Frühling im Dezember

Montagmorgen. Gut geruht und voller Energie und Tatendrang wache ich um 6 Uhr auf. Die Aufgabenliste für den Tag ist lang. Eine Kindesunterhaltsberechnung unter Berücksichtigung der portugiesischen Kaufkraftparität. Themensuche für ein Seminar zur Forstwirtschaft im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Beantworten der vielen Zuschriften, die mich nach meinem Artikel über Chemnitz überwältigt haben. Ein komplizierter internationaler Versorgungsausgleich. Die grobe Jahresplanung für 1924 für meine kleine Geschichtsreihe. Die Pflegschaft für ein ukrainisches Kind, dessen Vater unerreichbar unter russischer Besatzung lebt.

Nur noch einen Blick in die Zeitung, bevor ich loslege, um die Welt ein bisschen gerechter zu machen.

Was lese ich da? Die Wettervorhersage kündigt Sonnenschein, milde Temperaturen und den schönsten Tag der Woche an.

Spontan packe ich einen kleinen Rucksack, laufe zum Bahnhof und springe – gelobt sei das Deutschlandticket – in den ersten Zug, der abfährt. Nach Olbernhau-Grünthal geht er, und ich habe keine Ahnung, wo das ist.

Einen Plan habe ich auch nicht, außer dass ich die Sonne lieber in der Natur als vom Schreibtisch aus genießen will. Flöha, Falkenau, Hetzdorf. Ein wunderbares Viadukt, das ich leider zu spät erblicke. Aber es ist vorgemerkt für die nächste Wanderung.

Hohenfichte, Leubsdorf, Grünhainichen-Borstendorf, Floßmühle. Orte der Industriekultur, die ebenfalls eine Erkundung wert wären. Alle romantisch gelegen an der Flöha.

Aber dann erblicke ich knapp rechtzeitig vor dem Halt in Lengefeld-Rauenstein eine Burg und springe aus dem Zug, so dass ich niemals wissen werde, was eigentlich in Olbernhau-Grünthal wartet. Aber so eine Burg ist für meine heutigen Zwecke ein guter Ausgangsort.

Weil die Burg am Westufer der Flöha liegt, steige ich die Anhöhe am Ostufer hinauf. Das mag kontraintuitiv klingen, aber so hat man einen viel besseren Blick.

Und dann passiert, was meist an solchen Tagen passiert: Ich erblicke eine Wanderkarte, einen Wegweiser oder einen sonstigen Hinweis, der mich zum nächsten Ziel führt. Einem Ziel, von dessen Existenz ich bei der Abfahrt am Morgen noch gar nicht wusste. Heute ist es die Talsperre Saidenbach. Ein Wanderweg führt einmal rundherum, und ich habe gerade nichts Besseres zu tun. (Beziehungsweise ich hätte eine Menge zu tun, wie ich eingangs geschildert habe, aber Natur kuriert mich blitzschnell und effektiv von jeglichem Pflicht- oder Verantwortungsgefühl.)

Es ist so wunderbar sonnig und warm, dass man schon vor Weihnachten denkt, der Frühling hätte begonnen. Und wegen des vielen Wassers fühlt man sich wie in Schweden, in Kanada oder in Müggelheim.

Man muss für diese Wanderung nicht einmal Getränke einpacken, denn die Talsperre dient schließlich der Gewinnung von Trinkwasser. Es sieht absolut klar aus, und schmeckt einwandfrei.

Nur ein Buch und Zigarren muss man selbst mitbringen, dann steht dem gelungenen Tag absolut nichts mehr im Weg.

Mindestens einmal in der Woche muss so ein Tag sein. Das sei insbesondere jetzt, wo Menschen nach kreativen Neujahrsvorsätzen suchen, ins Gedächtnis gerufen.

Praktische Tipps:

  • Wenn Ihr die Saidenbach-Talsperre umrunden wollt, ignoriert am besten den offiziellen Wanderweg, denn der führt oft sehr weit vom Ufer weg. Stattdessen den Pfad suchen, der immer in Ufernähe verläuft.
  • Bitte nicht in die Natur pinkeln! Das ist das Wasser, das bei mir zuhause aus der Leitung kommt.
  • Ich habe es nur vom Zug aus gesehen, aber ich glaube, das Flöhatal ist auch eine Wanderung wert.

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About Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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10 Responses to Frühling im Dezember

  1. Avatar von Majik Majik sagt:

    Your instructions about NOT peeing in nature reminded me of what our late great W.C. Fields once said about why he never drinks water, „because fish f**k in it!“ Ha! Go ahead and pee if you have to. It all gets chemically treated before hitting your tap, I’d hope! Frohe Weinachten, Andreas! https://youtu.be/tflkVVJL-PA?si=gyYytrB4hlTWR8wz

    • There were some fishermen around the lake, so there must be some fish in it indeed.
      I was surprised because I thought fish don’t like super clean water. But then, I am not a fish expert by any means.

  2. Avatar von danysobeida danysobeida sagt:

    Un lugar hermoso! Que envidia tengo.
    Sabias que la urbe de Buenos Aires recicla el agua que usan sus ciudadanos, la trata y la vuelven a consumir? Ahora tengo nauseas.

    • Pues, todo el ciclo global del agua es reciclaje, no?

    • Avatar von danysobeida danysobeida sagt:

      Así es, sin embargo el ciclo de reciclaje natural resulta un proceso mas sano. En el presente son privilegiadas las poblaciones que consumen agua potable de primera mano(resultado del proceso natural), en poco tiempo nos acabaremos las reservas subterráneas y dependeremos mucho mas de los procesos de reciclaje de segunda o realizados por el hombre.

  3. Avatar von Kasia Kasia sagt:

    Bei den Selbstportraits musste ich schmunzeln. Wenn das so ablief wie bei mir: Handy richtig positionieren… uah, Handy wackelt… Handy fällt um. Handy nochmal positionieren… Selbstauslöser stellen… schnell, schnell zum Baum hechten, entspannte Pose, schlafend stellen… ein Auge auf… hat das Ding schon geknipst? Ah ja, okay. Aufstehen, zurück watscheln. Ergebnis begutachten. Vorgang weitere drei- bis fünfmal wiederholen 🙂

    Ansonsten, eine wirklich schöne Gegend. Bei so tollem Wetter wäre ich auch nicht zu Hause geblieben, denn wer weiß, wann ein solcher Tag wieder kommt. Die Pflichten hingegen, die laufen dir nicht weg, unter Garantie nicht… 🙂

    • Es war tatsächlich der einzige schöne Tag in der Woche, schon danach waren wieder arktische Temperaturen, eisiger Wind, und graue Deprifarben.

      Das mit dem Selbstauslöser ging ganz flott: Da war ein Baumstumpf mit glatter Oberfläche. Ich habe eine Kamera, kein Handy, so dass sie dort gut steht.
      Und dann mache ich zwei Fotos, und wenn die nichts werden, gebe ich auf. (Deshalb gibt es von vielen Ausflügen keine Selfies.)
      Und es war wirklich so warm, dass die Gefahr des Einschlafens bestand!

    • Avatar von Kasia Kasia sagt:

      So einen tollen Tag hat es hier am Montag gegeben, einen Tag vor meinem Urlaub. Kaum hatte ich frei, fing es an zu regnen und es regnet bis jetzt durch. Man muss das Wetter nutzen, wie es kommt 🙂

    • Von November bis Februar sollte jeder sonnige Tag per Gesetz arbeitsfrei sein.

  4. Avatar von Chrisamar Chrisamar sagt:

    Wunderschön
    und Frohe Festtage!

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