Wenn mir das Geld ausgeht, muss ich manchmal etwas langweiligere Arbeiten annehmen. Letzte Woche transkribierte und übersetzte ich Interviews mit Patienten, die Biopharmazeutika zur Behandlung von Krankheiten bekamen, die mir doch recht ernsthaft erschienen.
Auf die Frage nach dem schlimmsten Aspekt der Behandlung antwortete ein junger Mann, dass er es hasse, stillsitzen zu müssen, während er eine Infusion verabreicht bekommt: „Diese zwei Stunden sind vollkommen verloren. Ich kann währenddessen nicht arbeiten. Ich kann nicht einmal telefonieren, weil ich meinen Arm stillhalten muss. Meine Kunden können mich nicht erreichen, und ich muss alles delegieren und organisieren. Es ist schrecklich!“
Er bekam diese Infusion alle sechs Wochen. Übers Jahr gesehen „verlor“ er also 17 Stunden. 17 Stunden, um am Leben zu bleiben und, solange das Medikament wirksam bleibt, ein Leben ohne größere Probleme führen zu können.
Mir scheint, viele Menschen sind nur deshalb Workaholics weil sie nicht wissen, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollen. Wenn Du nicht zwei Stunden lang ein Buch lesen oder anhören kannst, wenn Du nicht zwei Stunden lang Brahms oder die Beatles hören kannst, wenn Du keine Freunde hast, die Dich zum Arzt begleiten, um sich mit Dir während der Zeit zu unterhalten, wenn Du nicht einfach mal stillsitzen und träumen kannst, dann empfinde ich Mitleid anstatt der Bewunderung, die der ach so erfolgreiche Geschäftsmann zu verdienen glaubt.
Wenn Du an einer schweren Krankheit leidest und Deine größte Sorge ist es, dass Deine Kunden Dich für zwei Stunden nicht belästigen, dann stimmt etwas mit Deinen Prioritäten nicht.
Es ging übrigens um eine Krankheit, von der manche sagen, dass Stress einer der Faktoren ist, der zu einem ausgeprägteren Verlauf führt. Es wäre schön, wenn Ärzte nicht nur Medizin, sondern auch lange Spaziergänge im Wald (natürlich ohne Telefon) oder die Lektüre eines Romans verschreiben könnten. Der Zauberberg würde sich eignen.

„Wieviel Zeit muss ich denn noch hier vergeuden, Herr Doktor?“
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die neoliberale Indoktrination hat den meisten Leute derartig das Hirn frittiert, dass sie zu einer solchen Selbstreflektion überhaupt nicht in der Lage sind.
Leider hat die Erkenntnis bei mir auch erst arg spät eingesetzt und so bin ich aktuell in einem Setup gefangen, dass ich früher auch für selbstverständlich gehalten habe. Aber ich arbeite dran. Lange und häufige Wanderungen sind ein Mittel dazu.
Ich bin mir nicht sicher, ob das nur oder unbedingt am Neoliberalismus liegt. Auch bei vielen Vertretern der Wirtschaftswundergeneration habe ich den Eindruck, dass die auch nach dem Renteneintritt weiter arbeiten (halt dann am Haus oder im Garten anstatt im Büro), weil sie sonst nichts mit sich anzufangen wissen.
Wanderungen sind wirklich ein gutes Mittel um abzuschalten, nachzudenken, ohne viel Aufwand etwas Neues zu sehen. Ich denke mir manchmal auch, dass ich anstatt so viel in der Welt herumzureisen, was ja durchaus stressig ist, lieber mehr wandern sollte.
Selbstrefletion ist leider eine seltene Fähigkeit und hat mit der Psyche und dem Charakter des Individuums zu tun, und nicht mit politischen Systemen. Anrase liegt richtig damit, dass etwas mit einer Person nicht stimmt, wenn diese nicht in der Lage ist zwei Stunden, Musik zu hören oder ein Buch zu lesen.