Auf nach Westen

ferry into sunset17. Juli 2014. In der albanischen Hafenstadt Vlora (wobei albanisch hier nur eine geographische Bezeichnung ist, denn Vlora ist eher eine typische Mittelmeer-Tourismus-Hafenstadt, die so auch in Italien oder in der Türkei liegen könnte) bin ich an Bord einer etwas älteren und nicht zu großen Fähre gegangen, um nach Brindisi in Italien überzusetzen. Einige Stunden auf heute absolut ruhiger See stehen mir bevor.

Das Ablegen verzögert sich um eine Stunde, wohl auch weil etwas zu viele Autos in die Fähre drängen. Manche müssen wieder rückwärts rausrangieren, um Platz für andere zu machen und um den Stauraum optimal auszunutzen. Die Einweiser spielen Tetris mit Wohnmobilen und Kombis. Erst später beim Aussteigen werde ich das Ergebnis sehen: einige Autos sind quer geparkt, und alle stehen so dicht aneinander, daß manche Fahrer nur durch die Dachluke ausgestiegen sein können.

Wirklich überladen ist die Fähre dennoch nicht. Es sind noch ausreichend Tische und bequeme Sessel frei. Das Restaurant ist fast vollkommen leer. Mich zieht es aber an die frische Luft. Noch für ein paar Stunden Sonne, Wind und Meer genießen bevor ich nach zwei Wochen Urlaub wieder an Schreibtisch und Computer muß.

Sazan view from ferryDie Fähre liegt noch im Hafen, aber meine Grundkenntnisse interstellarer Konstellationen sagen mir, daß, wenn wir auf der Nordhalbkugel nach Westen fahren, mittags die Sonne von backbord kommt. Also mache ich mich steuerbord auf einem Zwischendeck breit. Anfangs erwischt mich hier zwar noch die pralle Sonne, aber nachdem wir den Hafen von Vlora verlassen und an der ausschließlich militärisch genutzen Insel Sazan vorbeituckern, hat sich ein wohltuender Schatten über mich gelegt. Nur meine von den Turnschuhen befreiten und breit ausgestreckten Füße werden von der Sonne erreicht. Ich zünde mir eine erste Zigarre an; mein Rucksack dient als Kopfkissen. So läßt sich reisen. Ich verstehe nicht, wieso jemand Geld für eine Kabine verschwendet.

Rückblende. Vage Erinnerungen an die Fernsehnachrichten von damals, jetzt anläßlich der Albanien-Reise aufgefrischt. 1991, unter anderem auf genau dieser Strecke von Vlora nach Brindisi, aber auch von Durrës nach Bari, waren Boote unterwegs, auf denen kein Auto Platz gefunden hätte, auf denen sich niemand so ausstrecken konnte, wie ich es jetzt tue. Die Schiffe damals waren gepackt voll. Übervoll. Albanien war in der Umbruchphase nach Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur, die Zukunft war höchst unsicher. Viele Albaner befürchteten eine gewaltsame Reaktion der Regierung gegen das rebellierende Volk. So kaperten sie in den albanischen Häfen Schiffe und zwangen die Kapitäne zur Fahrt nach Italien.

Albania 1991 refugees

Auf dem Frachtschiff Vlora befanden sich bei der Überfahrt nach Italien angeblich um die 10.000 Menschen.

Albania 1991 refugees boat

Albania 1991 refugees boat full

Zurück im Jetzt, Juli 2014. Albanien hat sich stabilisiert, es ist friedlich. Mein persönlicher Eindruck war außerordentlich positiv. Einiges, von Fremdsprachenkenntnissen bis zur Geschwindigkeit des Internets, war besser als in manchen Teilen Westeuropas. Die Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft sowieso. Seit drei Wochen ist Albanien Beitrittskandidat der Europäischen Union.

Auf der Fähre mit mir sind hauptsächlich albanische Familien, viele von ihnen leben aber schon lange in Italien und sind mittlerweile italienische Staatsbürger. In Brindisi schleppen und rollen sie riesige Koffer mit Kleidung, Nahrungsmitteln, Elektrogeräten, Büchern von Bord. Auf den Fotos von 1991 hat niemand auch nur eine kleine Tasche oder einen kleinen Rucksack.

(To the English version of this article.)

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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4 Antworten zu Auf nach Westen

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