Mazedonien ist voll von Friedhöfen.
Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil es in den größeren Orten keine gemeinsame Ruhestätte für die Ahnen gibt, sondern immer mindestens einen christlichen, einen islamischen und einen jüdischen Friedhof. Letzterer weist aber kaum Gräber auf, weil nahezu alle mazedonischen Juden 1943 von den bulgarischen Besatzern ins KZ Treblinka deportiert und dort ermordet wurden.
Dazu kommen deutsche, französische und britische Friedhöfe. Zwar wußte ich, daß der Erste Weltkrieg sich nicht nur auf die mitteleuropäische West- und Ostfront beschränkte (sonst hätte er schließlich die Bezeichnung als Weltkrieg nicht verdient), aber so richtig in mein Bewußtsein drang die geographische Ausbreitung dieses Krieges erst, als ich die 100 Jahre alten und streng national getrennten Totensammelstellen im fernen Mazedonien sah.
Der schönste Friedhof in Mazedonien ist der türkische Friedhof in Bitola, aus der Zeit des Osmanischen Reichs und seit dessen Zusammenbruch nicht mehr gepflegt. Wenn er nicht auf dem Stadtplan verzeichnet gewesen wäre, hätte ich ihn nie entdeckt. Und falls ich ihn zufällig entdeckt hätte, wäre ich achtlos vorbeigelaufen oder hätte allenfalls ein Foto gemacht und unter dem Titel „Kornfeld mit Wolken“ veröffentlicht.
Erst beim zweiten Hinsehen erkannte ich einige Grabsteine zwischen Hafer und Gerste.
Je mehr ich mich auf diesem verwilderten Hügel umsah, desto mehr Zeugnisse der Vergangenheit entdeckte ich, leider allesamt in einer von mir nicht entzifferbaren Schrift. Dieser türkische Friedhof wurde aufgegeben bevor Mustafa Kemal Atatürk das lateinische Alphabet durchsetzte. Atatürk selbst war höchstwahrscheinlich ein paar Mal auf diesem Hügel gewesen, denn seine militärische Ausbildung begann 1896 an der Militärschule in Bitola. Vielleicht rauchte er hier heimlich seine ersten Zigarren.
Diese historische Ansicht aus dem Ersten Weltkrieg zeigt den Blick vom Friedhofshügel auf die Stadt (die auf türkisch und griechisch Monastir heißt). Schon damals war erkennbar wie die Natur anfängt, sich die Kontrolle über den Hügel zurückzuerobern.
Mitten in einem Land, das in den letzten 100 Jahren etliche Kriege, Bürgerkriege, Revolutionen und Freiheitskämpfe erlebt hat, gibt es einen Ort, an dem die Zeit stillsteht. Die goldenen Getreidehalme wiegen sich im Wind. Die Wolken eilen vorüber und werfen ihre Schatten, so wie es die Geschichte immer wieder getan hat.
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Eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die Judentum und Islam verbinden, ist die Dauer der physischen Totenruhe eines Verstorbenen: Sie ist nämlich bei beiden praktisch unbegrenzt, ewig; Aufhebung von Gräbern und Umbettungen sind nicht vorgesehen. So dass sich auf diesem islamischen Friedhof im Irak (mit über 5 Millionen Gräbern vermutlich der größte der Welt) noch Gräber aus dem 7. Jahrhundert befinden
http://en.wikipedia.org/wiki/Wadi-us-Salaam
Und selbst hierzulande gibt es Orte wie den „Heiligen Sand“ in Worms, einen jüdischen
Friedhof, dessen Grabstätten bis ins Mittelalter zurückreichen (und den die braunen
Deppen wunderbarerweise unangetastet gelassen haben)
http://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Sand
Das älteste datierbare Grab ist über 950 Jahre alt
http://www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat?function=Ins&sel=wrm&inv=9008
und im Gegensatz zu den modernen Friedhöfen mit ihren „Ruhefristen“ lässt ein Besuch
eines solchen Ortes (ich war vor einigen Wochen dort) viel Raum für Nachdenklichkeit und die
angemessene Portion Melancholie.
Ich gehe auch wirklich gerne auf Friedhöfe, wegen der Ruhe, der Geschichte, und ,wie Du schreibst, sind sie der perfekte Ort für Nachdenklichkeit.
Die jüdischen und islamischen Anforderungen an die Ewigkeit von Grabstätten führen in einer geographisch begrenzten Welt aber irgendwann zu einem Problem.
Wenn die Berechnungen des US-Amtes für Bevölkerungsstatistik stimmen, haben bisher ca.
108 Milliarden Menschen gelebt
http://www.prb.org/Publications/Articles/2002/HowManyPeopleHaveEverLivedonEarth.aspx
Wenn wir jedem von diesen nun ein bescheidenes Standardgrab von ca. 1,20 Meter x 2,50 Meter zugestehen, würden wir, wenn ich richtig rechne, für einen kompletten Menschheitsfriedhof 324000 Quadratkilometer Landfläche benötigen – etwas weniger als die Fläche der Bundesrepublik. Da jedoch niemand weiß, was der Menschheit noch bevorsteht: Die Landoberfläche der Erde umfasst etwas mehr als 149 Millionen Quadratkilometer, so dass sich jeder selber ausrechnen kann, für wie viele Menschheiten das noch reichen würde …
Fairerweise muß man aber sagen, daß Teile dieser Fläche unzugänglich sind (Berge) oder sich wegen ihrer Beschaffenheit nicht für Friedhöfe eignen (Sümpfe) oder so weit weg von jeder größeren Ansiedlung sind, daß damit der Sinn eines Friedhofs für die noch Lebenden nicht erreicht würde (Wüste).
Das Platzproblem ergibt sich, weil die Toten in der Nähe ihrer Nachfahren bleiben wollen, bzw. umgekehrt. Deshalb müssen an manchen Orten die Gräber gestapelt werden.
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