Am Bahnsteig in Regensburg wartet neben mir ein junger Mann ebenfalls auf den Zug nach Wien. Er ist ganz in schwarz gekleidet, mit schwarzem Baseball-Cap, schwarzer Sonnenbrille (die Sonne scheint nicht), schwarzen Kopfhörern und schwarzem Rucksack. Mit seinen Muskeln könnte er den einfahrenden ICE per Hand stoppen.
Im Zug finde ich mich auf einem Sitzplatz gegenüber von ihm wieder. Der Bodybuilder packt einen dicken Wälzer – „Was ein Einzelner vermag – Politische Zeitgeschichten“ von Heribert Prantl – und eine Tupperware-Box mit Gurkensalat aus seinem Rucksack und vertieft sich in die Lektüre.
Ich habe mich wohl in ihm getäuscht und schäme mich etwas über meine Oberflächlichkeit.
Kaum rollen wir aus Regensburg hinaus, bauen sich zwei Männer in Zivilkleidung neben uns auf: „Polizei, Ausweiskontrolle“, wenden sie sich nur an den jungen Mann, der die Sonnenbrille und Kopfhörer schon abgenommen, aber das Käppi noch auf hat.
„Sprechen Sie Deutsch?“ fragt der Polizist.
„Selbstverständlich“, antwortet der anscheinend Verdächtige freundlich, aber mit einem nicht ganz zu unterdrückenden Lächeln.
„Das sehen Sie doch an dem Buch“, werfe ich hilfreich ein, auch weil ich genervt bin, dass bei einer Zugfahrt zum wiederholten Mal mein Gegenüber kontrolliert wird, während ich in Ruhe gelassen werde.
„Darauf habe ich gar nicht geachtet“, erwidert der Kriminalist. „Ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren.“
Was das Wesentliche ist, dass den lesenden jungen Mann von allen anderen Reisenden in diesem Waggon unterscheidet, erfahren wir nicht. Aber wir können es uns denken.
Falls mal jemand Geld, Drogen oder Waffen schmuggeln muss, heuert einfach so jemanden wie mich an (weiß, Mitte 40, konservativer Kleidungsstil, kurze Haare, keinen Bart). Wir werden nie kontrolliert.
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Falls ich je wieder danach gefragt werden sollte, was „white privilege“ zu bedeuten hat, weiß ich jetzt auf was ich verweisen kann.