„Ich bleibe hier“ von Marco Balzano

Das Bild kennt jeder: Ein Kirchturm, der aus dem See ragt.

Fast niemand fährt am Reschensee vorbei, ohne anzuhalten und ein Foto zu machen. Schon weniger werden innehalten, um zu fragen, wie das passiert ist. Aber wer auch nur kurz nachdenkt, wird darauf kommen, dass um die Kirche mal ein Dorf gelegen haben muss, das von den Wassermassen verschluckt wurde.

Weil die Leserinnen und Leser dieses Blogs nicht nur an über die Ufer getretenen Wasserläufen, sondern auch an ausufernden historischen Erklärungen interessiert sind, war ich letztes Wochenende im Vinschgau, um die Geschichte des versunkenen Dorfes Graun zu eruieren.

Wer nicht auf meinen Artikel warten kann oder lieber Bücher liest, dem sei „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano empfohlen.

Im Dorf Graun lebt die Lehrerin Trina, die wegen ihrer Deutschsprachigkeit mit der ab 1922 von Mussolini betriebenen Italienisierungspolitik ihre Arbeit verliert. Dann verliert sie ihre Tochter an die sogenannte Option, die zwischen Hitler und Mussolini ausgehandelte Möglichkeit der deutschsprachigen Südtiroler, die ja erst seit 1918 zu Italienern wurden, nach Deutschland umzusiedeln. Und dann verliert sie noch ihren Sohn an die Wehrmacht.

Trina und ihr Mann bleiben in Graun, das nun Curon heißt, und leiden unter der italienischen Staatsmacht, der Unterdrückung der deutschen Sprache, Gerüchten von Zwangsumsiedlung nach Sizilien oder Afrika und vor allem unter dem Hohn und Spott der Optanten, die den Versprechen Nazi-Deutschlands von großen Ländereien auf der Krim folgen. (Spoiler: Daraus wurde nichts.)

Und über dem Ganzen hängt ständig drohend das Staudammprojekt.

Erzählt aus der Sicht Trinas werden die Familiengeschichte und die Dorfgeschichte geschickt mit der Geschichte Italiens verwoben. Verfasst in leisen Tönen und gewählten Worten entfalten sich gleich mehrere Dramen. Ein eindringlicher, aber kein aufdringlicher Roman.

Eine ergreifendes Buch, nicht nur für Südtirol-Urlauber. Aber jene werden nach der Lektüre vielleicht das ein oder andere Mal innehalten, wenn sie die zweisprachigen Ortsschilder sehen oder um den Reschensee spazieren.

Mittlerweile findet man an manchen Orten Aufkleber mit dem zweisprachigen Text:

8000 ‚Namen‘ von Dörfern, Bergen, Flüssen u.s.w. wurden im Südtirol im Prozess der Italianisierung des Landes von der faschistischen Diktatur gefälscht, um Südtirol gewaltsam zu italianisieren. Wir Italiener des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr aggressiv, sondern moderat und europäisch. Wir distanzieren uns vom Nationalismus und Imperialismus unserer Vorfahren. Bei den Südtirolern entschuldigen wir uns für das Kulturverbrechen Italiens durch die Fälschung tausender Namen in ihrem Land.

Dass deutsche Touristen sich für deutsche Kriegsverbrechen in Italien entschuldigen, ist hingegen nicht bekannt.

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Über Andreas Moser

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7 Antworten zu „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano

  1. Ana-gertrud Cretoiu schreibt:

    ueber Italienisieung Suedtirols 👍😒

  2. Ed Wina schreibt:

    Ok, ich bin überzeugt. Das Buch befindet sich schon seit einiger Zeit in meiner GoodRead Lesewunschliste und scheint dort aktuell schwer in der Diskussion zu sein. Nun bin ich wirklich neugierig geworden, es zu lesen. Die Bilder vom See sehen so malerisch aus, dass ich nun wohl die Route ändern und dieses Mal auf dem Weg nach Italien über Innsbruck am Reschensee vorbeifahren möchte. Ist sehr lange her, dass ich als Kind/Jugendliche dort vorbei bin. Es wird mal wieder Zeit. Aber erst die „langweilige“ deutsche Ostküste. Man glaubt es kaum, aber dort war ich noch nie. Man fliegt in der Weltgeschichte rum, aber kennt Norddeutschland kaum. 🙂

    • Andreas Moser schreibt:

      Mit letzterem hast du Recht!
      Und es ist eigentlich schade, denn Deutschland ist ja durchaus schön, interessant und abwechslungsreich.
      Ich werde im August nach Schweden trampen und den Weg über Ostseeküste und Fähre (entweder von Rostock oder von Sassnitz) wählen.

      Das Buch kann ich wirklich empfehlen. Ich konnte es gar nicht mehr weglegen und habe es im Nu ausgelesen.

      Und die Route über den Reschenpass ist wirklich schön. Bei Nauders in Österreich ist eine tolle alte Festung. Um den Reschensee und Haidersee kann man wunderbar wandern, und wenn du eine Unterkunft am unteren Ende des Reschentals suchst, kann ich die ehemalige Kaserne der Finanzpolizei in Mals empfehlen: https://www.finka.it/de

      Aber wenn ich mich spute, erscheint mein Artikel über diese Gegend hoffentlich rechtzeitig vor meiner Reise.

  3. Kasia schreibt:

    Das Bild mit dem Kirchturm im See hat wohl jeder schon mal gesehen. Malerisch und idyllisch sieht es aus, die Geschichte dahinter war alles andere als das. Du hast mich neugierig gemacht auf das Buch.

    • Andreas Moser schreibt:

      Es ist ein Buch, das einem auf unaufdringliche Weise sehr nahe geht. Bewegend, aber nicht melodramatisch.

      Auch empfehlenswert, wenn man nicht gerade vor einer Südtirol-Reise steht, denn es geht auch um die Dynamik innerhalb der Familie und im Dorf.

  4. Pingback: Vor hundert Jahren fanden die Faschisten, dass Deutsch eine hässliche Sprache ist – April 1923: Italienisierung | Der reisende Reporter

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