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Fim do Mundo, Ende der Welt, das ist ein selbstironischer Name für ein Café in einem kleinen Kaff auf einer kleinen Insel. Könnte man meinen.

Wenn man nicht wüsste, dass es in Norte Pequeno stimmt. Und zwar auf zweierlei Weise. Eine davon beabsichtigt, die andere nicht.
Schon auf älteren Seekarten waren die Azoren als vage Punkte oder als Überbleibsel von Atlantis eingezeichnet, aber erst ab 1427 wurden die Inseln richtig entdeckt. Die ganze Zeit markierten sie aus europäischer Sicht das Ende der Welt, das Ende des Atlantiks, den Punkt, an dem man allerspätestens umkehren sollte, um nicht von der Erdkante zu fallen.
Erst als Christopher Kolumbus auf die Azoren kam und enttäuscht war, dass man hier gar niemanden versklaven konnte, fuhr er trotzig falsch in die Einbahnstraße und fand so Amerika. Juhu!
Soweit zur beabsichtigen Anspielung des Namens Fim do Mundo.
Was der kreative Kaffeeröster, der diese Bar kurz nach dem Besuch von Kolumbus eröffnete, nicht ahnen konnte: Bald würde über diesen nordwestlichen Teil der Insel Faial tatsächlich das Ende der Welt hereinbrechen.
Ein düsteres Ende.
Ein gewaltiges Ende.
Aber ich greife, um ganz billig einen Spannungsbogen aufzubauen, schon vorweg auf etwas, von dem ich zu dem Zeitpunkt als ich die Bar verlasse, selbst noch nicht weiß. Ich will mich auf den Weg an das alte Ende der Welt machen. Zu Fuß, denn es sind nur noch zwei Kilometer bis zur Westküste Faials. „Sie können sich Zeit lassen“, hatten die anderen Gäste in der Bar gescherzt, als ich meinen Wanderplan kundtat, „am Ende der Insel ist ein Leuchtturm. Sie werden Ihr Ziel also auch bei Nacht finden.“
Weg der zehn Vulkane heißt der Wanderweg, auf den ich wohl etwa beim siebten oder achten Vulkan einbiege. Im Vergleich zum ersten, größten, zentralen Vulkan sind die feurigen Hügel kleiner, aber der Auf- und Abstieg ist dennoch nicht ohne.
Der letzte Vulkan ist der härteste, und das nicht nur, weil ich schon fix und fertig bin, sondern weil er ziemlich frisch ist. Meine Stiefel versinken in der Asche, anstatt auf gefestigtem Stein zwischen grünen Pflanzen Tritt zu finden.

Wenn ich zurück blicke, wird der Unterschied offensichtlich. Hier pechschwarz, dort grün. Hier Asche, dort Erde. Hier kahl, dort bewachsen. Aber gräme dich nicht, kleiner Vulkan, in ein paar tausend Jahren werden auch auf dir Blumen blühen!


Nur um den Leuchtturm wachsen ein paar Büsche, wie um das ersehnte Ziel vor mir verstecken zu wollen. Leuchtturm bedeutet Küste, bedeutet Inselkante, bedeutet Ende der Wanderung. Ich werde mal klopfen, um nach einem Eis oder einem Bier zu fragen.
Es ist niemand zuhause.

Und etwas anderes fällt mir auf: Die Insel ist noch gar nicht zu Ende. Da ist ein weiterer Vulkan, ein ziemlich großer sogar. Auf der Landkarte ist er nicht eingezeichnet. Ich werde doch nicht unterwegs falsch abgebogen und auf einer anderen Insel gelandet sein?


Ein alter Herr lehnt an einem Holzgeländer vor dem Leuchtturm. Ich frage ihn: „Sagen Sie, wie heißt denn der Vulkan da vor uns?“
„Das ist der Capelinhos.“

Angestrengt blicke ich auf die Karte, aber er taucht immer noch nicht auf dem Papier auf. Ich will keine allzu dummen Fragen stellen. Zum Glück merkt der Herr, der wahrscheinlich mal Navigator für sich ständig verfahrende Kapitäne war, was los ist: „Sie haben wohl eine alte Karte?“
Naja, aus dem Zweiten Weltkrieg halt.
„Der Capelinhos ist neu, der ist da noch nicht drauf.“ Jetzt guckt er zufrieden, weil er einem Fremden etwas erklären kann. Wenn ich gewusst hätte, wie lange er dafür braucht, hätte ich mich gesetzt, aber so kann ich Euch wenigstens warnen. Macht Euch eine heiße Tasse Schokolade oder einen Gin Tonic!
Seine Erzählung beginnt im September 1957. „Damals hatten wir zweihundert Erdbeben in zwei Wochen“, sagt er und wiederholt: „Zweihundert!“ Was eine Warnung der Erde hätte sein sollen führte dazu, dass sich die Menschen daran gewöhnten. Wann immer es bebte und rumpelte, ein Haus einstürzte oder jemand in eine Erdspalte fiel, dachte man sich nur mehr: „Huch, schon wieder ein Erdbebchen.“
Manche wollten fliehen, evakuieren, Vorsorge treffen. Die Wissenschaftler des Königlich-Azoreanisch-Seismologisch-Vulkanologisch-Geodätischen Instituts warnten, dass etwas Großes im Busch war. Doch andere sagten: „Ach, diese angeblichen Experten ändern doch ständig ihre Meinung. Mal ist der Vulkan gefährlich, mal nicht.“ Die Priester beruhigten: „Wir müssen nur beten.“ Und die Liberale Partei flehte: „Die Wirtschaft darf nicht leiden!“
Am Morgen des 27. September 1957 brach ein Vulkan aus. Und zwar ganz heimtückisch keiner der bekannten, sondern ein neuer. Etwa 1 km westlich von Faial, im Meer. Es begann mit einer Rauchwolke, das Wasser brodelte und dampfte und kochte und zischte, und ein neuer Vulkan schob sich aus den Tiefen des Atlantiks in unsere Welt.

Und dazu bebte weiter die Erde. Von unten taten sich Spalten auf, von oben regnete es Asche, Lava und Gesteinsbrocken. Es war wie das Ende der Welt. Menschen wurden verschluckt. Menschen wurden verschüttet. Menschen verbrannten, verglühten, verdampften.

Und das auf einer Insel. Wo niemand weg kann.
Jetzt, wenn Ihr Euch das möglichst realistisch vorgestellt habt und nur mehr schluchzend „Mamma mia!“ ausrufen könnt, werdet Ihr froh sein, wenn Ihr meinen Rat befolgt habt, Euch einen Drink zu mixen und zu setzen. Denn der große Schock kommt erst noch:
Diese Hölle auf Erden dauerte bis zum 24. Oktober 1958. Dreizehn Monate lang!

Am Ende war der im Ozean geborene Vulkan so groß, dass er sich mit der Insel verband und diese um 2,4 Quadratkilometer vergrößerte. „Deshalb, mein Herr, steht der Leuchtturm heute nicht mehr an der Küste, wo er sinnvollerweise einst stand.“ (Ihr erkennt den Leuchtturm auf dem folgenden Foto ganz unten am Bildrand.)

Der Vulkan hat neues Land geschaffen. Allerdings Land, das niemandem nützt. Nichts wächst dort, auch 60 Jahre später. Man kann den neuen Vulkan nicht einmal besteigen, weil sich immer wieder Spalten auftun oder Klippen abbrechen. Bis Asche zu Stein wird, das dauert ein paar Millionen Jahre. Und außerdem: Wer will schon auf einem Grab herumspazieren?
Da gehe ich lieber, nachdem ich mich für die Erklärungen bedanke, in die andere Richtung. Wenn man über das Schlackenfeld hinab zum Wasser geht, fühlt man sich schon wie am Strand. Nur eben schwarz, nicht sandfarben. Es wäre idyllisch, wenn nicht plötzlich der Giebel eines verschütteten Hauses aus der noch warmen Asche ragte.


Jetzt, wo mein Blick geschärft ist für das Drama, das sich unter meinen Füßen abspielte, erblicke ich immer mehr Zeugnisse des Dorfes Comprido, das den Naturgewalten nicht rechtzeitig wich. Wie Pompeji, nur mit besserer Aussicht.


Vereinzelt haben sich Äste oder Bäumchen nach oben gegraben, wie verspätete Hilfeschreie der Toten. Ganz vorsichtig trete ich auf, um niemanden aufzuwecken. Insbesondere nicht den Herrn Vulkan.
Links:
- Mehr Vulkane.
- Mehr Berichte von den Azoren.
Pingback: The End of the World | The Happy Hermit
Etwas ganz anderes:
Bei „Die 13 Blumen“ haben mir deine beiden kurzen Kommentare gut gefallen.
Zum Beitrag am 13.5. (/Azoren): Ich muss gestehen – auch wenn ich weiß, dass viele Menschen Schlimmes erlebten -, dass es in unserem Touristengebiet es nie so schön war, wie in den 2 Monaten.
Oh, danke!
Zum 8. Mai habe ich auf meinem Blog auch etwas geschrieben, allerdings nicht zur Feiertags- sondern zu der leidigen Schlussstrichdebatte:
https://andreas-moser.blog/2020/05/08/schlussstrich/
Für mich waren diese zwei Monate auch sehr erholsam und ich habe gelernt, dass ich mit noch weniger Menschen, Trubel, Stress und Arbeit entspannter leben kann. Hoffentlich werde ich mir das bewahren.
Mein geplantes Sommer-Housesitting in Kiew ist natürlich geplatzt. aber ich bin auch gar nicht sicher, ob ich mich noch jeden Tag in die U-Bahn dort hätte zwängen wollen, solange es noch keinen Impfstoff gibt.
Pingback: Die Heiligen Geister der Azoren | Der reisende Reporter
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