Ein realistischer Anwaltsfilm: „Maîtres“

To the English version.

Die meisten Justizfilme und -serien vermitteln ein vollkommen falsches Bild von Rechtsanwälten und Gerichten.

Weil die Menschen aber leider mehr Zeit vor dem Fernseher als vor dem Bundesverwaltungsgericht verbringen, prägen diese Fehlvorstellungen ihre Erwartungen. Und dann sind die Leute enttäuscht, wenn sich nicht die ganze Kanzlei mit fünf Anwälten allein und ausschließlich um ihren einen Fall dreht, wenn das Gericht zwei Tage nach Einreichung der Klage noch immer nicht entschieden hat, wenn im Gerichtssaal weder Zuschauer noch Geschworene warten, und wenn der Richter nicht ständig mit einem Hammer auf den Tisch haut. Ach ja, und regelmäßig merke ich die Enttäuschung, wenn ich nicht wie der „Lincoln Lawyer“ mit Chauffeur und Limousine zum Gericht komme, sondern mit der Straßenbahn. Oder zu Fuß.

Ganz besonders dämlich ist „Suits“.

Überraschend wirklichkeitsnah fand ich hingegen „Better call Saul“.

Gut, man wird jetzt nicht jede Woche von der Drogenmafia in die Wüste von Arizona verschleppt und angeschossen. Das liegt aber vielleicht daran, dass die Jungs vom Sinaloa-Kartell gelesen haben, dass ich mich ganz allein in der Wüste verfranzen und fast verdursten kann. Da muss also niemand nachhelfen.

Abseits dieser vordergründigen Theatralik stellt „Better call Saul“ das harte Leben eines Einzelanwalts mit all seinen Höhen und Tiefen dar: Das anstrengende Werben um Mandanten, aber dann kommen plötzlich viel zu viele gleichzeitig. Man muss sich um alles selbst kümmern, weil man keine Mitarbeiter hat. Und wenn man ein paar Tage nicht dazu kommt, auf E-Mails zu antworten, tauchen die Mandanten unvermittelt zuhause auf.

Aber jetzt habe ich auf Filmfriend, dem Netflix für Intellektuelle, das ich kürzlich schon empfohlen habe und das Ihr über Eure Stadtbibliothek kostenlos nutzen könnt, einen wirklich realistischen Anwaltsfilm gefunden: „Maîtres“ ist eine Dokumentation über drei französischen Anwältinnen, die in einer gemeinsamen Kanzlei in Straßburg hauptsächlich im Migrationsrecht tätig sind.

Nicht nur weil ich ebenfalls Migrationsrecht mache, habe ich hier ganz viel wiedererkannt: Natürlich Äußerlichkeiten wie die dicken Gesetzeskommentare, die nur als Unterlage für Laptops und Lampen dienen, oder den Raucherbalkon (bei mir allerdings mit genüsslichen Zigarren anstatt einer schnellen Gauloise).

Aber vor allem die Mandanten und die Geschichten. Da gibt es Mandanten, die mit einem dicken Ordner kommen, alles bestens organisiert und sortiert. Und andere, denen man jede Information aus der Nase ziehen muss. Mandanten, die ihre Kinder zum Dolmetschen mitbringen. Mandanten, die denken, alles richtig gemacht zu haben, weil sie immer gearbeitet und nie Sozialhilfe bezogen haben, weil sie Französisch sprechen und all ihre Kinder auf die Schule gehen, aber aus Sicht des Staates wiegt es schwerer, dass sie vor 16 Jahren eine falsche Identität angegeben haben. (Bitte macht so etwas nicht. Das führt nur zu ewigen Komplikationen.) Chaotische Mandanten, die einen Sekretär für ihre Termine, für die Post und vor allem für die Bezahlung der Rechnung benötigen würden. Mandanten mit dramatischen Lebensgeschichten. Mandanten, deren Fall eigentlich nur halbgare Erfolgsaussichten hat, denen man aber unbedingt helfen möchte, weil sie sympathisch sind. Und sogar das Gespräch zur Vorbereitung auf den Einbürgerungstest kam mir bekannt vor.

Der Trailer gibt einen kleinen Einblick. Und keine Sorge, auf Filmfriend gibt es englische Untertitel dazu.

Anfangs dachte ich: „Gut gespielt, chapeau!“ Bis ich merkte, dass die Rechtsanwältinnen echt sind. Und die Mitarbeiterinnern und Mandanten ebenfalls. Die haben einfach eine Kamera in die Kanzlei gestellt und mitlaufen lassen. Natürlich nur bei den Mandanten, die zustimmen.

Vielleicht sollten sich Drehbuchautoren und Regisseurinnen ein Beispiel daran nehmen. Mehr Realität wagen. Wie Egon Erwin Kisch schrieb: „Nichts ist erregender als die Wahrheit.“

Ich will übrigens gar nicht so jammern, wie sich das oben angehört hat. Eigentlich ist es ja doch ein ziemlich lockerer Beruf. Man sitzt rum, hört zu, denkt nach, schreibt ein paar Briefe, liest viel und raucht dazwischen.

Wie privilegiert das ist, wurde mir bewusst, als ich – ebenfalls auf Filmfriend und im Rahmen des noch bis zum 17. Februar 2025 laufenden Festivals des französischen Films – einen Kurzfilm über die Arbeit auf einer Baustelle gesehen habe. Das ist schon ein anderes Kaliber von Stress.

Wie ist das bei Eurem Beruf? Gibt es da realistische Filme/Serien/Bücher?

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About Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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23 Responses to Ein realistischer Anwaltsfilm: „Maîtres“

  1. Realistische Filme über Schule möchte ich gar nicht sehen. Lustige erst recht nicht. Gefühlvolle nur im Notfall und dann bitte solche, die zumindest nicht in Deutschland spielen. Ausnahme: „Club Zero“, den fand ich in seiner Konsequenz sehr gut. Läuft aber unter Komödie (und ist gar nicht lustig) und unter Thriller, was es auch nicht trifft. Schwarze Realsatire eventuell.

  2. Avatar von Kasia Kasia sagt:

    Ich schaue mir Serien/Filme an, um vor der Realität zu fliehen, da sind realistische Filme oder Reportagen nicht eben das Richtige, und ich denke, vielen Menschen geht es genauso. Da darf die Anwaltsserie ruhig mal überzogen sein und der Richter mit dem Hammer auf den Tisch hauen, bis es schallt. Man weiß doch, dass es in Realität anders abläuft… oder?

    • Das sind doch unproduktive Tagträumereien, die die Arbeitsmoral untergraben. Nein, ich stehe da fest auf dem Boden des Realismus. Das Volk muss sich im Film wiederfinden, um stolz zu erkennen, was es im Rahmen des Fünfjahresplanes bereits geleistet und erreicht hat.

      Am liebsten mag ich Bücher/Filme mit werktätigen, malochenden Titeln wie „Die Baugrube“ (Andrei Platonow) oder „Zement“ (Fjodor Gladkow).

      Und im Theater die Oper „Elektrifizierung der Sowjetunion“ oder den „Tanz zur Feier der produktivitätssteigernden Errungenschaften der Mechanisierung in der Landwirtschaft“:

      An diese Begeisterung kommen doch keine Fiktion und keine Fantasy ran!

      Ach ja, ein lustiger Film zum Thema Arbeit ist „Blue Mountains“ über ein Verlagshaus in Sowjetgeorgien:

    • Avatar von Kasia Kasia sagt:

      Das Volk hat aber so viel Zerstreuung heutzutage und mag nach dem Malochen keine Filme übers Malochen schauen… hab doch Erbarmen 😉

  3. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    Es ist schon lange her, da war ich sehr verblüfft, als mein Beruf, der sonst niemanden interessiert, tatsächlich für eine Liebesschmonzette hergenommen wurde. Wie nicht anders zu erwarten, in vollkommen unrealistischer, dusseliger, romantisierender Darstellung.

    Der Arbeitsalltag ist wahrlich anders, und was sich kaum einer vorstellt: man braucht dazu gute Nerven und eine Elendsgeduld. Dazu macht man sich im wörtlichen Sinn den Rücken krumm und wenn man nicht aufpasst, auch noch die Lungen kaputt.

    “Ghost“ mit Demi Moore und Patrick Swayze ist wohl der einzige Film, in dem eine Töpferin vorkommt.

    Aber was solls, zum Töpfern haben die meisten Leute sowieso eine verquere Mischung von Assoziationen, da muss man irgendwann drüber stehen.

    Schönen Gruß,

    Maria

    • Hallo Maria,

      ich kannte den Film noch gar nicht, habe mir gerade den Trailer angesehen und glaube, du hast den Film sehr treffend, wenn auch hart beschrieben. 🙂

      Anscheinend wurde da das Töpferhandwerk missbraucht, um Millionen von an Lehm und Ton interessierten Menschen ins Kino zu locken. Und dann kommt so Geisterklamauk.

      Ich habe als Kind einmal versucht, zu töpfern.
      Das Ergebnis war so traurig schief und scheps und krumm, dass es mir ein tiefes Trauma verpasst hat und für den Rest des Lebens jegliches Interesse an Handwerk, Kunst, Gestaltung oder auch nur Dreidimensionalität vermiest hat.
      Ab da beschloss ich wahrscheinlich unterbewusst, dass meine Hände niemals ein komplizierteres Werkzeug als einen Stift halten werden.

  4. Avatar von flusskiesel flusskiesel sagt:

    Mir fällt zu meinem Beruf (Bibliothekar) spontan nichts Authentisches ein. Meine Kolleginnen und Kollegen haben uns schon häufig an den Klischees über unseren Beruf abgearbeitet (google mal ,,Librariancore“).

    • Aber Ihr habt doch sogar ein Musical über Euch: „Marion the Librarian“. 😉

      Wenn ich nachdenke, fällt mir auf, dass tatsächlich ganz viele Bibliotheken in Filmen vorkommen, aber die Bibliothekare bleiben im Hintergrund und machen „Schhhh“.
      Obwohl, es gibt auch noch Bibliothekare, die über geheime Manuskripte, alte Sprachen und verschollen geglaubte Schätze Bescheid wissen. Man muss sie nur fragen.
      So hatte ich die Bibliotheksszene aus „Indiana Jones und der Letzte Kreuzzug“ im Kopf. Aber es stellt sich heraus, dass die Besucher dort die ganze Recherche selbst machen müssen, und der Bibliotheksmitarbeiter nur Bücher stempelt.

      Bibliotheken sind aber auch ein super Setting für Filme. Man hat eine gewisse Aura des Wissen und Geheimnisvollen. Es ist schön symmetrisch. Man kann sich zwischen den Regalen zurückziehen, immer auf der Angst vor Entdeckung. Also schneller Wechsel zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Und wenn man ein Buch aus dem Regal zieht, findet sich darin die Lösung, die man sucht. So Zufälle kann man sonst schlecht konstruieren.
      Und wenn das Mädchen im romantischen Film in der Bibliothek sitzt, weiß man gleich, dass sie schlau sein soll. Oder dass sie eine schüchterne Außenseiterin ist (die dann aufblüht, als sie einem football-spielenden Klassenkameraden, der noch nie in einer Bibliothek war, Nachhilfe geben soll und sich die beiden näherkommen).

      Sogar bei James Bond nutzen sie eine Bibliothek oder ein Archiv:

      Eigentlich ist schade, wie viele Menschen nie in Bibliotheken gehen. Egal in welche Stadt ich ziehe, das ist fast immer mein erster Anlaufpunkt. Gerade jetzt, wenn einem die grauen und dunklen und kalten Tage aufs Gemüt drücken, ist eine freundliche Stadtbibliothek die Rettung. Und das für nur 10 oder 20 Euro im Jahr.

  5. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    Danke für den Hinweis auf Filmfriend. Das ist echt an mir vorbei gegangen.

    • Ich habe davon auch erst erfahren, als ich nach Chemnitz zog und mich bei der Stadtbibliothek anmeldete.
      Das war nämlich nicht nur eine einfache Anmeldung, sondern da gab es ein Beratungsgespräch mit Erklären aller Funktionsweisen der Website. Das habe ich dann vergessen, weil ich ganz altmodisch hauptsächlich wegen der Bücher in die Bibliothek gehe.

      Aber irgendwann lag ich wohl krank zuhause, ohne Fernseher, und erinnerte mich, dass es da Filme auf der Bibliothekswebsite gibt. Seither ist Filmfriend mein Netflix-Ersatz, wobei ich sowohl da wie dort eigentlich nur selten etwas finde. Aber manchmal eben die eine oder andere Überraschung.

      Eigentlich bin ich viel mehr ein Radiohörer, da finde ich echt jeden Tag etwas Interessantes.

  6. Pingback: A realistic lawyer movie: “Maîtres” | The Happy Hermit

  7. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    Hallo Andreas,

    dein Fall ist leider typisch, so vielen Kindern wurde vermittelt, dass sie beim Handarbeiten oder Malen, meistens auch noch beim Singen, zu nichts taugen, dabei ist das schlicht weg gelogen! Jeder kann das lernen, Spaß dabei haben, und Selbstbewusstsein dadurch erlangen. Und was bleibt ihnen dann halt anderes übrig, als Rechtsanwalt zu werden…!?

    Schade, dass du damals nicht mein Töpferschüler warst, vom Alter her, hätte es fast passen können. Ich hätte dir zeigen können, wie wunderbar das sein  kann. Das lag damals nämlich nicht an dir. Auch ich habe das erste mal in der Schule getöpfert und auch bei mir ist es nichts geworden. Das hängt damit zusammen, dass diese Kurse normalerweise nicht von den richtigen Leuten geleitet werden und dass dabei unbedingt etwas „schönes“ entstehen soll. Dabei orientiert sich diese Vorstellung von Schönheit an den Industrieprodukten, die man normalerweise auf dem Kaffeetisch stehen hat, das kann ja nicht klappen.

    Ach…, da könnte ich ganze Referate darüber halten.

    Lustig finde ich die Vorstellung von „Millionen von an Lehm und Ton interessierten Menschen“.

    Kannst du die bitte alle in meiner Werkstatt vorbei schicken? Das Weihnachtsgeschäft war nämlich miserabel. 

    Aus dem Film „Ghost“ erinnere ich mit Freude, wie der Bösewicht nach seinem Ableben von Schwarzen Schatten, die aus der Erde kriechen, hinweg gezogen wird. Da hat man doch zur Zeit Assoziationen, wem alles das am liebsten auch so ergehen sollte. 

    Schönen Gruß

    Maria

    • Dass jeder Spaß und Freude beim Handwerken, Töpfern oder Singen empfinden kann, bestreite ich.

      Nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern auch, weil man dann konsequenterweise annehmen müsste, dass jeder ebenso viel Spaß bei anderen Handwerken wie Metzgerei, Zahnmedizin oder Boxen verspüren müsste.

      Ich bin mir auch nicht sicher, ob es gut ist für das Selbstbewusstsein junger Menschen, wenn man ihnen vorgaukelt „jeder kann das“, nur weil man es selbst kann. Zum einen sind die Talente verschieden und unterschiedlich ausgeprägt.

      Aber vielleicht viel wichtiger: Die Interessen unterscheiden sich. Vielleicht könnte ich theoretisch schwimmen lernen. Aber es juckt mich einfach null. Hat mich auch noch nie interessiert. Ich habe keine Angst vorm Wasser, es ist mir einfach egal. So wie sich andere Leute nicht für sowjetische Kulturgeschichte der 1960er Jahre oder nicht für Schach interessieren.
      Und genauso geht es mir mit handwerklichen und materiellen Dingen. Ich produziere die nicht nur selbst nicht, ich kaufe die auch nicht. In meiner Wohnung gibt es keinerlei Flitter und Tand, sondern eine Menge Bücher und ein paar Tassen. Ich sammle auch keine Souvenirs, hebe nichts auf. Selbst in Museen finde ich den Objekteteil meist langweilig, insbesondere wenn es um keltische Trinkbecher geht. (Natürlich hatten die Kelten auch Durst, also hatten sie Becher. Was soll daran interessant sein?) Und wenn mir jemand was schenkt, werfe ich es weg. Das ist dann immer sehr traurig.

      Das mit dem Töpfern war übrigens nicht in der Schule, sondern meine Mutter hat mich zu einem Privattöpfer mitgenommen. Das ist auch traurig, wenn die Eltern immer glauben, zu wissen, wofür sich ihre Kinder interessieren. Und als Kind kapiert man ja nichts und kann seine Wünsche nicht richtig ausdrücken, so dass einem irgendwann nichts anderes übrig bleibt, als von zuhause wegzulaufen, Drogen zu nehmen und Bushaltestellen anzuzünden. Deshalb noch einmal ausdrücklich an alle Eltern: Wenn Euer Kind gerne allein ist und Bücher liest, lasst es einfach allein! Es muss nicht spielen, es muss nicht fußballern, es muss nicht musizieren, es will einfach nur ein Intellektueller werden.

      Außerdem ist Handwerksunterricht ja irgendwie faschistisch. Sportunterricht sowieso.

    • Avatar von danysobeida danysobeida sagt:

      Debo bajar la cabeza al pensar muchas veces que, tal vez influí en mi hija al elegir su carrera porque pensé que tenia mucha mas capacidad, olvidando que una mala elección puede llevarte al desanimo y a la derrota. Y aunque tengas toda la capacidad, si es algo que no te motiva o apasiona puedes fracasar.

      Entiendo hoy que entre orientar y manipular hay una línea muy fina por traspasar entre la una y la otra. Me siento culpable totalmente por los resultados. Hoy sin fuerzas ni estrategias para sanar el error.

  8. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    Buchbinden ist übriges auch ein Handwerk.

    Ein sehr schöner Satz, den man in Variationen immer wieder hört ist:

    „…In meiner Wohnung gibt es eine Menge Bücher und ein Paar Tassen.“ „Ich…….hebe nichts auf.“

    Auch Bücher sind Gegenstände.

    Ich bin aus Erfahrung der Überzeugung, dass wir nicht schon mit allen unseren Vorlieben, Talenten und Abneigungen geboren werden, sondern dass es sehr von den Umständen abhängt, in denen wir einer Sache begegnen. Möglicherweise genügt es, dass eine Mutter unbedingt möchte, dass ihr Kind „kreativ“ wird, damit sich das Kind aus ganz anderen Gründen, die gar nichts mit der so genannten kreativen Beschäftigung an sich zu tun haben, schon von vornherein unwohl dabei fühlt.

    Je mehr wir nicht nur mit unserem Geist, sondern auch mit unserem Nervensystem erfassen, desto vielseitiger wird unsere Betrachtung des Lebens. Das hat nichts mit Optimierung, schon gar nicht in vorausschauender Beruflicher Aussicht zu tun. Haptische Erfahrungen helfen neue Synapsen zu bilden, die man dann für irgendetwas anders nutzen kann, zum Beispiel auch zum Bücher lesen und darüber nachdenken.

    Deshalb ist es, je nach dem wie ein Thema an einen herangetragen wird, sei es Handwerkeln oder Bücher lesen, durchaus möglich, dass man es nicht von Anfang an als so schlechte Erfahrung erlebt, dass man, nicht nur nie wieder etwas damit zu tun haben möchte, sondern sogar meint, man sei sowieso vollkommen dafür ungeeignet.

    Und ja, wieso sollte man nicht auch beim Metzgern Glück empfinden. Grad wenn man Hunger hat und weit und Breit für lange Zeit kein Supermarkt in der Nähe ist, freut man sich sicher, wenn man weiß, wie man an so einem Tier das Fell abzieht und an welchen Stellen es sich am einfachsten zerlegen lässt.

    Was ich aber ebenfalls sehr kritisch sehe, ist der derzeitige Zwang vieler Eltern, den Kindern „etwas zu bieten“, sie zu unterhalten und eben zu optimieren, und zu denken, dass man dazu nur das nötige Geld für den Kurs zu bezahlen, und sie mit dem Auto vor die Türe der Bastelstunde zu fahren braucht. So kann man Kinder wirklich schwer unter Druck setzten und ihnen vieles vergällen.

    @danyobeida: De nada sirve andar cabizbajo, habla con tu hija y ayúdale a cambiar, si ella lo prefiere así.

    Schönen Gruß,

    • Ich weiß, es ist in bestimmten Kreisen ein Tabu, aber ich werfe auch Bücher weg, wenn ich sie gelesen habe. Meist lasse ich sie in der Öffentlichkeit liegen oder stelle sie in einen Bücherschrank. Aber mir ist bewusst, dass das gerade im Park ausgelesene und dort zurückgelassene Buch wahrscheinlich keine neuen Leser findet, sondern vom nächsten Regen zerstört wird.

      Ich habe zwar einige Hundert Bücher zuhause, aber 95% davon habe ich noch nicht gelesen. Und nächstes Jahr werde ich andere Bücher zuhause haben.

      Für mich sind auch Bücher nur Gebrauchsgegenstände, und am liebsten hole ich sie mir aus der Bibliothek, so dass ich überhaupt kein Eigentum erwerben muss. Ich reiße auch Seiten raus oder schneide Bücher auseinander, wenn ich Platz im Rucksack sparen muss. (Natürlich nicht bei Bibliotheksexemplaren.) Wenn ich zB auf einer langen Wanderung um Davos den „Zauberberg“ lese und die ersten 300 Seiten durch habe, dann reiße ich das Buch auseinander und verbrenne den gelesen Teil im Lagerfeuer, um Platz im Rucksack für zwei Tafeln Milka zu schaffen.

      Ich glaube, ich bin so antimaterialistisch eingestellt, weil ich schon Dutzende Male umgezogen bin. Da merkt man bald, dass alles Materielle nur eine Last ist.

      So kam auch Harald Schmidt darauf, Bücher wegzuwerfen:

      Bei Tassen ist es genauso. Ich verstehe nicht, wieso man nicht einfach alle Wohnungen mit Tellern und Tassen und meinetwegen einem Stuhl und einem Tisch einrichtet. Gesetzlich verpflichtend. Wenn man dann umzieht, kann man das alles zurücklassen, weil man weiß, dass die neue Wohnung diese Grundausstattung schon hat. Und so muss man nichts schrauben, nichts tragen, und der Umzug ist mit einem kleinen Auto erledigt.

      Als ich in London gelebt habe, war das so. Da bin ich viermal umgezogen, aber jedes Mal brauchte ich nur zwei große Sporttaschen. Eine für Bücher und Papier, die andere für Kleidung. Da waren sogar schon die Betten bezogen, wenn man eingezogen ist. Das ist Zivilisation! Nicht wie in Deutschland, wo die Leute so kleingeistig sind, dass sie sogar die Lampen abschrauben, wenn sie ausziehen. (Ich wohne jetzt schon eineinhalb Jahre in Chemnitz, und es hängen immer noch nur die blanken Glühbirnen von der Decke. Und zum Schlafen lege ich mich auf eine Matratze auf Bierkisten, weil beim Einzug kein Bett da war.)

      Manchmal, wenn ich den ganzen Stress beobachte, den sich die Menschen mit all dem Besitz machen, sehne ich mich an die Zeit im Gefängnis zurück: Drei dünne Decken, eine Hose, eine Jacke, eine Unterwäsche, eine Zahnbürste mit Zahnpasta, eine Seife. Nach ein paar Tagen bekam ich ein Buch. Die Tage gingen trotzdem rum.

    • Avatar von danysobeida danysobeida sagt:

      Gracias.

  9. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    So mache ich das auch! Erst letztes Jahr bin ich ein Buch losgeworden, das auf der Wunschliste dieses Blogs stand.

    Aber drei dünne Wolldecken finde ich schon zu viel Luxus, eine reicht doch.

    Einen herzlichen Gruß,

    Maria

    • Vielen Dank auch nochmal für das Buch über das leere Spanien!
      Ich habe es noch nicht gelesen, weil ich es mir für eine Reise nach ebendort aufhebe.

    • Eine Decke legt man auf den Betonboden. Man hat ja kein Bett oder Matratze.
      Die zweite rollt man zu einem Kissen.
      Mit der dritten deckt man sich zu.

  10. Anscheinend sind Filme über etwas gestresste Berufsgruppen derzeit in Mode.

    Aktuell im Kino über den Arbeitsalltag im Krankenhaus:

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