und auf den Weg nach Lipari-Stadt mache.

Es regnet nur mehr leicht und der Bus kommt erst in einer Stunde, also gehe ich zu Fuß an der Straße entlang, muß aber – wie so oft in Sizilien – nicht lange warten, bis mich jemand mitnimmt. Ein kleiner Suzuki-Jeep hat noch Platz im Kofferraum, wo eine mit Kissen bedeckte Holzkiste steht, wohl die Kindersitze dieser Familie. Während der Fahrt lerne ich, daß brutto tempo anscheinend die Steigerungsform von maltempo (Unwetter) ist, bin aber mehr besorgt, mir meinen Kopf anzuhauen während wir die kurvenreiche Straße ins Tal donnern. Der Fahrer ist so nett, mich sogar zu meinem Lieblingshafen Marina del Corta zu bringen. Als er umkehrt und wegfährt, schlägt die Hecktüre des Wagens auf und die Holzkiste rutscht aus dem Kofferraum, so daß der Fahrer anhalten und aussteigen muß. Er lacht und winkt mir nochmals freundlich zu. Daß ich den Sonnenuntergang verpaßt habe, macht mir gar nichts mehr aus.

stairs to Akropolis Lipari

Das eigentliche Highlight von Lipari-Stadt, die Festung mit der Kathedrale und dem Museum ist jetzt natürlich schon geschlossen. Nicht geschlossen ist der alle diese Einrichtungen beherbergende Burgberg. Ich steige die lange, steile Treppe auf die Akropolis, die so groß ist, daß sie wie eine Stadt in der Stadt wirkt. Ausgrabungen, fünf Kirchen, Festungsmauern und Stadttore, erbaut von Griechen, Römern, Normannen, Spaniern, und zu Zeiten Mussolinis ein Gefängnis für politische Gefangene: hier kann man fast die gesamte Geschichte Siziliens studieren. Jetzt genieße ich aber die Ruhe zwischen den gewaltigen Mauern und den Ausblick auf den Hafen.

Morgen geht es weiter nach Vulcano, dabei könnte ich schon jetzt einen Tag Pause gebrauchen, um all die neuen Eindrücke auf mich wirken zu lassen.

(This article is also available in English.)

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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