Read this article in English.
Im Flugzeug auf die Insel Faial sitzen auffallend viele Menschen, die dicke Bücher auf die Reise mitgebracht haben. Auch dafür ist eine Insel gut, und ich frage mich, wieso die Menschen, wenn sie gerne lesen, nicht auch zuhause die Zeit dafür freischaufeln.
Neben mir sitzt ein junges Mädchen und liest das Tagebuch von Anne Frank. Es ist immer wieder die Jugend, die mir noch ein bisschen Hoffnung macht.
In der Reihe gegenüber sitzt ein alter Mann, der durch eine dicke Brille einen dicken Thriller liest. Er selbst sieht aus wie Norman Mailer. Mit einer Spur Clint Eastwood. Jedenfalls wie jemand, der auch einen Roman in sich hätte.
Ich beginne mit der Lektüre von „Moby Dick“ und bereue, kein Schiff auf die Azoren gefunden zu haben.
Aber wenn man über Flüge schreibt, wollen die Leserinnen und Leser nicht, dass man die Mitpassagiere und ihre Lektüre beschreibt, sondern dass man aus dem Fenster guckt. Nun ja, da gibt es nicht viel zu sehen. Wasser halt.
„Mach doch mal Fotos“, sagen die Anfänger dann, weil sie nicht wissen, dass im Ozean das gleiche Wasser wabert wie zuhause in der Wanne. Und wenn man ein Foto von den Inseln versucht, wird es verschwommen und zerkratzt.

(Das ist der Blick auf die Insel Pico, den wolkenverhangenen Berg Pico und die Stadt Madalena. Aber wenn Ihr etwas über diese Insel erfahren wollt, dürft Ihr nicht nur drüberfliegen, sondern müsst eine Woche herumwandern – oder meinen Artikel lesen.)
Und dann muss ich auch schon die Kamera einpacken, denn es heißt: „Fertig zur Landung“, und das kleine Flugzeug schwenkt auf den Hafen von Horta ein.
Auf den Hafen?
Ja, auf den Hafen, der hier gleichzeitig der Flughafen ist.
Denn das ist vielleicht doch das interessante an diesem Flug: Weil viele Inseln der Azoren zu klein für Flughäfen sind, müssen die Flugzeuge im Wasser landen. Die einzige Ausnahme ist Lajes Field, ein Flughafen, den die britische Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg auf der Insel Terceira errichtet hat. Allein die Erwähnung dieser Zeit lässt die Leserschaft die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und im Chor ausrufen: „Oh nein, nicht schon wieder ein historischer Exkurs!“, was schade ist, da dieser sich nicht auf den Zweiten Weltkrieg beschränken würde, sondern endlich mal die Möglichkeit böte, über die anglo-portugiesische Allianz von 1373 zu referieren. Aber gut, falls Euch das interessiert, drückt einfach auf den Knopf über Eurem Sitz.
Das Flugzeug senkt sich langsam Richtung Wasseroberfläche. Eigentlich ist eine Wasserlandung leichter als eine Bodenlandung, weil man ewig lang „ausrollen“ oder notfalls immer wieder zur Landung ansetzen kann. Aber das Wetter muss besser sein, denn Wellen im Wasser sind noch tödlicher als Wind auf der Landebahn.
Oh, da war ein erstes Aufsetzen.
Aber schon ist das Flugzeug wieder in der Luft.
Und wieder ein Aufsetzen.
Erneut hüpft das Flugzeug zurück nach oben, fliegt weiter.
Ich mache mir etwas Sorgen, werde aber später erfahren, dass es sich so gehört. Der Pilot setzt immer wieder ein bisschen auf, um das Flugzeug abzubremsen. Am Ende soll das Flugzeug dann so langsam sein, dass es gerade nicht mehr für den dynamischen Auftrieb reicht, und mit dem fetten Rumpf ins Wasser gleiten. Bei der dann relativ geringen Geschwindigkeit ist das kaum mehr gefährlich.

Und da hat es auch schon geklappt. Man merkt, dass man endgültig gelandet ist, wenn die Propeller wieder aufjaulen und das Flugzeug im Wasser eine Kurve beschreibt, um in den Hafen einzufahren.
Dort bin ich überrascht, wie viel Betrieb hier herrscht. Auf der ganzen Insel leben doch nur 15.000 Menschen, was machen all die Flugzeuge hier?

Ich frage die Passagiere, die gerade von einem anderen Flugzeug kommen, was sie denn auf Faial machen.

„Oh, das wissen wir selbst nicht. Wir haben ja nur eine Stunde, um uns die Beine zu vertreten und einen Kaffee zu trinken.“ Es ist nur ein Zwischenstopp für sie auf dem Flug von New York nach Lissabon.
Und plötzlich wird mir der große Andrang klar. Die Lage der Azoren mitten im Atlantik macht diese zu einem perfekten, ja eigentlich zum einzigen, Halt auf Transatlantikflügen. Gut, man könnte noch über Grönland oder Island fliegen, aber wenn man letztendlich nach Südeuropa will oder von dort kommt, dann ist das ein rechter Umweg. Und wer will sich schon extra für einen kurzen Zwischenstopp eine Winterjacke kaufen?
Die erste Landung eines Flugzeuges in Horta koinzidierte mit dem ersten Transatlantikflug überhaupt. Jetzt denken alle an Charles Lindbergh, aber nein! Der flog 1927 als erster non-stop und alleine über den Atlantik. Aber die erste erfolgreiche Atlantiküberquerung mit einem Flugzeug überhaupt vollbrachte im Jahr 1919 eine Mannschaft der US Navy mit der Curtiss NC-4.

Im Mai 1919 landete Kapitän Albert Read mit etwas, das jetzt ziemlich nach Klapperkiste aussieht, im Hafen von Horta und jagte den Fischern und Walfängern einen gehörigen Schreck ein. Aber damals ging es noch um Energieeffizienz, nicht um Luxus und Bequemlichkeit. Damals war Fliegen noch ökologisch vertretbar!
Lindbergh kam dann, weil er die Azoren bei dem Non-stop-Flug regelgemäß verpasst hatte, 1933 doch noch, und zwar um den besten Hafen für Zwischenstopps auf der Transatlantikroute auszukundschaften. Horta auf Faial befand er für den besten Hafen, und weil Lindbergh sich damals noch nicht als Nazi disqualifiziert hatte, war die Entscheidung für die großen Fluglinien damit gefallen.
Der erste regelmäßige Flugverkehr von Europa nach New York über Horta lag dann doch in Nazihand. Ob Lindbergh die Informationen heimlich nach Berlin weitergereicht hatte? Ab 1936 flog die Lufthansa mit ihren Dornier-Do-18-Flugbooten. Aber das waren erstens noch immer recht windige Flugzeuge, zweitens nur für Luftpost und konnten, drittens, typisch deutsch-umständlich, zwar im Wasser landen, aber nicht im Wasser starten. Stattdessen musste die Lufthansa ein Schiff bereitstellen, von dem aus das Postflugzeug nach der Zwischenlandung per Katapult wieder in die Luft befördert wurde.
Das ist so in etwa die Technik, die man heute noch auf Flugzeugträgern verwendet. Glaube ich.
Ab 1938 kamen dann aber regelmäßig die großen Passagiermaschinen der PanAm. Ich habe vergessen, im Flugzeug Fotos zu machen, auch weil ich das unhöflich vor den Mitpassagieren gefunden hätte. Aber hier habt Ihr einen Einblick in das Innenleben einer Boeing 314.

Ich fand es eigentlich ganz geräumig und gemütlich. Jedenfalls besser als bei Ryanair und Konsorten.
Erst nachträglich fällt mir ein, dass das Anne-Frank-lesende Mädchen vielleicht gar nicht von Interesse für den Holocaust motiviert war, sondern sich auf die bevorstehende häusliche Quarantäne vorbereiten wollte.
Praktische Tipps:
- Weil die Azoren um Gleichbehandlung aller neun Azoreninseln bemüht sind, gibt es ein tolles Angebot: Wer von Portugal aus keinen passenden (also günstigen) Flug auf die Wunschinsel findet, fliegt einfach auf eine andere Insel und bekommt den Anschlussflug gratis. Ihr müsst Euch nur hier rechtzeitig anmelden (gilt für Hin- und Rückflug).
- Die Flüge mit den Flugbooten sind eher für Nostalgiker, weshalb sie nicht übers Internet angeboten werden. Ihr müsst dazu, wie wir das früher immer gemacht haben, ins Reisebüro gehen.
Links:
- Mehr über die Azoren.
- Mehr übers Fliegen.
Hallo Herr Berichterstatter,
es ist wie verhext. Man(n) möchte von Ihnen lesen, was Frau will. Jeder Ihrer Artikel ist mit einer Prise Magie gewürzt. Einfach nur BRAVO und DANKE!
Meine Frau und ich sind große Fans und warten immer noch auf das erste Buch, in dem Sie Ihre Berichte und Photos endlich publizieren!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! (signum exclamationis)
😉
Viele, vielen Dank!
Der Druck nimmt zu, ich verspüre es trotz der geographischen Distanz. Ich hoffe deshalb, dass die Reisebeschränkungen noch lange anhalten, so dass ich an den Schreibtisch gefesselt sein werde.
Pingback: Flight to Horta | The Happy Hermit
Muss dich leider berichtigen…..
Die DO-18 konnte schon vom Wasser starten.
Aber damals legte die Post noch wert auf Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit.
– Ein Wasserstart frisst viel Treibstoff, geht also zu Lasten der Reichweite
– Wellengang der einen Wasserstart verhindert, juckt ein Katapultschiff noch lange nicht
– im Notfall hat das Schiff Wartungs- und Reparaturkapazitäten.
Hatten schon reichlich Sinn damals die Katapultschiffe….
Wie hervorragend, dass sich jemand auskennt!
Vielen Dank, jetzt ergibt das mehr Sinn.
Pingback: Und noch eine Insel! | Der reisende Reporter
Pingback: Azorische Gesichtsmasken | Der reisende Reporter
Pingback: Mit dem Flugzeug zum Müggelsee | Der reisende Reporter