Halbmarathon in den Bergen

Bei der Eintragung für den Halbmarathon weist mich eine freundliche Dame auf die Zeitumstellung am morgigen 26. Oktober, dem Tag des Laufs, hin. Ich hätte das übersehen. Mein erster Gedanke: „Wie doof, einen Marathon am Tag der Zeitumstellung anzusetzen.“ Erst nach längerem Nachrechnen bemerke ich, dass dies eine Stunde mehr Schlaf bedeutet, was nicht die schlechteste Vorbereitung für einen 21-km-Lauf ist.

Vor meinem Hotel in Podgorica steht ein Reisebus aus Slowenien. „Alles Marathonläufer“ erklärt die Rezeptionistin. Das Hotelrestaurant ist trotzdem leer. Gesundheitsfanatikern am Abend vor ihrem großen Lauf kann man keine Cevapcici oder Beefsteaks andrehen. Ich gönne mir ein Gulasch. Aufgrund des Habitus des Kellners würde ich jede Wette eingehen, dass er früher Feldwebel in der jugoslawischen Armee war.

Die Halbmarathonstrecke geht von Danilovgrad nach Podgorica. Mit dem Bus werden wir Läufer nach Danilovgrad gekarrt, und je länger der Bus auf den Bergstraßen unterwegs ist, desto wahnsinniger erscheint mir mein Vorhaben.

In Danilovgrad versammeln sich die Läufer unter einem Partisanendenkmal im Park. Aufputschende Musik plärrt aus einer Box und heizt anscheinend zu besonders energischem Aufwärmen an: Läufer dehnen sich, strecken sich, hüpfen, recken ihre Beine in die Höhe, drehen sich, beugen sich. Ich spaziere durch den Park, die Hände in den Hosentaschen. Ein Langstreckenlauf ist eine psychologische Angelegenheit. Dafür muß ich mich nicht aufwärmen.

Ein älterer Läufer aus Tirana mit gedrungener Statur bittet mich, ein Foto von ihm zu machen. Aus dem Bund seiner kurzen Turnhose zieht er dafür eine albanische Flagge. Der doppelköpfige Adler auf rotem Grund dürfte in Montenegro auch im übertragenen Sinn ein rotes Tuch für Manche sein. Ein erheblicher Teil der Montenegriner identifiziert sich als Serben. Der fahnenschwenkende Albaner beklagt sich noch darüber, dass in Danilovgrad so viele Nationalisten seien (Podgorica sei aber in Ordnung). Ich persönlich finde Leute, die Fahnen mit sich herumtragen nationalistischer als Städte, die eine internationale Sportveranstaltung austragen.

Noch viel mehr wundere ich mich darüber, wieviel nutzloses Zeug Menschen auf einem Langstreckenlauf bei sich tragen. All die Mobiltelefone, Fotoapparate, Herzfrequenzmesser (die die gewonnenen Daten wahrscheinlich sogleich über einen Satelliten an das Handy in der anderen Hosentasche zurückübertragen, im Internet publizieren und eine Kopie an die NSA schicken) müssen beim Laufen doch stören. Ich trage dieses Mal nicht einmal eine Uhr. Mal sehen, ob ich so meine angestrebte Zeit von 2 Stunden einhalten kann.

Die rhythmischen Beats wurden mittlerweile abgelöst durch die Verlesung der Namen der Läufer, jeweils mit Herkunftsort und -land. Zusammen mit naturgemäß vielen Läufern aus Montenegro sind 90% der Partizipanten aus Staaten, die bis 1991 in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien vereint waren: Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, und die Läufer aus Priština werden mit dem Herkunftsland Kosovo bezeichnet. Montenegro, das sich 2006 nach einem äußerst knappen Referendum (2037 Stimmen gaben den Ausschlag) von Serbien losgesagt hatte, hat hier ein wesentlich entspannteres Verhältnis als der große serbische Bruder.

Hinter dem Pult im Stadtpark stehen mittlerweile zehn Politiker und Sportfunktionäre und geben ein Grußwort nach dem anderen. In eine der Reden knallt ein lauter Schuss. Ein Attentat? Nein, es ist 10 Uhr. Die Läufer traben los, die Worte des Vorsitzenden des Stadtrats oder des montenegrinischen Komitees zur Förderung des Breitensports ignorierend.

Um nicht zu schnell loszulegen, suche ich mir Läufer als Schrittmacher, die ebenso unprofessionell aussehen wie ich bzw. ebenso wenig Ehrgeiz versprühen. Mit jedem Kilometer arbeite ich mich aber weiter nach vorne im Feld.

Danilovgrad-Podgorica mapDas Höhenprofil in der Ausschreibung sah unspektakulär aus, aber es geht immer leicht bergauf. Ich hätte es ja ahnen können, dass ein Halbmarathon in einem Land, dessen Name das Wort für „Berg“ erhält und in einer Stadt, die das serbokroatische Wort für Hügel („gorica“) im Namen führt, ein anstrengendes Unterfangen ist. Auch im Spätoktober scheint die Sonne noch kräftig. Wann immer der Wind (noch kräftiger) auftritt, kommt er von vorne.

Den anderen Läufern fält es nicht leichter, so dass ich weiter einen um den anderen hinter mir lasse. Besonderer Stolz erfüllt mich, als ich zwei Soldaten der montenegrinischen Armee überhole. Diese zwei Soldaten stellen immerhin fast 1 ‰ der Streitkräfte des Landes, das von nur 2094 Soldaten verteidigt wird. Hoffentlich erfährt Putin das nicht, sonst wird gleich ein Teil des Landes abgezwackt. Vorzugsweise die Küstenregion, wo sich russische Million- und Milliardäre schon mit Immobilien und Anlegeplätzen für Yachten eingedeckt haben.

Sind die russischen Läufer schon die Vorhut? Mehr Angst hatten die Behörden aber vor den traditionell guten und schnellen Läufern aus Afrika. 35 von ihnen wurde das Visum zur Einreise nach Montenegro verweigert, aus Angst vor Ebola. Nur bereits in Europa residierende Afrikaner wurden zugelassen. Mich und die anderen europäischen Läufer hat niemand nach Gesundheitszustand oder Reisehistorie befragt, so dass das Vorgehen gleichermaßen inkonsequent wie diskriminierend erscheint. Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann? Das Land der schwarzen Berge.

Apropos Berge: Die Aussicht auf Berge beflügelt. Normalerweise ist ein Langstreckenlauf eine Qual, aber dieser kam mir vor wie ein etwas zu schneller Spaziergang, und das lag nur an der Umgebung. Berge, wohin man sah. Der Fluß Zeta schlängelt sich türkisgrün in einer tiefen Schlucht neben der Straße. Kleine Dörfer mit Kühen, Hühnern und friedlichen Hunden. Für ein paar Sekunden trabt ein Pferd auf der Weide neben mir her.

Natürlich hatte ich beim Laufen keine Kamera dabei. Das Foto machte ich später, aus dem Zug.

Natürlich hatte ich beim Laufen keine Kamera dabei. Das Foto machte ich später vom Zug aus.

Die Einfahrt jedes noch so kleinen Feldwegs wird von einem Polizisten bewacht. Davon hat Montenegro anscheinend wesentlich mehr als Soldaten.

Erst auf den letzten Kilometern geht es in die Stadt Podgorica. Das Feld hat sich mittlerweile so weit auseinander gezogen, dass ich teilweise gar keine Läufer mehr vor mir sehe oder hinter mir höre. An einer Kreuzung muss ich innehalten, um den den Verkehr regelnden Polizisten nach dem Weg zu fragen. Ich fühle mich noch einigermaßen fit, verspüre Reserven. Jetzt kann es nicht mehr weit sein, also lege ich einen Zahn zu. Tausendmeterlauftempo.

Bei der Hauptpost biege ich ein letztes Mal um die Ecke. Jetzt sehe ich den Zieleinlauf. Noch ein paar Hundert Meter. Die große Digitaluhr neben der Ziellinie steht bei 1:59:40 und tickt mit jedem Schritt auf die Marke von zwei Stunden zu. Ich bin vollkommen baff, wie ich das ohne jeden Zeitmesser so genau hinbekommen habe. 1:59:45, noch bin ich nicht im Ziel. Jetzt Spurttempo, mit den angewinkelten Armen noch das Letzte rausholen, zum ersten Mal heute spüre ich meine physische Grenze, gehe darüber hinaus, aber nur für ein paar Sekunden. Bei 1:59:56 bin ich im Ziel. Das war knapp.

Gewonnen haben dann übrigens doch die Kenianer.

Da ich nicht gewann, kam ich leider mit keiner der Damen ins Gespräch.

Da ich nicht gewann, kam ich leider mit keiner der Damen ins Gespräch.

(To the English version of this article.)

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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