Ich habe gar kein Auto.
Die Gründe dafür sind vielfältig, finanziell, praktisch, ökologisch, wirtschaftlich, gesundheitlich, soziologisch und ganz persönlich. Außerdem finde ich Autos zu umständlich, vor allem wenn man sich stattdessen in einen Zug setzen kann, den jemand anders, noch dazu ein Profi, steuert, während ich selbst die Berge genieße, ein Buch lese, ein Nickerchen mache oder interessante Menschen kennenlerne.
Aber ich gebe zu, manchmal träume ich davon, mir wieder ein Auto zu kaufen. Nichts Besonderes, am besten ein altes, das nur noch ein halbes Jahr TÜV hat, für 500 €. Nur für eine einzige Reise, einen langen Road Trip. Von Gibraltar bis zum Nordkap, und dann zurück durch das Baltikum bis nach Griechenland. Ohne feste Route, ohne Zeitplan, auf abgelegenen Landstraßen, am besten ohne Landkarte, einfach nach Gefühl, Lust und Laune. Und wenn es Abend wird, hält man spontan am erstbesten Motel, das zuverlässig am Straßenrand steht, egal ob in der portugiesischen Pampa, im norwegischen Nirgendwo oder im Hinterland der Herzegowina.

Und damit sind wir schon beim Motel, dem eigentlichen Anlasser dieser Geschichte.
Vor hundert Jahren, am 12. Dezember 1925, wurde nämlich in Kalifornien das erste Motel der Welt eröffnet: das Milestone Mo-Tel, später Motel Inn, in San Luis Obispo, auf halber Strecke zwischen Los Angeles und San Francisco. Weil die Ortsnamen in Kalifornien alle spanischen Ursprungs sind (der Landstrich gehört eigentlich zu Mexiko und damit zu Spanien oder zu Österreich, aber das ist eine andere Geschichte), wurde das moderne Motel im Baustil der spanischen Missionen errichtet.

Im Jahr 1925 gab es schon ein paar Millionen Autos in den USA. Weil Amerikaner nicht gerne ins Ausland reisen (Fremdsprachen, Terrorismus und so), fuhren sie kreuz und quer durch das eigene, zugebenermaßen große, interessante und abwechslungsreiche Land. Die Autos waren aber noch langsam und die Straßen nur wenig asphaltiert. So musste man die Nacht oft zwischen zwei Städten verbringen, entweder im Zelt oder im Auto.
Das ist kein Problem, wenn man jung ist und sich jede Unannehmlichkeit als „Abenteuer“ schönreden kann. Aber ältere Menschen, gestresste Handlungsreisende und eigentlich jeder mit einer Wirbelsäule benötigt ein richtiges Bett.
Zum Glück waren da die Brüder Arthur, Alfred und Herbert Heineman, die wahrscheinlich von deutschen Einwanderern abstammten und deshalb prädestiniert für alles waren, was Automobile und Gemütlichkeit zusammenbringt. Sie erbauten und eröffneten im Dezember 1925 eben jenes erste Motel in San Luis Obispo.
Weil Amerika das Land der größenwahnsinnigen Kapitalisten ist, wollten sie eine ganze Kette von Motels gründen. Mit einem Motel an jedem der Orte der einstigen spanischen Missionen. Denn in weiser, wahrscheinlich göttlicher Vorsehung hatten die spanischen Eroberer ihre Missionarsfilialen jeweils im Abstand einer automobilen Tagesreise voneinander angelegt.

Die Idee war gut, aber die Konkurrenz war schneller. Und vor allem war die Konkurrenz günstiger. Denn die meisten der mittlerweile Zehntausenden von Motels haben nicht gerade solide katholische Klosterqualität, sondern sind eher schnell zusammengezimmerte Holzhäuschen. Nicht für die Ewigkeit gebaut, sondern für die Rendite.

Aber ich mag Motels.
Meine Erfahrung stützt sich hauptsächlich auf Autoreisen in Florida, Texas, Utah, Nevada und Kalifornien. Das war in der guten alten Zeit, als das Interweb noch nicht mobil war. Man hatte einen Straßenatlas und fuhr und fuhr und fuhr. Autofahren in den USA ist ziemlich entspannt, weil keiner drängelt, hetzt oder hupt. In Texas weichen die Leute sogar auf den Seitenstreifen aus, wenn sie im Rückspiegel sehen, dass da ein schneller Tourist angebraust kommt. Und dann gibt es Strecken, wo man sowieso nur jede halbe Stunde ein anderes Auto sieht.

Irgendwann wird man müde, die Sonne geht unter, die Luft wird kühler, und man sehnt sich nach einem Bett und einer Dusche. Gebucht hat man natürlich nichts. Wie auch, man wusste am Morgen ja noch nicht, wie weit man fahren würde. Aber es macht nichts, denn man weiß, früher oder später wird ein leuchtendes Neonschild am Straßenrand auftauchen und eine Oase der Zivilisation in der Kakteenwüste verheißen.

In dem Büro sitzt immer eine ältere Frau, die das Motel geerbt hat, für ihren im Gefängnis sitzenden Ehemann verwaltet, oder die es sich von der Entschädigung gekauft hat, die sie für ihre an Vergiftung mit hexavalentem Chrom gestorbene sechsjährige Tochter zugesprochen bekam. Die Preise richten sich nach Sympathie, also kam ich meist billig weg. Oder es lag daran, dass ich das Übernachten oft bis ganz spät rauszögerte, so dass die Herbergsmutter um 22 Uhr wusste: Heute kommt sonst niemand mehr vorbei, also besser 35 Dollar als gar nichts.
Außer einmal, auf dem Weg von Mariposa zum Yosemite Nationalpark, da war ein hübsches Mädchen an der Rezeption. Aber gut, in dieser Gegend ist ja alles wunderschön. Da ist die Natur so überwältigend schön, dass sie einen plattmacht. Richtig körperlich, wie ein Rauschzustand. Am Titicaca-See kann man das auch spüren. Oder im Erzgebirge.

Im Yosemite-Nationalpark liegt wahrscheinlich auch das am schönsten gelegene Gerichtsgebäude der Welt. Die Richterin dort hat hauptsächlich mit Drogendelikten und Ruhestörung am Campingplatz zu tun, ansonsten keine großen Sachen. Und das Beste an dem Job: Amerikanisches Recht verlangt, dass Richter und Richterinnen in dem Bezirk wohnen, für den das Gericht zuständig ist. Deshalb gibt es für sie eine Blockhütte, einen Bollerofen, eine Angel und ein Gewehr. Traumjob!

Aber zurück zum Motel: Nachdem man sich in das Gästebuch inskribiert hat, fährt man mit dem Auto direkt vor die Tür Nr. 7 und geht auf seine Bude. Privater Eingang, viel besser als in einem Hotel. Denn so zahlt man nur für einen und bringt danach die Freundin mit aufs Zimmer. Im Hotel machen sie bei sowas ja meist irgendwelche spießigen Sperenzchen, vor allem im Bible Belt oder in Bayern. Habe ich gehört.

Allerdings gibt es auch keinen Service wie in einem Hotel. Außer dem Cola-Automaten, dessen Kühlung die ganze Nacht schnurrt und der auf Knopfdruck einen ganzen Eimer Eiswürfel ausspuckt. Wenn man Hunger hat, gibt es in der Umgebung alle möglichen Fast-Food-Tempel, wo man auf andere schweigsame Reisende mit traurigen Lebensgeschichten trifft, die ihren Kummer mit Kalorien bekämpfen.

Bei meiner ersten USA-Reise war ich noch unter 21, konnte also noch kein Auto mieten. Deshalb war ich mit einem Freund zusammen mit dem Bus unterwegs. Eine Nacht verbrachten wir in dem kleinen Örtchen Tropic in Utah. Natürlich hatten wir abends Hunger, zogen über die einzige und damit Hauptstraße der Stadt mit damals etwa 400 Einwohnern und erspähten ein Schild, das „PIZZA“ versprach. Als wir eintraten, saßen wir plötzlich in einer ganz normalen Küche an einem ganz normalen Küchentisch. Die Frau des Hauses fragte uns, was wir auf die Pizza wollten, und wir saßen da, wie wenn wir Schulfreunde ihres Sohnes wären. Die Pizza hatte einen Durchmesser von eineinhalb Metern, was selbst für zwei Zwanzigjährige zu viel war. Ehrlich, wenn Ihr in den USA seid, bestellt nie etwas in „extragroß“ oder so, denn sonst werdet Ihr bald selbst extradick.
In den Motels sieht alles so aus, wie wenn es mindestens 20 oder 30 Jahre alt ist, aber nicht auf schäbige, sondern auf sympathisch-zeitreisende Art. Tiefe Teppiche, durchgelegene Betten, Vorhänge und Tapeten im 60er-Jahre-orangebraunen Stil, den man von den Polaroid-Aufnahmen aus der eigenen Kindheit kennt. Oder aus dem DDR-Museum.








Ich gebe zu, mir gefällt diese Architektur. Dieses Mutige, Futuristische, so wie wenn man eine Raumstation baut. Man sieht und spürt den Optimismus des Atomzeitalters und der Fünfjahrespläne. Denn interessanterweise gab es die ähnlichen architektonischen Entwicklungen im Westen wie im Osten. Nur dass im Osten der öffentliche Nahverkehr gegenüber dem Individualverkehr bevorzugt war.
Die beste Kombination der beiden Welten gibt es in Chemnitz, diesem historisch einmaligen Knotenpunkt aus Ost und West, wo man mit der Straßenbahn zum Motel fahren kann. Linie 1 bis zur Haltestelle Kappler Drehe.

Mittlerweile sind viele Motels leider kaputt und pleite. Das anfangs erwähnte erste Motel musste 1991 schließen, und sieht jetzt so aus:

Das liegt daran, dass die Leute nicht mehr spontan reisen, sondern alles vorab planen und buchen wollen. Und dann sucht man sich natürlich ein Hotel in der Stadtmitte oder an einem abgelegenen See. Kaum jemand fährt noch einfach so drauf los. Nebenbei treibt man damit nicht nur die Motels in den Ruin, sondern man zerstört auch jegliche Spontanität. Am schlimmsten sind die Leute, die schon vorher die Bewertungen lesen oder im Internet nach der Speisekarte suchen. Wenn Ihr keine Überraschungen erleben wollt, dann bleibt doch gleich zuhause!
Nur im Film lebt das Motel weiter. Wobei „leben“ vielleicht nicht ganz das richtige Verb ist.
Aber in Wirklichkeit ist es nicht so schlimm, glaube ich.
Mir selbst ist zumindest nie etwas passiert. Okay, das eine Motel in Houston war ein bisschen komisch, mit einer Metallstange mitten im Raum, Spiegeln an der Decke, und alles ein bisschen rosa. Da habe ich sicherheitshalber die Tür zugesperrt. Und in Las Vegas hörte man die ganze Nacht Schießereien. In El Paso erst recht. Aber irgendwas ist halt immer. Wenn man Urlaub in Schwaben macht, dann nerven einen die lauten Kirchenglocken.
Passenderweise war es ebenfalls vor hundert Jahren, dass große Fernstraßenprojekte geplant und gebaut wurden, die Tausende, ja Zehntausende von Motels notwendig machten: In den 1920er Jahren entstand die Idee einer kontinentübergreifenden Straßenverbindung von Alaska bis nach Feuerland, die Panamericana. Und 1926 wurde die Route 66 von Chicago nach Los Angeles eröffnet.
Letzteres ruft geradezu danach, 2026 ein kleines Jubiläumsprojekt zu veranstalten. Und die Panamericana einmal komplett abzufahren, durch 14 oder 15 Länder, das ist ein lange gehegter Traum. Natürlich nicht mit dem eigenen, nicht vorhandenen Auto, sondern per Anhalter.
Aber bevor ich jetzt wieder ins Träumen gerate, möchte ich lieber von Euch hören: Erzählt doch mal von Euren Road-Trip-Abenteuern!
Links:
- Alle Folgen aus der Reihe „Vor hundert Jahren …“. In den letzten beiden Jahren klafft hier leider eine große Lücke, weil ich mich zu sehr von der Arbeit ablenken habe lassen. Aber ich gelobe Besserung. Wenn Ihr Vorschläge zu Themen habt, die 1926 passiert sind und nächstes Jahr ihr Hundertjähriges feiern, nur her damit!
- Mehr Geschichte.
- Und ein paar Geschichten von der Landstraße.
- Motels im Missionsstil gibt es wohl kaum mehr. Aber wer einmal in einem Kloster übernachten will, dem sei die Jugendherberge auf Pico empfohlen.


Happy 2026 🥂
Wow, das ist ja fast schon eine Liebeserklärung an Motels, mit tollen Bildern. Ich gebe zu, dass ich die unkomplizierte Abwicklung auf unseren USA-Trips auch schätzen gelernt habe. Obwohl wir nicht so krasse Erlebnisse hatten, wie in deinen Filmausschnitten, gab es durchaus auch negative Erfahrungen. Teppiche, in denen das Leben wimmelte. Bettwäsche, die schon beim Bezug ganz sicher nicht frisch war, sondern im Gedanken an Nachhaltigkeit weiter genutzt wurde. Frühstückskaffee, der von der UN-Menschenrechtskonvention als seelische Folter eingeordnet wird. Deshalb lesen wir die Bewertungen durchaus vorher. Manchmal liest sich das wie ein Horrorroman. Aber es gab natürlich überwiegend positive Erinnerungen.