„Die Bezirksstadt“ von Karel Poláček

Menschen, die das Glück haben, in einer Großstadt aufzuwachsen, haben zwar irgendwie eine Vorstellung davon, nicht in der Provinz leben zu wollen, aber wie groß dieses Glück ist und wie schrecklich jenes Schicksal wäre, das können sie nicht annähernd erahnen. Dafür gibt es Kleinstadtromane, wobei großstädtische Leser diese wie einen skurrilen Tagesausflug genießen können. Für mich hingegen sind sie eine erschreckende Darstellung dessen, woher man kommt, wovon man entflieht und wohin man nur zeit- und notweise zurückkehrt, wenn Obdachlosigkeit die einzige Alternative ist. Und selbst dann nur im Winter.

Man könnte meinen, dass diese Bücher am erschreckendsten sind, wenn sie aus der eigenen Gegend und Zeit stammen, wie im Fall von Thomas Klupps Wie ich fälschte, log und Gutes tat, das in Weiden in der Oberpfalz spielt. Aber nein, noch viel erschreckender sind jene, die in fernen Gefilden und Epochen spielen, weil man merkt, dass sich nichts, wirklich nichts, verändert hat.

Ein sehr gutes Beispiel dafür ist Die Bezirksstadt von Karel Poláček, einem tschechischen Autor, der bereits 1936 auf den Punkt brachte, was mich in meinem Umfeld noch heutzutage peinigt. Es geht gar nicht darum, dass ein Ort klein oder langweilig oder öde ist. Es muss auch Orte geben, wo man sich vor den Auftragskillern des FSB verstecken oder ohne Ablenkung aufs Staatsexamen lernen kann. Aber wenn man ganz dezent und gefühlsschonend, wie es meine Art ist, darauf hinweist, dass Amberg nicht Amsterdam ist, dann springen die Heimatpfleger im Dreieck. Oder wie Poláček es beschreibt:

Die Bezirksstadt, die man selbst mit der allerschärfsten Lupe vergeblich auf einer Weltkarte suchen würde, die jedoch eitel auf ihrer Einmaligkeit beharrte und niemand anderen ehrte und anerkannte als nur sich selbst.

Wie das Leben in einer Kleinstadt, so ist auch der Roman repetitiv. Immer wieder wird das gleiche Wetter beschrieben, so wie man sich mangels anderer Themen eben immer wieder über Wolken unterhält. Immer wieder bestaunt der Kaufmann Štědrý sein Haus, wie heutzutage die Kleinbürger allen Stolz aus ihren hässlichen Häuschen und den davor geparkten Kraftfahrzeugen beziehen.

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Auch die Unterhaltungen der Bürger sind floskelhaft, wiederholen sich ständig und erwartbar, so wie man bei Begegnungen mit den immer gleichen Menschen schon vorher weiß, was sie sagen und antworten werden. Der Bettler bekommt sein Geld nicht etwa, weil er arm ist, sondern nur dann, wenn er einen andressierten Spruch aufsagt. Sogar die Spießigkeit hat auf den Bettler abgefärbt, der sich das Erbettelte nicht auszugeben traut, sondern anspart. Wofür auch immer.

Die Personen sind Stereotype, könnte man meinen, weil sie meist nur mit ihrer Berufsbezeichnung genannt werden: der Wirt, der Lehrer, der Postmeister (dessen antisemitisches Verschwörungsgeschwurbel ihn heute als AfDler im Wirtshaus poltern ließe), der Handelsvertreter. Aber so ist das meiner Erfahrung nach. Der Beruf spielt überall auf der Welt eine zu bedeutende Rolle, aber wenn man vor Ort der einzige Rechtsanwalt, der einzige Metzger oder der einzige Pfarrer ist, dann wird man entsprechend eindimensional wahrgenommen. Und ohne Beruf ist man ein Nichts.

Die einzige Familie, die etwas näher geschildert wird, ist die des Kaufmanns Štědrý, und da habe ich dann nicht nur meine Heimat, wie die Zuhausegebliebenen den Flecken Erde so gerne verklärend nennen, sondern sogar meine Familie wiedererkannt. Die (Stief-)Eltern machen sich eigentlich nur zwei Sorgen um die Söhne: Dass sie der Familie „keine Schande machen“, wozu schon Fabrikarbeit, Arbeitslosigkeit oder ein abweichender Kleidungsstil genügen, und dass sie immer genug essen, wenn sie zuhause sind. Menschen werden wie Mastvieh behandelt, das dreimal täglich zu essen hat. Wenn man keinen Hunger hat, wird es als persönlicher Angriff verstanden. Und wenn man im Gasthaus isst, könnten die anderen Leute denken, dass es zuhause nicht genug zu essen gäbe, oh gar schreckliche Vorstellung!

Hier ist der Alltag so banal, dass es schon böse ist. Wer ihm jedoch entflieht, freiwillig gar in die weite Welt geht, der ist unten durch:

Er war in Russland gewesen, im Kaukasus, ja sogar bis nach Turkestan hatte er sich verirrt. Von seinen Reisen in die Bezirksstadt zurückgekehrt, war er wie ein halber Irrer empfangen worden. Die Einwohner konnten nicht begreifen, wie sich jemand in fremden Ländern herumtreiben kann, wenn er die Möglichkeit hat, schön zu Hause zu hocken.

Dennoch habe ich Die Bezirksstadt mit großem Genuss gelesen. Vielleicht lag es am Wiedererkennungseffekt, vielleicht an der bissigen aber doch liebevollen Schilderung, jedenfalls auch an der gelungenen Übersetzung von Antonín Brousek, der in einem umfangreichen Anmerkungsapparat all die Referenzen auf die Vorkriegszeit und auf tschechisch-österreichisch-ungarische Kultur ausführlich erklärt.

Und, um den Bogen zu einem versöhnlichen Abschluss hinzubekommen, so banal und langweilig die Welt 1913/14 gewesen sein mag, danach ging es erst einmal bergab in Tschechien. Wenn man an den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die deutsche Besatzung, den Holocaust (Karel Poláček starb 1945 im Konzentrationslager) und die kommunistische Diktatur denkt, dann erscheint die Zufriedenheit der Spießbürger mit ihrem friedlichen Kleinstadtleben gar nicht so abwegig. Nur dem Antisemiten hätten sie besser mal rechtzeitig eins auf die Mütze gegeben.

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Über Andreas Moser

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3 Antworten zu „Die Bezirksstadt“ von Karel Poláček

  1. sashinator schreibt:

    Ganz ausgezeichnet. Da ich ja die selbstauferlegte strenge Politik verfolge, aus jedem durchreisten Land ein Buch zu lesen, habe ich logischerweise wenig Zeit für Extrabücher. Das muss aber schon sein, glaube ich. Und wer weiß, vielleicht kommen wir ja auf dem Rückweg durch mein geliebtes Böhmen wieder durch. Auf jeden Fall Danke für den tollen Tipp.

  2. Pingback: Kyselka, Kurort für Könige, Kaiser und Kobolde | Der reisende Reporter

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