Cetinje, einstmals Hauptstadt des Königreichs Montenegro

Die ehemalige britische Botschaft beherbergt die Musikschule. Ein Streichquartett tönt aus den offenen Fenstern der Vorderseite. Die umliegenden Straßencafés verzichten auf eigene Musik.

British embassy

Von der rückwärtigen Seite höre ich auf dem Weg in den Dvorski-Park ein Blasinstrument. Bei der Entscheidung, wer zur Fußgängerzone hin spielen darf, hat die Musikschule die richtige Wahl getroffen.

Dvorski Park Cetinje

Am König-Nikola-Platz ertönt laute Rockmusik, nicht aus dem Straßencafé, sondern vom Schmied nebenan. Auf seinen Amboss schlägt er im Takt zu „I can’t get no satisfaction“. Mit seinem üppigen Bart könnte er bei ZZ Top anheuern (falls es die noch gibt).

Ich bin in Cetinje, einer Kleinstadt (17.000 Einwohner) in den Bergen Montenegros. Cetinje war jedoch viel wichtiger, als es noch kleiner war. Seit dem 15. Jahrhundert war es Hauptstadt, und mit der internationalen Anerkennung zuerst des Fürstentums 1878 und dann des Königreichs Montenegro 1910 siedelten sich die Botschaften der damaligen europäischen Großmächte an. So gibt es Botschaften des Deutschen Reichs, Russlands, Italiens, Frankreichs, Serbiens, Bulgariens, Österreich-Ungarns, die erwähnte britische Botschaft u.s.w. Dabei hatte die Stadt damals nur 2.500 Einwohner.

Mit dem Ende der Unabhängigkeit Montenegros nach dem Ersten Weltkrieg war es dann vorbei mit der Bedeutung der Stadt in den Bergen. Der Präsident residiert zwar seit 1992 wieder hier, aber das allein bringt kein Hauptstadtflair. Sein Palast wird von zwei Wachen geschützt, die den örtlichen Spaziergängern Grüße zuwerfen, wenn diese im Gradski-Park spazierengehen. Hier kennt man sich.

palace president Montenegro

Als ich in der Fußgängerzone, die man eigentlich nicht bräuchte, weil in der ganzen Stadt kaum Verkehr herrscht,

Fussgängerzone 3

ein kleines, altes Haus mit einer schönen Holztüre fotografiere,

altes Haus Fussgängerzone

kommt eine Dame auf mich zu und fragt, ob ich Italienisch spräche. Ja, tue ich, zumindest ein bißchen. Sie erzählt mir die Geschichte des Hauses (ein Adeliger, der überall in Europa war, erwählte Cetinje zum Ort für seinen Lebensabend), zählt die in der Stadt noch verbleibenden Botschaftsgebäude auf (das russische sei am fotogensten, empfiehlt sie), gibt mir Tips für die weitere Reise (wie jeder Montenegriner viel zu viele für eine Woche), erklärt dass sie hier im Kulturministerium arbeite und beklagt sich dann über die knappen Mittel, sowohl für ihr Ministerium als auch für sich selbst. Wird mich die Kulturministerin noch um eine Spende anhauen?

Sicherheitshalber ziehe ich weiter zur ältesten Kirche am Ort, der Vlaška-Kirche.

Vlaska1

Die herbstlichen Farben und die Mittagssonne laden fast zu einem Picknick zwischen den Grabsteinen und -kreuzen ein.

Vlaska2

Ein alter Mann steht im Eingang der kleinen Kirche und ruft mich freundlich heran. Sein Gesicht ist von einem Unfall schrecklich entstellt, aber die Freundlichkeit ist dennoch nicht zu übersehen. Er begrüßt mich mit Handschlag und fragt, ob ich Französisch spräche. Wahrlich ein polyglotter Ort, dieser entlegene Ort. Er berechnet 3 Euro dafür, dass er das Licht in der Kirche anschaltet, was ich eigentlich nicht benötigt hätte. Dafür gibt er mir zum Abschied ein Mentholbonbon.

Vlaska3

Ich laufe durch das, was in anderen Hauptstädten Diplomatenviertel hieße, aber hier die gesamte Altstadt ausmacht. Die österreichisch-ungarische Botschaft sieht aus wie eine Burg,

Austrian embassy

die italienische hat einen Garten, der größer ist als alle Parks der Stadt zusammen,

Italian embassy garden

und die französische Botschaft zeigt sich im Jugendstil.

French embassy door

Die russische Botschaft, das einzige der Gebäude, das so verwaist aussieht, dass ich es betrete und von innen erkunde, hat einen eigenen Artikel verdient. Hundert Jahre ist es her, aber in dem vermodernden Ballsaal wird die Geschichte lebendig.

Russian embassy top floor 2

Auf dem Rückweg treffe ich wieder die Frau vom Kulturministerium, die von ihrer Mittagspause zurückkommt. Groß ist die Stadt wirklich nicht.

Selbst der königliche Palast sieht sympathisch bescheiden aus. Da kenne ich unter meinen Anwalts-, Arzt- und Architektenfreunden durchaus einige Nichtkönige mit protzigeren Häusern.

Königspalast

Vielleicht ahnte König Nikola auch schon, dass sein Königreich nur acht Jahre bestehen würde, davon die letzten beiden unter österreichisch-ungarischer Besatzung von 1916 bis 1918. Dafür rentiert sich kein Neuschwanstein oder Versailles. Das relativ unspektakuläre Schloss mag dazu beitragen, dass die Familie Petrović, die jetzt in Paris lebt, keinerlei politische oder auch nur kompensatorische Ansprüche erhebt.

Aber auch das Gegenteil von Bescheidenheit gab es in der bewegten Geschichte Cetinjes. Von 1767 bis zu seiner Ermordung 1773 regierte hier der Zar, der keiner war. Dem auch als Stefan der Kleine bekannten Kräutersammler war im Kloster in Maine ein Gemälde des russischen Zaren Peter III. und seine eigene Ähnlichkeit mit diesem aufgefallen. Dies und die Tatsache, dass die Stelle gerade frei war, nutzte er, um sich bei den Montenegrinern als Zar Peter III. vorzustellen und den Thron zu besteigen.

Diese Geschichte ist umso dreister, als Zar Peter III. zum Zeitpunkt dieser Imitation und Usurpation schon fünf Jahre lang tot war. In Cetinje stand die erste Druckerei im südslawischen Raum (ab 1485), so dass man erwartet hätte, dass die Nachrichten aus Russland auch in Montenegro verbreitet worden wären. Vielleicht war es Unzufriedenheit mit der damaligen Tageszeitung, weshalb die ursprüngliche Druckerei nicht überlebt hat und an deren Stelle heute die Kirche der jungfräulichen Gebirt steht. In dieser kleinen Kirche, die unter den herbstlich bemalten Bäumen besonders liebenswürdig aussieht, ruhen König Nikola I. und seine Frau.

Grabkirche1
Grabkirche2
Grabkirche3

Noch scheint die Sonne, aber es ist November und Cetinje ist von Bergen umgeben, hinter denen die Sonne noch eher als anderswo untergehen wird. Ich muss mich entscheiden, ob ich die verbleibenden zwei Stunden im Kloster verbringe, das den lebenden Metropoliten und die tote Hand Johannes des Täufers beherbergt,

Kloster

oder ob ich auf den Adlerfelsen mit dem Mausoleum des Metropoliten Danilo steige.

Adlerfelsen

Wer mich kennt, weiß dass der Berg gewinnt. Eine unerwartete und interessante Begegnung auf dem Gipfel wird mir Recht geben.

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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6 Antworten zu Cetinje, einstmals Hauptstadt des Königreichs Montenegro

  1. peregrina schreibt:

    es sind sehr gute fotos des einstigen konigSreich montenegro…

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