Hochzeitsreise im Zug

Der junge Mann ging allein in den Speisewagen, denn seine Frau folgte der strengen Regel, nach 8 Uhr abends nichts mehr zu essen, und war, nachdem der Zug auf der langen Reise schon mehrere Zeitzonen durchfahren hatte, unsicher, welche davon nun für ihren Verdauungstrakt galt.

Da er nicht mehr gewohnt war, allein auszugehen, wählte der junge Mann einen Tisch, an dem bereits ein alter Mann saß, natürlich nicht ohne vorher um Erlaubnis gebeten zu haben. Die Erlaubnis wurde mit Freude erteilt, denn der alte Mann war es leid, allein zu speisen. Vielleicht war die Sehnsucht nach menschlicher Gesellschaft der wirkliche Grund für seine Entscheidung zum Abendessen gewesen, nicht die Lust auf Bier und Braten.

Wie immer in Zügen begann die Unterhaltung mit Fragen und Antworten über Herkunfts- und Zielorte. Der junge Mann tat stolz kund, dass die Reise Teil seiner Flitterwochen war. Der alte Mann schien einfach nur zum Spaß zu reisen, um ein paar Orte zu besuchen, an denen er vor Jahrzehnten gewesen war, und andere, die neu für ihn sein würden.

Der Vorteil des Alters brachte es mit sich, dass der alte Mann mehr – und bessere – Geschichten zu erzählen hatte. Er erinnerte sich an die Tage des Goldrauschs, und die Augen des jungen Mannes glänzten. Er sprach vom Krieg, und der junge Mann lauschte sehnsüchtig. Der alte Mann war eine Weile zur See gefahren, in der guten alten Zeit, bevor alles in Container gepackt wurde und als man in jedem Hafen von Salvador bis Cartagena, von Brindisi bis Haifa noch ein paar Tage an Land gehen konnte. „Oh, dorthin wollte ich schon immer mal“, entfuhr es dem jungen Mann wieder und wieder.

„Wohin führt Sie Ihre Hochzeitsreise denn als nächstes?“, fragte der alte Mann.

„Nun“, erklärte der junge Mann, „nach dieser Zugreise müssen wir gleich nach Hause fliegen. Sehen Sie, wir haben gerade eine Eigentumswohnung gekauft und wir müssen jetzt beide arbeiten, um das Darlehen abzubezahlen.“ Niemand von ihnen wollte dieses Thema vertiefen, und der alte Mann half mit Geschichten von Piraten und Walfischen und Versorgungsfahrten in die Antarktis aus.

Schließlich war es Zeit für den jungen Mann, aufzustehen und sich zu verabschieden: „Ich sollte mich um meine Frau kümmern. Sie mag es nicht, wenn ich zu lange weg bin.“

„Es war mir ein Vergnügen“, antwortete der alte Mann. „Nachdem wir uns ein klein wenig kennengelernt haben, möchte ich Sie nur bitten, eine Sache im Kopf zu behalten. Manchmal glauben wir, dass wir eine Verpflichtung gegenüber jemandem haben, weil wir etwas versprochen haben. Aber wir haben auch eine Pflicht zur Wahrheit und zur Aufrichtigkeit. Wir müssen nicht nur anderen gegenüber treu sein, sondern auch gegenüber unseren eigenen Träumen. Wenn wir eine Bindung aufrecht erhalten, obwohl wir wirklich etwas anderes wollen, verschwenden wir nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch das der anderen Person.“ Und, nach einer kurzen Pause: „Aber Sie müssen jetzt gehen.“

Der junge Mann erschrak, denn er wusste, dass der alte Mann Recht hatte.

Auf dem kurzen Weg vom Speise- zum Schlafwagen versuchte der junge Mann, Gründe zu finden, die gegen das sprachen, was ihm durch den Kopf ging. Es fiel ihm nichts ein. Zu behaupten, dass ihn das wirklich gestört hätte, wäre falsch.

„Oh, Du siehst glücklich aus! Was ist los?“, begrüßte die Frischvermählte den jungen Mann.

„Ich freue mich einfach, Dich zu sehen“, log er, denn sie hatten noch drei Tage zusammen zu verbringen.

Licht in Kurve

Links:

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  • Wenn Ihr in einer ähnlichen Situation seid – und wer ist das nicht? -, bietet meine TEDx-Rede vielleicht den notwendigen Motivationsschub.
  • Diese Geschichte geht zurück auf die Unterhaltung mit einem alten Mann aus Russland, den ich auf einer Zugfahrt in Kanada kennenlernte.
  • Read this story in English.

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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6 Antworten zu Hochzeitsreise im Zug

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  3. ulrichsblog schreibt:

    Danke für die schönen Gedanken dieses Textes

  4. Ana Gertrud Cretoiu schreibt:

    ha,ha war der ueberhaupt noch im Zug?sobald Dich gross geschrieben ist ,wird ist das schon ein Brief…und ein alter sogar…

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