Lynchjustiz in Bolivien

An vielen Orten in Bolivien sah ich an Strommasten, Straßenlaternen, auf Mauern und sogar neben der Kirche lebensgroße Puppen aufgehängt, deren Bedeutung sich mir nicht sofort erschloss.

Puppe1
Puppe2
Puppe3
Puppe4
Puppe5

Als ich danach fragte, bekam ich immer ausweichende Antworten, die sich auf „Brauchtum“ bezogen oder sich in einem gar nichts erklärenden „das machen die Leute hier so“ erschöpften. Anfangs dachte ich, mein Spanisch wäre zu schlecht, um den Zusammenhang zu verstehen, aber mit der Zeit wurde es offensichtlich, dass niemand darüber sprechen wollte. Bis ich in La Paz endlich ein Mädchen traf, das mir bei einem Spaziergang durch El Alto ganz offen erklärte, dass die Puppen als Warnung dienten: „In diesem Viertel knüpfen wir Dich auf, wenn wir Dich beim Stehlen erwischen.“

Lynchjustiz also.

Und das sind keine leeren Drohungen. Hier zum Beispiel eine Frau mit ihren zwei Kindern, die des Autodiebstahls bezichtigt und dafür an einen Mahagonibaum gebunden wurden, in dem Nester der roten Feuerameise waren. Die Frau verstarb an den Bissen, die Kinder konnten von der Polizei noch gerettet werden.

ameise

Als Jurist stehe ich dem naturgemäß skeptisch gegenüber, denn wie will der Mob Beweise und entlastende Umstände würdigen, wie ein faires Verfahren garantieren, wie ein adäquates Strafmaß finden? Auch kann ich mir vorstellen, dass die Lynchjustiz Arme, weniger Gebildete und psychisch Kranke noch mehr als die staatliche Justiz benachteiligt. Denn wie man in Bolivien sagt:

Das Gesetz ist wie eine Schlange. Sein Biss trifft diejenigen, die barfuß gehen müssen, am härtesten.

Und manchmal ist es vielleicht einfach nur der schnellste Weg, um einen unliebsamen oder nervigen Menschen loszuwerden.

Laut Ombudsmann gab es 41 Fälle von Lynchjustiz im Jahr 2014, davon endeten 13 Fälle tödlich. Aber ich bezweifle, dass der Ombudsmann alles mitbekommt, was sich im Land so abspielt.

(Dieser Artikel erschien auch im Freitag.)

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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14 Antworten zu Lynchjustiz in Bolivien

  1. Pingback: Kriminalitätsprävention in Bolivien | Der reisende Reporter

  2. simonsegur schreibt:

    Puh, vielen Dank für diesen Artikel – da läuft’s mir ja noch im Nachhinein kalt den Rücken herunter. Denn auch wir fragten auf unserer Bolivien-Reise immer mal wieder nach und bekamen nur ausweichende: „Folklore!“-Antworten …

    • Andreas Moser schreibt:

      Danke für diese Bestätigung!
      Ich dachte zuerst, es hätte etwas mit dem Wahlkampf oder mit Fußball zu tun, aber die ausweichenden Antworten waren für Bolivien zu ungewöhnlich, so dass ich weiter und weiter fragte.

  3. Andreas Moser schreibt:

    Aber vielleicht muss man gar nicht so weit blicken, um lynchende Mobs zu finden:
    http://www.tagesspiegel.de/politik/vor-gerichtsverhandlung-irakischer-fluechtling-aus-arnsdorf-ist-tot/19694702.html
    Das Verfahren gegen die Angeklagten wurde eingestellt, nachdem die Staatsanwaltschaft Dresden und der Staatsanwalt persönlich bedroht wurden.

  4. Jo Wolf schreibt:

    Danke für die Dokumentation. Was mich interessiert: Wie reagierten die Menschen, als Du das Foto geschossen hast? Oder bist Du nicht dabei bemerkt worden? Viele Grüße, Jo

    • Andreas Moser schreibt:

      All die Fotos von den Puppen habe ich in einem kleinen Dorf am Titicaca-See gemacht. Ich glaube nicht, dass mich jemand dabei gesehen hat. Das ganze Dorf war ziemlich leer oder alle waren gerade beim Mittagsschlaf.

      Das untere Foto ist aus der Zeitung, aber es scheint von einem aus der Menge gemacht worden zu sein, denn ich glaube nicht, dass dazu die Presse eingeladen wird.

    • Jo Wolf schreibt:

      Nein, die müsste dann schon zufällig vor Ort sein.
      Für mich jedenfalls ein Greuel, Menschen die in solchen Rache- und Lynchjustizmechanismen feststecken.

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  6. Dante schreibt:

    Es gibt doch den Spruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, der so oft als „Rachegrundsatz“ missdeutet wird, obwohl er eigentlich nichts wirklich anderes ist als der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
    Hier – besonders an dem Fall mit der Frau und den Kindern – sieht man, in welchem Maße das noch heute zutrifft.
    Die Einführung dieses vermeintlich so archaischen Grundsatzes in diesem Teil Boliviens würde einen gewaltigen humanitären Fortschritt bringen.

    • Andreas Moser schreibt:

      Wobei man einem autolosen Autodieb kein Auto abnehmen kann. Aber grundsätzlich ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip tatsächlich eines der Prinzipien, die hier verletzt werden.

  7. Pingback: Burgenwanderung | Der reisende Reporter

  8. Kasia schreibt:

    Soviel dazu, was passiert, wenn staatliche Institutionen versagen oder kein Vertrauen in sie vorhanden ist. Die Sache mit dem irakischen Flüchtling schockiert mich mehr. Ich blicke nicht, wie es sich in Bolivien mit der Rechtstaatlichkeit verhält, aber ich dachte, hier hätten wir so etwas. Was sagt uns das Beispiel? Du kommst mit Lynchmord durch, du musst einfach nur hartnäckig bleiben und die richtigen Stellen erfolgreich bedrohen.

    • Andreas Moser schreibt:

      Oder vielleicht Freunde und Gesinnungsgenossen an den richtigen Stellen haben…
      Ich meine, es ist ja schon auffällig, wieviele Polizisten, Soldaten, Justizbedienstete und andere Beamte immer dabei sind, wenn wieder eine rechtsextreme Verschwörung auffliegt.

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