Nepomuk nahm so selbstverständlich den Platz als Hauptattraktion der Feier ein, wie wenn diese nur für ihn einberufen worden wäre. Die Augen aller Frauen richteten sich auf ihn, während die Augen der Männer zwischen ihren jeweiligen Frauen oder Freundinnen und Nepomuk hin- und herglitten, beunruhigt angesichts der überspringenden Funken. Wenn der junge Mann schon bei seinem ersten Auftritt diese Wirkung hatte, war der Anziehungskraft, die er im Laufe der Zeit entwickeln würde, mit Sorge entgegenzusehen.
Die Frauen waren so außer sich vor Entzücken, dass sie alle Regeln des Anstands vergaßen. Um Nepomuks Aufmerksamkeit buhlend fielen sie sich gegenseitig ins Wort. Vor Aufregung konnten sie kaum mehr als zusammenhanglose Wörter stammeln. Wieder und wieder stellten sie die gleichen Fragen. Sie waren so eingenommen von Nepomuks äußerer Erscheinung, dass ihnen nicht auffiel, dass er nicht gerade das hellste Licht am Tisch war und dass er kaum eine anständige Konversation aufrecht erhalten konnte. Die Damen machten Fotos wie wenn er ein Popstar wäre und nahmen ihre Augen nur von ihm, um ihre Gläser mit Punsch nachzufüllen, dessen Konsum sie mit fortschreitendem Abend in einen zunehmend beschwipsten und verträumten Zustand versetzte.
Nepomuk war noch nicht einmal ein Jahr alt. Er war im Februar zur Welt gekommen, und dies war das erste Weihnachten, an dem Lisa und Johannes ihn seinen Onkeln und Tanten, seinen Großeltern, Cousins und Cousinen vorstellten. Die Mitglieder der Familie hatten sich aus Niederbayern in alle Winde verstreut, um Karriere zu machen, Arbeiten ohne Aussicht auf Karriere auszuüben und um Beziehungen einzugehen. Sie trafen sich nur einmal im Jahr, jedes Weihnachten. Und dazwischen alle paar Jahre für eine Beerdigung. 2003 war Großvater Hubert am 19. Dezember gestorben. Das war praktisch gewesen für diejenigen, die eine lange Anfahrt hatten.
Johannes lag bezüglich seiner Popularität weit abgeschlagen hinter Nepomuk. Aber immerhin war er zweiter. Schließlich war er der Vater. Er hatte dieses kleine Ding erschaffen, und obwohl es Lisa war, die ihn ausgetragen hatte, gehörte Johannes zur Familie und sie nicht. Sie waren (noch) nicht verheiratet, was komisch, ja sogar verdächtig war. Zumindest war es das gewesen bis Nepomuk auftauchte. Jetzt waren sie schon mehr so etwas wie eine Familie. Dennoch war es irgendwie falsch. Großmutter fragte, „was Großvater wohl dazu sagen würde, dass die jungen Leute alles in der falschen Reihenfolge angehen“, und ließ dabei – wie immer – die Möglichkeit außer Betracht, dass Hubert zwischen 2003 und jetzt seine Meinung geändert haben könnte, wenn er noch am Leben wäre. Johannes musste Fragen nach einer bevorstehenden Verlobung abwehren und gleichzeitig Lisa verteidigen, denn seine Familie gab natürlich ihr die Schuld für diesen unmoralischen Zustand. Sie war aus München, und jeder wusste, dass die Leute aus der Stadt mehr Sünden begingen als auf eine Kuhhaut gingen.
“Das hat keine Priorität für uns.” Je öfter er den Satz wiederholte, umso mehr betonte Johannes das “für uns”.
“Dadurch ändert sich doch nichts.”
“Es kostet zu viel.” Praktische Gründe zogen am besten.
“Wenigstens haben wir ein Kind.” Johannes wusste, dass er in der Verteidigung seiner familiären Situation zu weit gegangen war, als sich alle Augen auf seine Schwester Sandra richteten. “Nicht schon wieder”, dachte Sandra, sagte aber nichts. “Entschuldigung”, gab Johannes ihr durch Blicke zu verstehen. Zu spät. Sie war die einzige Erwachsene am Tisch, die kein Kind hatte. Selbst manche der Jugendlichen waren schon verfrüht schwanger gewesen, aber wenn man seine Blödheit in die richtigen Eileitern lenkte, wurde sie in jener Familie nicht nur entschudigt, sondern frenetisch gefeiert.
Sandra war 29 Jahre alt und arbeitete am Empfang des Krankenhauses in Straubing. Sie sah jeden Tag genug kranke Kinder, um keine eigenen zu wollen. Sie sah genug schwangere Frauen, um diesen chaotischen biologischen Zustand nicht schönzureden. Und ehrlich gesagt hatte sie auch gar keine Zeit für eine Beziehung. Sie arbeitete jede Woche eine andere Schicht und schlief die meiste verbleibende Zeit.
“Wie alt bist Du jetzt, Sandra?” Wäre sie mehr auf Zack gewesen, hätte sie darauf hinweisen können, dass es mit zunehmender Lebenserwartung nicht mehr notwendig ist, so früh Kinder zu bekommen wie einst im 18. Jahrhundert.
“Hast Du einen Freund?”
“Warum nicht?”
“Gibt es keine feschen Ärzte auf der Arbeit?” Seit sie den Job im Krankenhaus gefunden hatte, war es der Traum ihrer Eltern gewesen, einen Arzt zu heiraten. In den Augen ihrer Familie wäre dies prestigeträchtiger als wenn sie selbst Medizin studierte. Ihren Eltern zu erklären, dass Frauen mittlerweile unabhängig von Ehepartnern als vollwertige Menschen galten, wäre vergebene Feministenmühe gewesen. Bezüglich aller Entwicklungen seit der Aufklärung (diese inbegriffen) waren Hopfen und Malz verloren, für dessen Anbau und übermäßigen Konsum besagte Provinz berühmt war.
“Findest Du nicht, dass Nepomuk süß ist?” Nicht wenn er nachts das Bett vollkotzt.
“Es wäre doch schön, wenn er einen Cousin hätte.”
“Du solltest nicht zu lange warten, sonst wird der Altersunterschied zu groß.” Ganz zu schweigen von der geographischen Entfernung zwischen den Orten, an denen sie aufwuchsen würden, was allzu häufige Begegnungen zwischen Nepomuk und seinem hypothetischen Cousin eher unwahrscheinlich machte.
“So schlecht siehst Du gar nicht aus, weißt Du?” Danke. “Ich kann mir vorstellen, dass Du jemanden findest, wenn Du es versuchst.”
Wenn Sandra europäische Geschichte der Neuzeit studiert hätte, wäre ihr aufgefallen, dass ihre Familie wie eine faschistische Gesellschaft funktionierte. Ohne reproduktiven Beitrag würde sie nie als vollwertiges Mitglied akzeptiert werden. Da sie jedoch gar nichts studiert hatte und sich in die kruzifixbehängte Ecke gedrängt fühlte, entschied sie sich, beim nächsten Weihnachten alle zu überraschen.
Im darauffolgenden Oktober kam ein Mädchen zur Welt. Es war ein hässliches Kind.
Pingback: Christmas Child | The Happy Hermit
Pingback: Tag der offenen Landstraße | Der reisende Reporter