Manchmal komme ich nur in einen Ort, weil er auf der Strecke von A nach B liegt, mir aber die Strecke von A nach B zu lange für eine Tagesreise ist. Als ich von Málaga nach Venta Micena fuhr, lag Baza so praktisch auf dem Weg, dass ich dort einen Tag und eine Nacht verbrachte.
In Málaga hatte ich noch mit jemandem gesprochen, die als Musiklehrerin in Baza gearbeitet hatte. „Solo hay dos estaciones ahí, la del invierno y la del autobus„, warnte sie mich vor dem dortigen Winter mit einem Bonmot, das nicht ohne Verlust des Sprachwitzes ins Deutsche zu übersetzen ist. Es war September und ich war nicht beunruhigt, denn wenn Spanier vom Winter sprechen, bedeutet es, dass es mal kurz unter 30 Grad hat. „Nein, nein, im Winter schneit es dort sogar“, konkretisierte sie die Warnung. Nun ja, dafür ist der Winter auch da.
Die drei Stunden auf der Autobahn mit drei Spaniern im Auto, von denen einer schneller spricht als der andere, sind eine anspruchsvollere Prüfung als das DELE-Examen. Am Ende werde ich Kopfschmerzen haben. Aber interessant und lustig ist es. Dieses Bla-Bla-Car ist echt gut, um Land und Leute kennenzulernen.
In Baza angekommen, machen sich meine Mitfahrer Sorgen, dass ich mich in der Kleinstadt langweilen würde. Sie behandeln mich fast mitleidsvoll, wie jemanden, der ins Kloster geht, und laden mich noch auf eine Cola ein, bevor sie weiter düsen.
Viele Besucher sieht die Stadt tatsächlich nicht, scheint mir. Dabei war Baza unter den Mauren eine wichtige Grenzstadt zum Königreich Murcia (heute eine spanische Region und Provinz). Aber jetzt sind die Straßen und Plätze menschenleer. (Das war lange vor dem Coronavirus, deshalb meine Überraschung.)
Beim Friseur hängt ein Schild: „Ich öffne heute erst um 5.“ Beim Immobilienmakler sind die Preise heruntergesetzt, eine Wohnung mit drei Schlafzimmern von 66.000 € auf 50.000 €, eine andere Wohnung mit drei Schlaf- und zwei Badezimmern von 180.000 € auf 135.000 €. Der Immobilienboom in Spanien scheint vorbei zu sei. Der Makler hat übrigens „geschlossen bis Mittwoch, den 25.“, ohne Angabe des Monats.
Die große Kirche auf dem Marktplatz öffnet erst um 19 Uhr, um 20 Uhr schließt sich dann die Messe an. Zur Besichtigung werde ich abends noch mal vorbeischauen, die Messe erspare ich mir wahrscheinlich.
Beim weiteren Rundgang stoße ich im nahen Umkreis auf noch mehr Kirchen, zum Beispiel auf den Templo de nuestra señora de la Piedad – Patrona de Baza = Iglesia la Merced, wo ebenfalls um 20 Uhr der Gottesdienst angesetzt ist. Hier muss man sich eindeutig entscheiden, Doppelmitgliedschaft ausgeschlossen.
Ich deponiere erst einmal den Rucksack im Hotel Virgen del Pilar, wo mir eine zusätzliche dicke Decke überreicht wird, „falls es nachts zu kalt ist.“ Es hat 24 Grad. Praktischer finde ich den Hinweis der Rezeptionistin auf ein nahegelegenes Restaurant. „Da können Sie günstig mittagessen“, fügt sie an, und ich frage mich, woran man meine Knausrigkeit erkennt. Vielleicht am deutschen Pass. Jedenfalls scheint sie für heute keine weiteren Gäste zu erwarten, denn nach meiner Ankunft schließt sie die Empfangstheke und geht selbst ins Casa Grande zum Essen. Das ist ein Wirtshaus nach meinem Geschmack. Man fragt den vertrauenserweckend dicken Wirt, was es heute gibt, und sagt dann „ja“ oder „nein“. Speisekarten sind unpersönlicher Firlefanz.
Über die Straße zum Hotel ist ein Werbebanner der spanischen Fernuniversität Universidad Nacional de Educación a Distancia gespannt, das den Weg zu einem Regionalzentrum der UNED weist. Selbst begeisterter Fernstudent, bin ich beeindruckt, wie tief in der Provinz die spanischen Kollegen vertreten sind. Baza hat etwa 20.000 Einwohner und ist auch ansonsten nicht von überregionaler Bedeutung.
Früher war das, wie gesagt, anders. Auf dem höchsten Punkt der Stadt finde ich die Ruinen der maurischen Festung Alcazaba vor. Nur mehr Reste von Ruinen, sollte man sagen.
Dafür ist der Ausblick umso spektakulärer, mit Kirchtürmen, Bergen und Wolken wie in einem Photoshop. Ist aber alles echt. So ist Andalusien.

„Sie müssen verzeihen, mein Herr, dass der Platz so heruntergekommen ist“, unterbricht mich eine Dame freundlich beim Fotografieren. Und sie hat Recht. Es liegt Schutt herum, und Unkraut wuchert überall.
„Wir haben schon den Plan zur Verschönerung des Platzes. Sehen Sie den Kreis auf dem Boden? Da soll ein Springbrunnen hinkommen.“ Aber wie das eben so sei bei öffentlichen Vorhaben, die brauchen ihre Zeit. Na gut, die Mauren sind ja auch erst seit 1489 weg.
Die Dame trägt ein buntes Kleid und ein mit Alufolie bedecktes Blech. „Für die Kätzchen“, erklärt sie. „Es ist etwas Fleisch vom Mittagessen übrig geblieben.“ Der Größe des Tabletts nach zu urteilen war das kein Versehen.
Am Bahnhof, der offensichtlich nicht mehr aktiv ist, treffe ich einen sehr alten Mann mit zwei Hunden und ebenso vielen Zähnen. Seit etwa 20 Jahren habe der Bahnhof geschlossen, erzählt er, und wir stimmen überein, dass dies sehr schade ist. Früher fuhr er mit dem Zug nach Alicante, nach Sevilla, ja bis nach Barcelona, und es war ein Vergnügen. Entspannt, gemütlich, schön und sicher sei das gewesen. Jetzt mit den Bussen mache das Reisen keinen Spaß mehr, und außerdem, erst gestern hätten sie es im Radio gebracht, sind letztes Jahr 1.810 Menschen im Straßenverkehr gestorben.
Gemeinsam stehen wir vor dem jetzt nutzlosen Bahnhofsgebäude und schwelgen in Erinnerungen an die Blütezeit der Eisenbahn. Als er mir zum Abschied die Hand drückt, habe ich Angst, meine Knochen könnten brechen, so viel Kraft hat der schätzungsweise 70-bis-80-Jährige noch. Wenn die Schienen nicht abmontiert worden wären, könnte er den Zug eigenhändig nach Alicante schieben.


Der schöne, grüne und ruhige Park an der Plaza San Jerónimo ist der Magnet, an den es mich auf meinen Spaziergängen durch die Stadt immer wieder zieht.

Hier kann ich mal ein paar Stunden setzen und ein Buch lesen. Denn das ist das Schöne an so kleinen Orten: Man muss keine Angst haben, zu viele Sehenswürdigkeiten zu verpassen, auch wenn man längere Pausen einlegt. Selbst wenn ich mich jetzt über die Größe und mangelnde Betriebsamkeit von Baza lustig machen wollte, was mir fernliegt, so weiß ich doch, dass es mich nach einem Monat in Venta Micena nach einem Städtchen wie diesem dürsten wird.
Irgendetwas ist übrigens verdächtig intellektuell an dieser Kleinstadt. Zuerst haben sie eine Zweigstelle der Universität, dann entdecke ich eine vierstöckige Bibliothek, die bis um 21 Uhr geöffnet ist. Gut, am Sonntag nur bis 14 Uhr, aber das sind Öffnungszeiten, von denen die meisten Stadtbibliotheken in Deutschland träumen können.
Eine Kneipe heißt Rincón del Poeta, Dichterecke, und das Graffiti an der Kirche stammt von Pablo Neruda.


Gegenüber der Polizeistation in der Altstadt ist ein sehr gut sortierter Tabakladen. Es kann also sein, dass ich hier in ein paar Wochen nochmal vorbeikommen muss. Die Polizeiautos parken nebenan vor dem „Laden für exotische Vögel“, dessen sämtliche Käfige im Schaufenster leer sind, der aber laut handgeschriebenen Schildern auch sibirische Huskies verkauft. Die Leute glauben echt, dass es hier eiskalt ist.
„Se alquila por poco dinero“ steht verzweifelt an einem Laden in den verwinkelten Altstadtgassen: Zu vermieten für wenig Geld.
Um 18 Uhr komme ich wieder am Park vorbei. Jetzt ist deutlich mehr los. Die drei Boccia-Felder sind belegt, und die Spieler diskutieren jeden Wurf mit mehr Verve als im Gerichtsgebäude um die Ecke streitige Verfahren ausgetragen werden.

Die Kirche öffnet sich doch nicht um 19 Uhr. Vielleicht sind auch hier Sommerferien.
Als ich am Abend zum Hotel zurückkehre, sehe ich, dass auch dieses Gebäude zum Verkauf steht. Na, hoffentlich wechselt es nicht heute Nacht den Eigentümer. Nachdem ich mich den ganzen Tag über die Spanier amüsiert habe, die glauben, dass es hier im September kalt sei, muss ich ganz kleinlaut und reumütig gestehen, dass ich zum Schlafen eine lange Jogginghose und einen Pullover benötige.
Fazit: Baza ist nicht Granada oder Málaga, das ist klar. Aber einfach daran vorbeifahren sollte man nicht. Vielleicht kann man in so einer Kleinstadt sogar mehr über Andalusien lernen, denn man teilt sich die Aufmerksamkeit nicht mit anderen Touristen. Die Wohnungen sind auch billig, wie Ihr gesehen habt.
Links:
- Mehr über Andalusien.
- Die Tourismus-Information von Baza.
Krass, die Stadt sieht aus wie ausgestorben. Oder als hätte jemand die Menschen aus den Fotos rausretuschiert. Das hast du nicht…oder? 🙂
Spanien hat so viel schönes zu bieten, da fällt die Wahl schwer. Ich denke, deshalb werden so unbekannte, kleine Orte eher links liegen gelassen. Weil die Leute nicht wissen, ob sich der Zwischenstopp lohnt… und nicht jeder ist so neugierig, das herauszufinden. Schade eigentlich.
Liebe Grüße
Kasia
Ich habe nichts retuschiert, ich schwöre!
Ich habe auch nicht gewartet, bis niemand im Bild war. Es war tatsächlich so vollkommen leer.
Allerdings, gegen Abend hin wurde es dann ein bisschen lebendiger. Vielleicht war ich also in die längere Mittagspause geraten, die ja in anderen Ländern etwas ausgiebiger begangen wird als bei uns Mitteleuropäern.
Gerade in Spanien oder Italien finde ich, dass sich eigentlich fast jede Kleinstadt lohnt. Zumindest für einen halben Tag. Und für mich, weil ich dazwischen auch gerne Stunden im Park sitze und lese, gerne auch für zwei Tage.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke: Vielleicht ist es mit den kleinen Städten in Deutschland gar nicht so anders? Die sind ja auch irgendwie alle unterschiedlich, haben schöne Burgen oder Schlösser, andere Kulinarik, andere Dialekte als schon wieder 100 km weiter.
Diesen Sommer, wo noch nicht die Zeit für Fernreisen sein wird, werde ich das vielleicht mal herausfinden.
Hm, die Siesta-Zeit könnte eine gute Erklärung sein für dieses Phänomen. Als wir letzten Sommer nach Assisi gefahren sind, hat sich der Ort von ziemlich belebt gegen Nachmittag zu fast ausgestorben entwickelt. Ich lief durch fast leere Straßen und konnte nach Herzenslust fotografieren, es war aber auch ein bisschen unheimlich, weil man es nicht kennt.
Hier in meinem Umkreis fallen mir auch immerzu neue Aspekte auf, auf die ich bisher nicht geachtet habe. Der Rest einer alten Stadtmauer im Nachbarort, der schmucke Marktplatz einen Ort weiter… Ich habe mir auch vorgenommen, die zu erkunden. Gut, es ist zwar nicht reisen wie ich es verstehe, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen 😉
In Italien hat mich diese Siesta immer verrückt gemacht. Drei Stunden Pause! Und genau dann, wenn ich eine Zeitung oder die guten italienischen Toscano-Zigarren kaufen will.
Aber selbst in einer Großstadt wie Bari war es um 13:30 fast wie ausgestorben.
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