Boyan Stoyanov ist ein Alpinist aus Bulgarien, der sich zum Ziel gesetzt hat, die höchsten Gipfel aller europäischen Länder zu erklimmen. Darunter sind harte Brocken wie der Mont Blanc, der Triglav oder der Elbrus. Zum Glück besucht mich Boyan, als ich in Litauen wohne. Die höchste Erhebung des Landes ist weniger als 300 Meter hoch. Zu dieser Mission kann ich mich gerade noch aufraffen.
Es ist der 18. März 2013. Seit mehr als vier Monaten hat es fast jeden Tag geschneit, die Temperatur lag nie höher als null Grad. Entsprechend weiß und winterlich sieht es aus, als wir in einem kleinen Bus von Vilnius in Richtung Osten fahren. Die Dörfer werden immer kleiner, der Schnee immer tiefer und der Bus immer leerer.
Wir fahren bis nach Medininkai, dem letzten Dorf vor der Grenze zu Weißrussland. Hier ist das Ende der Europäischen Union, das Ende des Schengenraums. Wenn es irgendwo noch ein Überbleibsel des Eisernen Vorhangs in Europa gibt, dann liegt es 2 km von hier. Herüben die Freiheit, drüben die letzte Diktatur Europas. F-16-Kampfflugzeuge der Dänischen Luftwaffe fliegen Patrouille. Litauen hat nur ein einziges Jagdflugzeug, also greifen die NATO-Partner unterstützend ein.
Keine Wolke trübt den blauen Himmel. Die Sonne spiegelt sich in Eis und Schnee. Bilderbuchwetter. Wenn man das Gesicht direkt in die Sonne wendet, kann man auch die minus 10 Grad aushalten. Kein Mensch ist auf den Straßen. Medininkai hat nur 500 Einwohner, ein Bergsteigertourismus hat sich bisher nicht entwickelt.
Kurz nach dem Ortsausgang weist ein Schild schon den Weg: 2 km zum Aukštojo kalnas, 1 km zum Juozapinės kalnas. „Kalnas“ ist das litauische Wort sowohl für Berg als auch für Hügel. Der weitere Verlauf der Expedition wird zeigen, weshalb sich diese mehr als Tausend Jahre alte Sprache mit einem einzigen Wort für geographische Erhebungen unterschiedlicher Ausprägung zufrieden gibt.
Im Abstand von nur einem Kilometer werden wir also gleich zwei Gipfel besteigen können. Den ersten Berg, den Juozapinės, sehen wir schon:
„Was, welcher Berg?“ höre ich die enttäuschte Leserschaft aufschreien. Aber seht genau hin und Ihr erkennt ein Holzkreuz auf dem Gipfel. Nach ein paar Minuten stehen wir schon am Fuße des Berges. Hier ist er, in seiner ganzen majestätischen Größe:
Ich könnte der spürbaren Enttäuschung entgegenzuwirken versuchen, indem ich darauf hinweise, dass dies nicht der höchste Berg Litauens ist. Der Ehrlichkeit halber muss ich aber hinzufügen, dass der Juozapinės bis 2004 als höchster Berg Litauens galt und erst seitdem auf den zweiten Platz relegiert wurde.
Boyan und ich bemühen uns, den Aufstieg möglichst langsam anzugehen, um wenigstens ein bisschen was von einem gebirgigen Gefühl zu bekommen, aber für einen Bulgaren und einen Bayern ist das, was vor uns liegt, nun mal nicht mehr als ein Feld, das etwas höher liegt als die umliegenden Felder. Bei uns würden das allenfalls schlittenfahrende Kinder einen Hügel nennen.
Damit man den Gipfel auch ja nicht übersieht wenn man über die Felder reitet, wurden ein schwerer Stein hinaufgerollt und einer dieser Totempfähle, die man überall in Litauen sieht, in den Boden gerammt.
Jetzt endlich, von diesem erhöhten Standort, sehen wir ihn: den Aukštojas, den höchsten Punkt Litauens. Mit einem überdimensionierten Hochsitz wurde etwas nachgeholfen.
Das ist also unser Ziel. Ein langer, beschwerlicher Aufstieg steht uns bevor. Zeit, um die Geschichte dieser beiden konkurrierenden Berge zu rekapitulieren. Seit Menschengedenken galt der Juozapinės als der höchste Punkt Litauens, bis 1985 (also noch zu Zeiten der Sowjetunion) der Geograph Rimantas Krupickas wagemutig Bedenken anmeldete. Es folgten akademische Auseinandersetzungen zwischen den geographischen Fakultäten der Universitäten Litauens. An der Universität in Vilnius bildete sich die Aukštojas-Fraktion, während die landvermessenden Kollegen in Kaunas überwiegend dem Juozapinės die Treue hielten. Seminare wurden veranstaltet, Magister- und Doktorarbeiten geschrieben, Aufsätze in Fachzeitschriften publiziert. Der Streit eskalierte so sehr, dass sich die Sowjetische Kommission für Gebirgsgeographie seiner annehmen wollte, doch dann zerbrach die UdSSR und Litauen wurde 1991 unabhängig.
Mit der Unabhängigkeit kam der Fortschritt und mit dem Fortschritt kam das GPS. 2004 wurde neu vermessen, und der Aukštojas ging ganz knapp als Sieger hervor. Geographiestudenten sahen sich eines ergiebigen Themas beraubt und mussten sich wieder der Kurischen Nehrung zuwenden. Dafür traten jetzt die Philologen auf den Plan, denn der später so genannte Aukštojas trug damals noch keinen Namen. Schließlich war er noch kein Berg, sondern ein Niemand, ein namenloser Fleck am Waldrand. Ein Wettbewerb zur Benennung des neugefundenen Punktes, auf den sich der Stolz der Nation konzentriert, wurde ausgerufen. Wieder wurde diskutiert, geforscht, gestritten und geschrieben. Sieger dieses Wettbewerbs war Libertas Klimka, Geschichtsprofessor an der Pädagogischen Universität Vilnius, dessen Vorschlag Aukštojas sich von Aukštėjas ableitet, so etwas wie dem litauischen Zeus. Litauen war das letzte Land in Europa, das christianisiert wurde, und das sich durch die Zögerlichkeit seiner Konvertierung einen Kreuzzug einhandelte. Heidnische Kulte sind noch immer weit verbreitet, was man zum Beispiel an den Holzschnitzereien auf dem obigen Totempfahl sieht. Aber ich schweife ab.
Auch der Aukštojas bekam einen Stein verpasst.
Dazu den Turm, dessen Besteigung fast genauso lang dauert wie die Besteigung des Berges, den er ziert. Endlich packen wir unsere Thermoskanne mit Tee und Schokoladenkekse aus. Wir sind nur mäßig hungrig, und selbst das bisschen Hunger ist eher auf der Busfahrt als während der kurzen Wanderung aufgebaut worden.
Dieser Aussichtsturm schafft aber auch eine verzerrte Wahrnehmung, denn von dort oben sieht man auf den Juozapinės hinab wie vom Matterhorn auf Zermatt.
Jetzt kann ich die Lösung des größten geographischen Rätsels der Neuzeit aber nicht mehr länger hinauszögern. Der interessierte Leser hat bereits seit mehreren Absätzen Stift und Notizblock zurecht gelegt, um sich das genaue Ausmaß der vieldiskutierten Erhebungen zu notieren.
Man halte sich fest, bevor man einen Blick auf die nach aktuellen wissenschaftlichen Methoden gewonnenen Werte werfe:
293,84 m schlägt 293,60 m, aber ein Höhenunterschied von 24 cm lässt die jahrelangen Diskussionen genauso lächerlich erscheinen, wie sie Euer reisender Reporter zu porträtieren versucht hat. Vierundzwanzig Zentimeter! In Nepal oder der Schweiz kennt kein Mensch die Dezimalstellen der höchsten Berge. Vierundzwanzig Zentimeter, das ist weniger als der Höhengewinn beim Umstellen eines Buchs in die nächsthöhere Regalreihe. Wenn einer der Berge sich einen Irokesen wachsen lässt (der Totempfahl ist schließlich schon da) oder einen Hut aufsetzt, muss die Rangliste wieder umgeschrieben werden.
Links:
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Hügel – Kalva
Berg – Kalnas
Dankeschön!
Man lernt doch immer wieder etwas dazu.
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Das ist so geil, selten so gelacht beim Lesen. 😅
Ich habe das schon damals vor vielen Jahren geschrieben und jetzt selbst wieder entdeckt. Und ich musste selbst wieder lachen!
Der Artikel fiel mir ein, weil ich mich mit dem Gedanken trage, als Ersatz für internationale Reisen die höchsten Gipfel aller 16 Bundesländer zu besteigen. Und da wären, insbesondere im Norden, auch so ein paar kaum sichtbare Hügelchen dabei.
Ich wohne direkt neben der höchsten Stadt Hessens und selbst das ist dezent „langweilig“. Auser zu Fuß 🤣
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Habe mich sehr amüsiert über diesen Artikel, vor allem, weil ich die Höhenlage ja schon kannte 😄 Klasse!
Vielen herzlichen Dank – und schöne Grüße an Litauen!
Ich habe erst letzte Woche einen jungen Mann getroffen, der ab Herbst für ein Europäisches Frewilliges Jahr nach Litauen gehen wird, habe ihm ein bisschen erzählt – und gemerkt, dass ich es selbst vermisse.
Haha, toller Bericht, habe mich köstlich amüsiert!
Trotzdem aber auch informativ und ich werde wohl morgen in aller Frische und bei Kräften die Besteigungen der beiden Giganten angehen. 🙂
Vielen Dank! 😊
Ich bin schon gespannt, zu hören, wie die Situation vor Ort ist, ob schon Berghütten oder Skilifte gebaut wurden, ob der Tourismus boomt und wie es da im Sommer aussieht.
Ich werde berichten! 😉 Also falls ich es schaffe. Hocke in Vilnius in der Bix Baras und hab schon ein paar Alus (Bier) drin. Außerdem muss ich dann morgen noch weiter nach Polen. Nicht, dass ich mich verfahre und Lukaschenko mich holt…
Immer dran denken:
Je mehr schief geht, umso besser ist die Geschichte, die man später erzählen kann!
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