Vor hundert Jahren fanden die Faschisten, dass Deutsch eine hässliche Sprache ist – April 1923: Italienisierung

Das Projekt dieser kleinen Geschichtsreihe, die sich jedes Mal freut wie ein Schnitzel, wenn aktuelle Ereignisse den Anlass geben, die Geschehnisse von vor genau hundert Jahren zu erörtern, wird tatkräftig unterstützt von der Republik Italien. (Leider nicht von der ebenfalls aus Italien stammenden weltbesten Zigarrenmanufaktur, obwohl diese neben Coca-Cola der passendste Sponsor für diesen gesundheitsbewussten Blog wäre.)

Letzten Oktober beging Italien den hundertsten Jahrestag der Machtübernahme Mussolinis, indem es eine Frau aus der Nachfolgepartei der Faschisten zur Ministerpräsidentin und einen offenen Mussolini-Verehrer zum Senatspräsidenten wählte. Das ist halt einfach ein Land mit Geschichtsbewusstsein!

Jetzt will ein Abgeordneter der Regierungspartei den Gebrauch englischer Begriffe im offiziellen, geschäftlichen und akademischen Bereich verbieten und unter Strafe stellen. Das lässt einerseits aufhorchen, als Touristen aus aller Welt bestätigen können, dass in Italien sowieso niemand Englisch spricht. Und andererseits nutzt es wieder eines jener geschichtsträchtigen Jubiläen. Denn vor genau 100 Jahren, im April 1923, begann der Kampf gegen die deutsche Sprache in Norditalien.

Ganz kurz zur Vorgeschichte, und ich verspreche, es diesmal wirklich kurz zu halten: Das einstmals große, stolze und wunderbare Tirol wurde am Ende des Ersten Weltkriegs (den Tirol verloren hatte) zwischen Österreich und Italien geteilt.

Österreich behielt Nordtirol und Osttirol, Italien bekam Südtirol.

Eigentlich sollte nach dem Ersten Weltkrieg das Selbstbestimmungsrecht der Völker gelten, weswegen überall Volksabstimmungen zur Frage der nationalen Zugehörigkeit (und zu wichtigeren Themen) durchgeführt wurden. Aber dieser einer der wilsonschen 14 Punkte galt nicht für Südtirol, weil man Italien irgendwie dafür belohnen musste, im Ersten Weltkrieg auf der richtigen Seite gestanden und in 12 vollkommen sinnlosen Isonzoschlachten gekämpft zu haben. Und jeder weiß, wie Italiener auszucken, wenn derartige Versprechen nicht eingehalten werden.

Die Grenze zog man einfach durch die Alpen, weil es am Brenner schon eine Tankstelle gab, die man leicht zu einem Grenzposten ausbauen konnte.

Und das war’s auch schon mit der Vorgeschichte, ungewohnt knapp und graubündig. Italien hatte jetzt also eine Region, die zwar landschaftlich wunderschön, aber wirtschaftlich nicht so der Hit war.

Und noch dazu waren 90% der Bevölkerung deutschsprachig. (Ich muss unbedingt erwähnen, dass es in Südtirol noch eine dritte Sprache gab und gibt, nämlich das Ladinische. Der Vereinfachung zuliebe und weil dessen Verbreitung auch innerhalb Südtirols auf einige finstere Täler begrenzt ist, ignoriere ich das heute jedoch vollständig. Purdenanza!) Ist ja auch logisch, schließlich waren sie bis vor kurzem Österreicher gewesen. Und wie die Leute so sind, zu allen Zeiten und überall auf der Welt, sie dachten sich: „Ach geh, Italienisch brauchen wir gar nicht erst zu lernen, wir kommen eh bald wieder zu Österreich.“ Wenn man zu faul ist, eine neue Sprache zu lernen, redet man sich gerne ein, die Weltgeschichte würde nach der eigenen Pfeife tanzen.

Tat sie aber nicht. Stattdessen gab Mussolini den Ton an, beziehungsweise in seinem Auftrag der italienische König, der am 27. April 1923 ein Dekret erließ, mit dem alle Ortschaften, Berge, Flüsse, Waldstücke, Bahnhöfe und Wirtshäuser in Südtirol italienische Namen erhielten.

Die Liste ging zurück auf ein schon vor dem Ersten Weltkrieg erstelltes Werk von Ettore Tolomei, der mit italienischen Bezeichnungen für jeden Stock und Stein südlich der Alpen den italienischen Anspruch auf diesen hübschen Landstrich untermauern wollte.

Teilweise italienisierte er einfach die deutschen Ortsnamen (Meran -> Merano, Brenner -> Brennero), teilweise griff er auf die lateinischen Namen früherer römischer Siedlungen zurück (Sterzing -> Vipiteno), teilweise übersetzte er die deutschen Namen (Mittewald -> Mezzaselva), und wo das nicht ging, zauberte er einfach einen neuen Namen aus dem Hut (Schlutzkrapfen -> Ravioli).

Gut, das sind bloß Namen, könnte man meinen. No big deal, wie man sagt, solange man noch Englisch sprechen darf. Schließlich heißt Karl-Marx-Stadt jetzt auch Chemnitz, und Stalinstadt wurde zu Eisenhüttenstadt. Die Post kommt trotzdem an, solange die Postleitzahl stimmt.

Aber es war natürlich nur der Anfang. Als nächstes wurden deutschsprachige Kindergärten und der deutschsprachige Schulunterricht verboten. Deutschsprachige Zeitungen wurden verboten. Italienisch wurde zur einzigen Behördensprache. Deutschsprachige Beamte wurden entlassen. Auf Grabsteinen waren keine deutschsprachigen Inschriften mehr erlaubt. Neubauten mussten im italienischen Stil erfolgen.

Zudem wurden Zehntausende von Italienern aus dem Süden in den Norden umgesiedelt, auch nicht immer ganz freiwillig. Die Italienischsprachigen bildeten zwar nie die Mehrheit in Südtirol, aber sie besetzten überwiegend alle wichtigen Funktionen, vom Briefträger bis zum Bürgermeister, vom Förster bis zum Finanzinspektor, von der Telefonistin bis zur Tierärztin.

Selbst in aktuellen Produktionen des italienischen Fernsehens ist es noch immer so, dass auch in Südtirol all diese Positionen von italienischen Muttersprachlern besetzt werden. Für die deutschsprachigen Südtiroler bleiben die Rollen der Holzfäller und Wilderer, sie sind ein bisschen tumb und haben keinerlei Gespür für Mode. (Okay, da ist was dran.)

„Aber der Bozen-Krimi!“ denkt Ihr jetzt, bis Euch einfällt, dass das eine deutsche Produktion ist. Die Deutschen behandeln Südtirol genauso von oben herab wie die Italiener und schicken eine Kommissarin aus Frankfurt, die natürlich alles besser weiß. Alle Italiener sind Mafiosi, und alle Südtiroler sind Terroristen. (Okay, da ist auch was dran, aber dazu später.)

Diese Fernsehserien sind schon grausam, aber noch härter traf die Bevölkerung in den 1920er Jahren das Verbot deutschsprachiger Kindergärten und Schulen. Viele Kinder sprachen zuhause nur Deutsch, hatten es also im italienischsprachigen Unterricht schwerer. Die deutschsprachigen Lehrerinnen und Lehrer konnten nicht immer ausreichend Italienisch, um ihre Stellen zu behalten. Sie wurden zu großen Teilen durch italienischsprachiges Lehrpersonal ersetzt.

Und da setzte eine beeindruckende Gegenbewegung ein: Die Südtiroler fingen an, parallel zum staatlichen ein geheimes Bildungssystem aufzubauen. Die Kinder gingen vormittags in die italienische Schule und nachmittags oder am Wochenende in die deutschsprachigen Geheimschulen, die sogenannten Katakombenschulen, weil sie oft im Keller eines Bauernhofs oder eines Pfarrhauses stattfanden. Immer gut versteckt und getarnt.

Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer erfolgte unter dem Vorwand von Nähkursen, von landwirtschaftlicher Fortbildung oder von kirchlichen Zusammentreffen. Deutsche und österreichische Schulbücher wurden über die Grenze geschmuggelt.

All das war natürlich illegal. Immer wieder flogen solche Geheimschulen auf, und die Organisatoren wurden zu Geldstrafen, Haftstrafen oder Verbannung nach Süditalien verurteilt.

Es gibt einen hervorragenden Roman aus der Sicht einer dieser Lehrerinnen, „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano. Wesentlich besser als alles, was Ihr im Fernsehen zu Südtirol findet, und eine uneingeschränkte Empfehlung für die nächste Südtirol-Reise!

Aber zuerst einmal reisen wir noch nicht über den Reschen- oder Brennerpass, sondern weiterhin kreuz und quer durch die Geschichte. Österreich, die natürliche Mutter- und Vaternation der Südtirolerinnen und Südtiroler, hatte in der Zwischenkriegszeit genug mit sich selbst zu tun, als dass es sich – über die Unterstützung der Katakombenschulen hinaus – tatkräftig in Italien eingemischt hätte. Aber 1938 wurde Österreich vom Deutschen Reich geschluckt, und plötzlich grenzte Südtirol an Nazi-Deutschland (weshalb Mussolini sogleich eine massive Grenzbefestigung bauen ließ).

Es gibt in der Geschichte der Menschheit zwei Staaten, mit denen man keine gemeinsame Grenze haben will: Nazi-Deutschland und Russland. Wenn du dich in dieser geografischen Lage befindest, kannst du dich gleich aufhängen.

Aber wir wollen nicht so weit vorgreifen.

Deutschland hatte sich also im März 1938 Österreich einverleibt – trotz heldenhaften Widerstands aller Österreicherinnen und Österreicher, wie wir wissen. Im Oktober 1938 hatte sich Deutschland das tschechische Sudentenland einverleibt. (Weil die Weltgemeinschaft beim Minsker, äh Münchner Abkommen der Meinung war, man müsse dem Aggressor auch ein bisschen entgegenkommen, um einen Zweiten Weltkrieg zu vermeiden.) Im März 1939 besetzte Deutschland den Rest Tschechiens. Im September 1939 griff Deutschland Polen an, und die ganzen leserbriefschreibenden Appeasement-Strategen waren entsetzt, dass ein Diktator das tut, was er jahrelang angekündigt hatte.

Die Deutschgesinnten unter den Südtirolern malten schon Hakenkreuzfahnen, um die „Befreier“ zu begrüßen, denn sicher würde die Wehrmacht auch sie „heim ins Reich“ holen.

Hitler hätte das Deutsche Reich tatsächlich gerne um Südtirol vergrößert, aber für Mussolini gab es kein zurück hinter die Alpengrenze, ja nicht einmal hinter die Zwangsitalienisierung. Das ganze wurde ein bisschen verkompliziert, weil Mussolini und Hitler ziemlich beste Freunde waren. Immerhin hatte Hitler seine politische Laufbahn als Mussolini-Imitator begonnen und den Maestro immer wieder kopiert, vom Marsch auf die Feldherrnhalle (dem voraussichtlich im November 1923 eine Episode dieser Geschichtsreihe gewidmet werden wird) bis zu den Uniformen und der Architektur. Ja, sogar die Idee, Dörfer von ethnischen Minderheiten umzubenennen, übernahmen die Nazis in Deutschland, hier gegen die Sorben gerichtet.

„Wenn ich groß bin, will ich auch Diktator werden!“

Um einen Krieg zwischen Deutschland und Italien zu vermeiden, vereinbarten die beiden im Sommer 1939 einen Deal, den man in Italien bald nicht mehr Deal nennen darf: Südtirol bleibt bei Italien, und Mussolini darf so viel italienisieren, wie er will. Dafür bekommen die deutschsprachigen Südtiroler die Option, bis zu einem bestimmten Stichtag ins Deutsche Reich auszuwandern.

Diese Frist war zuerst auf Dezember 1942, also mit drei Jahren Bedenkzeit, festgelegt worden, wurde dann aber nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs hopplahopp auf Dezember 1939 vorgezogen.

Damit begann ein großes Drama in Südtirol, nämlich die Spaltung zwischen „Optanten“ und „Dableibern“. Auch dieses Thema wird in dem Roman von Marco Balzano ganz gut dargestellt, unter anderem an der Familie der Protagonistin, die deutschsprachig und keinesfalls eine Freundin der Italienisierung ist, die aber ihren Hof nicht für eine ungewisse Zukunft in einem Land, in dem sie noch nie war, aufgeben will. Es ist halt doch nicht alles Politik im Leben.

Außerdem fühlten sich viele Südtirolerinnen und Südtiroler verraten, weil mit der Option der Traum vom wiedervereinigten Tirol (sei es unabhängig, autonom, österreichisch oder deutsch) ganz offiziell aufgegeben wurde.

Die Nazis mussten also die Propagandamaschine heftig anwerfen, um eine möglichst hohe Quote an Heim-ins-Reich-Optanten zu gewinnen. Wegen der bereits durchgeführten Italienisierungspolitik Mussolinis war es nicht allzu schwer, den Teufel an die Wand zu malen. So wurde das Gerücht verbreitet, dass die „Dableiber“ nicht in Südtirol verbleiben dürften, sondern nach Süditalien, Sizilien oder gar ins italienisch besetzte Afrika umgesiedelt würden. (Mussolini garantierte, dass dies nicht passieren würde.) Außerdem wurden die „Dableiber“ als Vaterlandsverräter und Verräter am Deutschtum verhetzt, ausgegrenzt und teilweise verprügelt und terrorisiert.

Das Deutsche Reich versuchte, die Südtiroler mit einem weiteren Versprechen zu locken: Sie sollten nämlich als homogene Volksgruppe gemeinsam in einem für sie reservierten Gebiet angesiedelt werden, anstatt irgendwo in Pommern oder im Ruhrgebiet assimiliert zu werden. Als Gebiet dafür war, man glaubt es kaum, die Krim-Halbinsel im Schwarzen Meer ausersehen.

Na gut, ist sicher schön dort.

Aber ob das jetzt das Richtige für Südtiroler Bergbauern ist, ich weiß ja nicht. Und erstmal zur Krim kommen, das ist auch etwas komplizierter, als sich in den Zug nach München zu setzen. Außerdem – mich wundert, dass das niemandem auffiel – lag die Krim in der Sowjetunion, nicht in Deutschland.

Egal, die Nazis versprachen jedem das Blaue vom Himmel, da fielen auch ganz andere Volksgruppen darauf rein (siehe z.B. Kapitel 33 dieses Artikels).

Insgesamt entschieden sich 85% der Südtiroler für die Option zur Umsiedlung ins Deutsche Reich, allerdings geriet die tatsächliche Umsiedlung bald ins Stocken. Die Südtiroler merkten, dass an den vollmundigen Versprechungen eines zusammenhängenden Siedlungsgebiets nichts dran war. Stattdessen wurden sie verteilt und in hässlich-spießige Reihenhäuser gesteckt. Und die Männer wurden zur Wehrmacht eingezogen.

Und dann gab es da noch ein kleines Problem, nachdem ab Juli 1943 alliierte (und brasilianische) Truppen in Italien Urlaub machten und die Italiener in langen, aber freundlichen Gesprächen davon überzeugten, dass Faschismus doof ist. (Außerdem brachten sie vom Afrika-Feldzug die Camel-Zigaretten und aus den USA die vermaledeiten Anglizismen mit.)

Damit hatte nicht nur Italien die Seiten gewechselt. Jetzt standen sich auch Südtiroler aus dem gleichen Dorf, von denen der eine in der italienischen Armee, der andere bei der Wehrmacht diente, als Feinde gegenüber. Und gegenüber ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn sie waren ja oft in der gleichen Kaserne, schließlich waren sie bis September 1943 Verbündete. Bis man eines Morgens in der Zeitung las, dass man jetzt verfeindet sei.

Alles sehr verwirrend, ich weiß.

Aber die Deutschen hatten eine Lösung. Die gleiche, die sie immer haben: Sie erschossen die italienischen Soldaten, ermordeten sie in Konzentrationslagern oder brachten sie durch Zwangsarbeit um.

Das Unerklärlichste am 20. Jahrhundert ist für mich, wie unbekümmert die Deutschen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die Länder zum Urlauben fuhren, die sie vorher in Schutt und Asche gelegt hatten und wo sie reihenweise Massaker an der Zivilbevölkerung begangen hatten. Schade eigentlich, dass die Partisanen ihre Waffen schon an den Nagel gehängt hatten, die hätten durchaus noch ein paar Nazis am Strand erwischen können.

Aber zurück nach Südtirol: Im September 1943, nach dem Bruch des deutsch-italienischen Bündnisses, besetzte die Wehrmacht Nord-, Mittel- und Teile Süditaliens, also auch Südtirol.

Die Frage der Option und der Auswanderung war damit erledigt. Jetzt kam es allerdings durch die Gestapo und den ganzen Nazi-Apparat zu noch stärkeren Repressionen gegen die „Dableiber“.

Zusammenfassend kann man sagen: War echt ne blöde Zeit für die Südtiroler.

Aber am Ende siegt immer das Gute. Italien wird befreit. Der Marschall-Plan zahlt. Italien ist Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Alle werden gute Freunde. Sogar die Optanten und ihre Kinder dürfen wieder nach Südtirol, als sogenannte Rückoptanten.

Und, am wichtigsten, Südtirol bleibt zwar bei Italien, bekommt aber nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehende Autonomie. Deutsch ist neben Italienisch Amtssprache, und jeder Bürger kann mit den örtlichen und regionalen Behörden sowie vor Gericht auf Deutsch kommunizieren. Kindergärten und Schulen gibt es auch auf Deutsch, und an der Freien Universität Bozen kann man auf Italienisch, Deutsch und Englisch studieren. – Obwohl, das mit Englisch soll ja bald abgeschafft werden, wie wir eingangs erfahren haben.

Mittlerweile findet man an vielen Orten in Südtirol Schilder mit dem zweisprachigen Text:

8000 ‚Namen‘ von Dörfern, Bergen, Flüssen u.s.w. wurden im Südtirol im Prozess der Italianisierung des Landes von der faschistischen Diktatur gefälscht, um Südtirol gewaltsam zu italianisieren. Wir Italiener des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr aggressiv, sondern moderat und europäisch. Wir distanzieren uns vom Nationalismus und Imperialismus unserer Vorfahren. Bei den Südtirolern entschuldigen wir uns für das Kulturverbrechen Italiens durch die Fälschung tausender Namen in ihrem Land.

Also alles leiwand und ein wunderbares Beispiel für das friedliche Zusammenleben in der Europäischen Union.

Naja, nicht ganz.

Denn auch die italienische Republik nach dem Zweiten Weltkrieg setzte manche der faschistischen Projekte weiter um. Zum einen die Ansiedlung von Süditalienern, vor allem im Zusammenhang mit Industrieansiedlungen. Zum anderen Großprojekte, die ohne Konsultation der örtlichen Bevölkerung durchgezogen wurden, am bekanntesten die Flutung des Reschensees.

Genau um dieses Dorf Graun (bzw. Curon) geht es in dem Roman von Marco Balzano.

Ich selbst halte grundsätzlich wenig von so lokalen Protesten gegen Infrastrukturprojekte. Man kann eine Gesellschaft halt nicht ohne Eisenbahnstrecken, Kanäle, Stromtrassen und wahrscheinlich auch nicht ohne Stauseen entwickeln. Und da muss bitteschön nicht jedes Dorf so tun, wie wenn es ein Weltkulturerbe wäre, das keinesfalls umgesiedelt werden darf. (Das Dorf Graun gibt es heute auch noch, nur eben hundert Meter weiter.)

Diese Überbetonung von „Heimat“ ist ja doch sehr provinziell. Und eigentlich auch verlogen, denn natürlich nutzen die Betroffenen gerne die Elektrizität, solange sie nur anderswo produziert wird. Oder haben ein Haus voll Plastik- und Elektroschrott, der über Eisenbahnschienen oder über den Rhein-Main-Donau-Kanal zu ihnen ins Haus geliefert wird.

Aber in Südtirol wurden manche Leute richtig fuchtig gegen den Fortschritt, sauer auf Stauseen, böse auf Bahnlinien und erbost auf die Elektrizität. Südtiroler Terroristen sprengten bevorzugt Strommasten, einmal 37 in einer einzigen Nacht. Den Sprengstoff dafür bekamen sie wohl aus Österreich, das sich in diesem Punkt ausnahmsweise nicht – wie sonst immer – auf seine vorgebliche Neutralität berief.

Der „Freiheitskampf“ (keine Ahnung, was Freiheit ohne Strom bringen soll) eskalierte in den 1960er Jahren und zog allerhand Gesindel an. Rechtsextreme aus Österreich und Deutschland glaubten hier, die Schmach der verlorenen Weltkriege wettmachen und für ein pangermanisches Reich kämpfen zu können. Es kam zu Attentaten, Mordanschlägen, Folter in der Haft, gegenseitiger Unterwanderung, fast so schlimm wie in Nordirland.

Und dann kam 1968, die Studentenproteste, auch hier wieder Radikalisierung (diesmal waren die Drogen schuld). Terrorismus wurde von einer regionalen zu einer gesamtitalienischen Angelegenheit, was die Südtiroler sehr wurmte. Sie entschieden: „Wenn die Italiener jetzt auch Terrorismus machen, dann machen wir halt Tourismus.“ Die beiden Konzepte sind gar nicht so grundverschieden, aber das eine hat einen wesentlich besseren Ruf als das andere. Und nur für eines davon gibt es EU-Fördermittel.

So wurde Südtirol tatsächlich zu der wunderbaren Region, die wir heute kennen, mit immer mehr Autonomierechten seit den 1970er Jahren, mit glücklichen Kühen und mit ungespritzten Äpfeln.

Italienisierungsbestrebungen gibt es kaum mehr. Dafür nerven jetzt die Ultraseparatisten, die – ähnlich wie ihre Kollegen in Katalonien – Nationalisten in klein und genauso blind gegenüber ökonomischen, verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Realitäten sind.

Wenn solche Leute sagen „ich will aber kein Italiener sein“, dann kann ich nur antworten: „Glückwunsch, du hast das Prinzip des Staatsbürgerschaftsrechts verstanden.“ Niemand von uns sucht sich aus, wo, wann und mit welcher Staatsbürgerschaft er/sie geboren wird. Erst recht absurd wird es, wenn der gleiche Typ findet, dass man Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen kann, weil sie keine Italiener sind.

Und solange die Welt weitestgehend in Staaten organisiert ist, braucht man halt irgendeine Staatsbürgerschaft. Außerdem ist es doch jetzt wirklich Janker wie Hose, ob man italienischer oder österreichischer EU-Bürger ist. Man darf sich eh niederlassen, wo man will, wie ich schon oft bewiesen habe. Die Grenzen sind offen. Selbst das imposante Grenzhäuschen am Reschenpass steht heute sinnlos herum.

Ihr müsst beim Grenzübertritt in Zukunft nur darauf aufpassen, dass Ihr nicht aus Versehen ein englisches oder ein englisch klingendes Wort verwendet. Also kein hitchhiking oder Trampen mehr, sondern autostop.

Aber das funktioniert in Italien angeblich sowieso nicht so gut.

Ob das auch eine Hinterlassenschaft des Faschismus ist? Wir werden es bald erfahren, wenn die italienische Regierung sich weiter an der Politik von vor hundert Jahren orientiert.

„100 Jahre? Das ist doch kein Alter!“

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Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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6 Antworten zu Vor hundert Jahren fanden die Faschisten, dass Deutsch eine hässliche Sprache ist – April 1923: Italienisierung

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  3. Christian Buggisch schreibt:

    Schöner Beitrag! Ich gehe auf den unwichtigsten und nebensächlichsten Aspekt ein: Nach einem Spaziergang um den Pragser Wildsee (zu Corona-Zeiten, voll und mit Maske) hatten wir uns dreiviertelironisch entschieden, mal Un passo dal cielo / die Bergpolizei mit Terence Hill anzuschauen. Wegen der schönen Gegend und so. Ich habe Staffel 1 dann sogar auf DVD gekauft, weil nirgendwo im Streaming zu finden. Nun ja, wir hatten schon bessere Ideen. Bei Folge 1 haben wir noch gelästert. Ab Folge 2 wurde es zäh. Und ab Folge 3 unmenschlich. Wir haben es trotzdem durchgezogen. Seitdem weiß ich wieder trotz kompletter Abstinenz, was im linearen Fernsehen so vor den Heute-Nachrichten um 19 Uhr läuft. Sehr schlimm das alles.

    • Andreas Moser schreibt:

      Hee, in meinen Artikeln gibt es keine unwichtigen Aspekte! 😛

      Ich kann mich noch erinnern, als die Serie im Bayerischen Fernsehen anlief und ich nach der Lektüre der Vorabkritik in der Süddeutschen Zeitung dachte: Naja, so schlecht, wie die schreiben, wird es schon nicht sein. Schließlich gibt es Berge und schöne Landschaft. (Ich bin auch jemand, der Western hauptsächlich wegen der Landschaftsaufnahmen ansieht.)
      Tja, nach der ersten Folge fand ich die vernichtende Kritik in der Zeitung noch viel zu milde.

      Die Lehren:
      – Terence Hill sollte aufhören.
      – Südtirol muss man selbst besuchen, anstatt es sich in kitschigen Fernsehserien einzuverleiben.
      – Wenn lineares Fernsehen, dann im Zweifel immer ARTE.

  4. sashinator schreibt:

    Sehr interessanter Artikel. Danke dafür. Auch, oder gerade weil es andere Ecken Italiens sind als die von mir in den letzten Monaten beäugten. Eine Frage dazu: Bist du bei der Recherche auch über diese Sache mit den „faschistischen Zahlen“ gestoßen? So bezeichnen Menschen, die Mussolini eher kritisch gegenüberstehen, die guten, alten römischen Zahlen. Das hängt damit zusammen, dass man sich für die neue Zeitrechnung der „Era Fascista“ natürlich dieser Zahlen bediente.

    • Andreas Moser schreibt:

      Oh, das mit den „faschistischen Zahlen“ ist mir neu.
      Aber sehr praktisches Argument, wenn ich mich dem Rechnen mit diesen unlogischen Strichen widersetzen will. 😉

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