Unter den verwunderten Augen derer, die in warme Büros, Schulen und Geschäfte fahren, steige ich am Signal de Botrange als einziger aus dem Bus. Weil die Uhr am vergangenen Wochenende durchgedreht hat, weiß die Sonne noch nicht so recht, ob sie aufstehen oder nochmals den Snooze-Button drücken soll. Hinter den Wolken wabert sie in einem Interimszustand.
694 Meter hören sich nicht nach viel an, aber ich bin am höchsten Punkt Belgiens. Und deshalb ist es nicht nur eiskalt, sondern auch extrem windig. Im Frühjahr hatte ich die dicke Jacke, Mütze und Handschuhe übermütig in Kanada zurückgelassen, weil ich dachte, dass es in Europa niemals so kalt werden würde. Dafür schlottere ich jetzt wie am Nordpol. Bald werden die Hände rot, die Finger frieren ein, und ich kann den Kugelschreiber kaum mehr halten, geschweige denn leserlich schreiben.
Auf einer Aussichtsplattform steht ein deutlich besser ausgestatteter und in Wolle einpackter Mann, der nach Vögeln Ausschau hält. Sogar seine Ferngläser sind besser gegen den Wind geschützt als ich.

„Heute ist kein guter Tag“, erklärt er. Ein schlechtes Omen. „Die letzten Tage hatten wir zu viel Westwind. Jetzt fliegen die Vögel über die Eifel. Aber am Donnerstag haben wir hier 12.000 Kraniche gesehen.“ Die Vögel sind nämlich schlauer, die ziehen jetzt in den Süden.
Als der Ornithologe hört, dass ich zum ersten Mal im Hohen Venn bin, geht er mit mir zur nächsten Holztafel mit Wanderkarte, auch auf die Gefahr hin, Tausende von Vögeln zu verpassen. Er empfiehlt eine Umrundung des Kerngebiets des Hohen Venn. „Sie sind ja gut zu Fuß“, schätzt er mich richtig ein und übersieht großzügig meinen unzureichenden Schutz gegen die beissende Kälte.
Eigentlich wollte ich ganz woanders hin, aber: „Auf diesem Weg bekommen Sie den besten Eindruck vom Venn.“ Der Begriff kommt vom niederländischen Wort für Moor, und das Hohe Venn ist naheliegenderweise ein Hochmoor. Diese sind bekanntlich noch gefährlicher als Tiefmoore, so wie der Sturz aus einem Hochhaus tödlicher ist als der Sturz in der Tiefgarage.

Da der Vogelmann anscheinend öfter hier ist, erkundige ich mich nach der besten Zeit für Wanderungen. „Jetzt ist es eigentlich am schönsten“, antwortet er, während ich vor Kälte bibbernd auf nebelverhangene Wiesen blicke. „Im Frühjahr ist zu viel gesperrt. Im Sommer herrscht Brandgefahr. Jetzt im Spätherbst sieht das Venn so aus, wie es sein soll.“
Ich ändere meinen Tagesplan, denn wer weiß, wohin wieviele Vögel an welchem Tag fliegen, der kennt auch die besten Wanderwege.
Besonders farbenfroh ist die Landschaft nicht. Vielleicht ziehen die Vögel nur aus Langeweile nach Sizilien oder Marokko.




Nur die Aasgeier können eigentlich hier bleiben. Immer wieder stoße ich auf Kreuze, die von Wanderern berichten, die erfroren sind, erschossen wurden oder deren Skelette im Sumpf stecken.




Letzteres Kreuz gilt den Verlobten Maria Solheid und François Reiff, die im Januar 1871 alle Warnungen in den Wind schlugen und sich mit unzureichender Kleidung auf den Weg durch das Hohe Venn machten. Der Plan kommt mir bekannt vor. Die Leichen der beiden wurden erst im März 1871, nach der Schneeschmelze, gefunden.
Auf der Informationstafel am Kreuz der Verlobten steht: „Im Notfall rufen Sie die Nr 112 an. Um Ihre genaue Position anzugeben, teilen Sie die RVP-Nr 430007 mit.“ Alles sehr organisiert und durchdacht, aber das Handy hat keinen Empfang.
Ich in mir nicht sicher, ob ich die Verlobtenstory glaube, denn das Kreuz steht verdächtig nah am Grenzstein Nr. 151, auf dessen einer Seite ein großes B für Belgien und auf der anderen ein großes P für Preussen steht. Vielleicht waren es Schmuggler? Oder Spione?


Die kaum bewohnte Landschaft bot sich schon immer für Grenzen an, zwischen den Fürstentümern von Lüttich und Stavelot-Malmedy, zwischen den Herzogtümern von Luxemburg, Limburg und Jülich, zwischen den Niederlanden und Preussen, dann zwischen Belgien und Preussen und schließlich zwischen Belgien und Deutschland.
Geschmuggelt wird dank der Europäischen Zollunion nicht mehr, aber im Moor versinken kann man noch immer.

Ich passe also ein bisschen besser auf als sonst und gucke mehr auf den Boden als in den grauen Himmel. An besonders gefährlichen Stellen sind Holzstege verlegt, flankiert von selbst bereits versinkenden und verfallenden Wegen. Zwei Arbeiter bessern den aktuellen Weg aus und erklären mir, dass besonders beim großen Feuer im April 2011 viele Pfade zerstört wurden. Gut, dass ich gerade keine Zigarre im Mund habe, als ich ihnen begegne.





Gearbeitet wird übrigens nicht nur an den Wegen. Die ganze Landschaft wurde umgestaltet, um sie (wieder) sumpfig zu machen. Zwischen 2007 und 2012 wurden etwa 3000 Hektar renaturiert. Fichten wurden abgeholzt. Die oberste Bodenschicht wurde abgetragen, damit wieder Heidekräuter wachsen. Alte Moore wurden wiedervernässt. Man fühlt sich ein bisschen wie auf einer Baustelle, nicht wie in der Natur. Aber was ist schon Natur? Vor 2000 Jahren war die Gegend mit Wald bedeckt, und erst ab dem Mittelalter führte die agropastorale Bewirtschaftung zu einer Heidelandschaft. Das so enstandene Moor wurde später entwässert, um Torf zu stechen. Renaturierung ist also meist das Herstellen eines willkürlich aus der Zeit gegriffenen Zustands, keinesfalls aber eines natürlichen Urzustandes.
Der Rundweg von mehreren Stunden verläuft ereignislos. Keine Moorleichen. Keine Irrlichter. Und dem Hund von Baskerville ist das Betreten sowieso verboten.

Wandern ist zwar nicht ganz verboten, aber durch die Holzplanken ist der Weg ziemlich vorgegeben. Für ansonsten Orientierungslose mag das hilfreich sein. Ich selbst, der ich gerne wild wandere, fühle mich dabei zu sehr geführt, geleitet, wie ein Zug auf Schienen.
Ohne wirklich eine andere Wahl zu haben, lande ich so an der Baraque Michel, wieder an der Hauptstraße durch das Hohe Venn. Das Haus stand allerdings schon lange vor der Straße. Damals war das Hohe Venn noch wirklich gefährlich. 1794 versank beinahe ein Michael Schmitz und gelobte für den Fall seines Überlebens, dass er sich um die Errettung von Mooropfern kümmern wolle. Er überlebte tatsächlich und baute eine einfache Behausung, die Baraque Michel genannt wurde. Seine Kinder setzten die Arbeit fort, und im Laufe der Zeit wurden mehr als hundert Menschen gerettet. Durch Spenden von Geretteten wurde das Haus immer größer, und mit dem Geld wich die Barmherzigkeit dem Kapitalismus. Verirrte Wanderer werden jetzt nicht mehr gerettet, sondern um 28 € für ein flambiertes Hirschkalbsteak mit Cognac- und Sahnesoße erleichtert.
An der Fischbach-Kapelle erkennt man noch, dass es neben dem Glockenturm auch einen Leuchtturm gab, beides zur Orientierung gedacht.

Weniger optimistische oder leidensfähigere Zeitgenossen würden den Tag jetzt abschließen. Es ist kalt, es ist grau, es ist Mittagszeit, und von hier fährt der Bus zurück nach Eupen. Ich hingegen mache mich an den ursprünglichen Plan, die westliche Hälfte des Naturparks zu erkunden und vage nach Süden, gen Malmedy, zu wandern.
Und siehe da: Die Sonne tritt hervor. Es wird warm. Es wird grün und blau und rot und gelb. Die Bächlein blubbern glücklich. Die Zigarre erglimmt fröhlich. Die Hasen und Rehe tanzen auf den Wiesen. Der Autor springt von Stein zu Stein, um nicht zu versinken.






Das alles hätte ich verpasst, wenn ich nach dem miesen Vormittag die Flinte ins Korn geworfen hätte. Wer will, kann daraus irgendeine Lehre ziehen.
Apropos Flinte: Für Donnerstag ist eine Jagd angekündigt.

So funktioniert also die natürliche Auslese. Tiere, die lesen können und einen Terminkalender haben, fahren an diesem Tag in den Urlaub. Die anderen landen in der Baraque Michel auf dem Teller.
Irgendwo im Wald steht ein verwittertes Holzschild, das den Weg zur Burg Reinhardstein weist. Weil ich sowieso nicht mehr weiß, ob ich auf dem richtigen Pfad nach Malmedy bin, begeistere ich mich spontan für die Burg. Vorbei an einem zugewachsenen Bachlauf geht es immer nach oben, bis ich einen Abhang hinaufklettern muss, der so steil und gerodet ist, dass ein falscher Schritt das komplette Zurückpurzeln und den Sturz in den Bach bedeuten würde. Eine Burg kann ich nirgendwo erkennen.
Erschöpft setze ich mich auf einen Baumstumpf, zünde eine Zigarre an und sauge Sonnenschein und Tabakschmauch auf. Und da erblicke ich sie auf der anderen Seite der Schlucht: die Burg Reinhardstein, ursprünglich aus dem Jahr 1354. Ganz bombastisch thront sie über dem Tal, im herbstfarbenen Kleid.


Gerne würde ich mir die Burg näher ansehen, die Neugier der Leser im Hinterkopf, aber je näher ich schleiche, umso mehr Schreie ertönen, einer schrecklicher als der andere. Und noch schlimmer: Es sind Kinderschreie! Wahrscheinlich die Haimonskinder, die sich noch immer vor den Häschern Karls des Grausamen verstecken.

Durch den schon dunkel gewordenen Wald nehme ich reißaus, voller Panik. Dafür kenne ich jetzt die schönsten Orte im Hohen Venn. Das Geheimnis werde ich hüten wie das Venn die seinen.
Praktische Tipps:
- Von Eupen fährt der TEC-Bus 394 durchs Hohe Venn. Aussteigen könnt Ihr z.B. bei der Baraque Michel oder am Signal de Botrange. Eine Fahrt kostet 3,50 €.
- Auch per Anhalter kommt man in Ostbelgien gut voran.
- Für Radfahrer ist der Vennbahn-Radweg interessant. Auf 125 km könnt Ihr von Aachen über Belgien nach Luxemburg radeln. Die Strecke führt entlang einer alten Bahntrasse und auch durchs Hohe Venn.
- Auch der „Weg des Gedenkens“, ein Geschichtswanderweg, führt durchs Hohe Venn. Die 96 km sollte ich mir als Geschichtsstudent eigentlich mal gönnen.
Links:
- Richtig tolle Fotos findet Ihr in dem Buch Der Vennläufer.
- Mehr Artikel aus Belgien.
- Weitere Wanderungen.
Da bin ich mit meinem Mann auch schon mal schön entlang gewandert. Tolle Fotos 😊
Dankeschön!
Und du warst auch schon fast überall. 😉
Naja, laut TripAdvisor habe ich 16% der Welt besucht…
Wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen nicht einmal 16% ihres eigenes Landes kennen, ist das wahrscheinlich internettypisch sensationalisierend hoch gegriffen.
Jedenfalls muss ich die Zeit gut nutzen, um die angestrebten 50 % zu erreichen 😊
Bild N6 🙂
Oh, ich sehe, bei dir tanzen sogar die Bäume, nicht nur die Rehe und Hasen!
Und wenn man jeden Baum in der Umgebung persönlich kennt, dann ist es höchste Zeit, woanders hinzuziehen. 😉
Und noch eine Idee: Wenn du so gut fotografierst, wieso kommst du das nächste Mal nicht mit? Dann kann ich die Hände in den Taschen behalten und friere nicht so schlimm.
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