Read this article in English.
Wenn man lange genug auf einer Insel im Atlantik festsitzt, kommen einem Geschichten von Edgar Allan Poe, Jules Verne und Astrid Lindgren in den Sinn. Insbesondere wenn die Postschiffe anscheinend nicht fahren, weil noch kein Rettungspaket mit Büchern und Zigarren eingetroffen ist.
Wie die Schiffbrüchigen in Romanen habe auch ich – was für ein Zufall – noch etwas Papier und Tinte und eine gerade geleerte Schnapsflasche zur Hand. Da ich bekanntermaßen allem Technisch-Modernen gegenüber eher skeptisch bin, liegt die Idee nahe, eine gute alte Flaschenpost zu schreiben und zu versenden.

Schon als Kind habe ich mit diesem Gedanken gespielt, nachdem ich im Atlas, diesem ständigen Entfacher von Fernwehträumereien, eruiert hatte, dass der Ammerbach in die Vils, die Vils in die Naab, die Naab in die Donau und die Donau ins Schwarze Meer fließt. Was für ein romantischer Gedanke, eine Nachricht an Unbekannte zu schreiben, die nach einigen Monaten in Sewastopol, in Samsun oder in Sochumi aus dem Meer gefischt würde. Damals sammelte ich noch Briefmarken und hoffte auf eine entsprechend bunt frankierte Antwort.
Leider musste ich feststellen, dass schon der mickrige aus dem Dorf führende Bach von Wehren, Schleusen und Staudämmen in seinem freien Fluss blockiert wurde und die mit weitschweifiger Prosa gefüllte Flasche immer wieder hängen- und steckenblieb. „Was für eine hämische Metapher auf meine eigene Gefangenschaft in dieser meereslosen Provinz“, beklagte sich das damals etwa achtjährige Ich, wie eben Kinder so sprachen, bevor es Internet gab und man seine Ausdrucksweise noch an echten Büchern schärfte.
Aber jetzt weile ich auf den Azoren, mitten im Atlantik. Nichts steht dem freien Reisen der Flasche entgegen, die ich hier den Wellen übergebe. Die thermohaline Zirkulation des Nordatlantikstroms kann sie bis nach Island, Norwegen, Grönland und Spitzbergen tragen. Aber vielleicht ergreift sie auch der Golfstrom, der Azorenstrom und der Kanarenstrom und trägt sie zu den Kapverdischen Inseln oder an die Küste Mauretaniens oder nach Dakar, wo andere Leute umständlich mit dem Auto hinfahren.

Zwar trinke ich literweise Cola, aber eine Plastikflasche erscheint mir zu stillos für dieses Projekt. Und vielleicht schwirrt die Post so lange über die Weltmeere, dass beim Empfang Plastik schon verboten sein wird. Zum Glück habe ich gerade eine Flasche Anisschnaps geleert, deren Etikett sogar auf die Azoren hinweist.

Jedenfalls schreibe ich einen kurzen Brief und gehe runter an die Küste, um die Flaschenpost auf ihre Erdumlaufbahn zu bringen. Das ist gar nicht so einfach. An den meisten Stellen bin ich so hoch über dem Meer, dass die Flasche wahrscheinlich an den Felsen zerschellt, wenn ich sie ins Wasser werfen will. Ich bin ja kein Weitwurfweltmeister.


So wandere ich, auch das eine Metapher für mein Leben, für diese kleine Projekt mit sehr geringen Erfolgsaussichten kilometerweit und stundenlang die Küste entlang, bis ich den mir geeignet erscheinenden Ort erspähe.

Ja, hier kann ich die Klippen nach unten klettern, von Felsen zu Felsen springen und dann vom vordersten Außenposten der Insel die Flasche ins Meer befördern.

Dem Ozean gefällt die Idee allerdings überhaupt nicht. Immer wilder und heftiger tobt es. Als die Drohgebärden nicht ziehen, umspült es mich von allen Seiten. Ich bin gerade dabei, den Brief in die Buddel zu stecken, als mein sicher geglaubter Vorposten vom Wasser vollkommen überspült wird.


„Vielleicht ist das doch ein wenig gefährlich“, würde ich mir denken, wenn ich noch denken könnte. Aber jetzt geht es ums reine Überleben. Ich halte die Flasche, wegen der ich heute schließlich mein Leben riskiere, fest, als ich mich ins Wasser fallen lasse. Und zwar genau als die nächste Tsunamiwelle über mich hinwegfegt in der Hoffnung, so wenigstens an die Klippen anstatt aufs offene Meer geschwemmt zu werden.
Was soll man sonst tun? Es weiß ja keiner, wann die nächste Ebbe kommt. Und wenn man bis zur Dunkelheit auf einem vom Festland abgeschnittenen Felsen herumsitzt, dann wird einem womöglich noch langweilig und man kommt – ganz ausschließen lässt sich das nicht – auf dumme Ideen.
Um es kurz zu machen: Ich habe überlebt, es war sogar irgendwie erfrischend. Aber die Anisflasche ist zerschellt, und mir bleibt nur eine aufgeschnittene rechte Hand. Zum Glück hatte ich im Rucksack noch eine Bierflasche. Die ist zwar weit weniger repräsentativ. Und ob der wiederaufgepfropfte Kronkorken bis in die Antarktis hält, das bezweifle ich. Aber sie geht zumindest nicht unter, bis ich sie aus den Augen verliere.

Und jetzt heißt es, Geduld zu haben. Der Rekord für die am längsten treibende und schließlich aufgefundene Flaschenpost liegt bei 132 Jahren. Davon hätte ich dann nichts mehr, aber mit mit meinen 44 Jahren oder so kann ich mich relativ entspannt zurücklehnen.
Ich kürze jetzt die mühsame Kletterei über die Klippen ab. Als ich erschöpft und am Ende meiner Kräfte in der Wiese liege, wo mich die Sonne schnell trocknet, ärgere ich mich noch immer über die verlorene Flasche. Zuhause habe ich noch Gurken- und Pepperonigläser, fällt mir ein. Die müssten mit ihrem Schraubverschluss doch ganz sicher wasserdicht sein. Aber die nächsten Briefe werde ich in Horta ins Wasser werfen, da gibt es einen Hafen und sogar einen kleinen Strand.
Links:
- Angeregt zu dieser Aktion wurde ich durch ein Weltwach-Interview mit Oliver Lück, der ein Buch mit Flaschenpostgeschichten geschrieben hat.
- Es gibt einen ganzen Blog, der sich den Buddelbriefen widmet.
- Schade, dass ich auf meinen Atlantiküberquerungen keine Flasche zur Hand hatte. Aber damals war ich so knapp bei Kasse, dass ich mir nicht einmal ein Bier leisten konnte.
- Hier gibt es übrigens noch mehr Geschichten von den Azoren.
Falls Ihr nicht auf den Zufall vertrauen wollt, meine Flaschenpost zu finden, oder nicht am Meer wohnt, schicke ich Unterstützern dieses Blogs auch gerne eine Postkarte von den Azoren.
Pingback: Message in a Bottle (from the Azores) | The Happy Hermit
Hach, was für ein – bis auf die blutige Hand – wunderschönes, ganz toll erzähltes Abenteuer! Auch unsere Zunft hat, wie hier zu lesen, ihre wahren Helden. 😉
In meinen Jugendtagen verschickte ich mal eine Flaschenpost in einer kleinen, etwas patinierten Madeiraflasche. Die Erinnerung daran brachte mich auf die Idee, zu recherchieren:
Auch auf den Azoren gibt es Weinanbau. Also auch Flaschen. Da müsste sich also was machen lassen. 🙂 Also: gleich den nächsten Versuch starten, egal ob mit Weinflaschen, Gurken- oder Peperonigläsern!
Frohes Treiben-Lassen!
Vielen Dank! Aber wenn ich heute meine Hand ansehe, merke ich, dass es dramatischer rüberkam als es war. Es verheilt alles schon blitzschnell.
Ich trinke nicht so viel Alkohol, deshalb sammeln sich nicht so viele Flaschen an. Aber heute beim Einkaufen habe ich schon gemerkt, dass ich bewusst Saucen in verschraubbaren Gläsern kaufe. 🙂
Ich muss die Zeit hier schließlich nutzen, denn ab Juni bin ich wieder in Bayern, also so weit wie nur denkbar vom Meer entfernt.
Gute Besserung mit der Hand! Als Jugendliche habe ich mehrere Postflaschen dem Meer überantwortet. Inzwischen bin ich fast froh, dass keine Antwort kam…. 😉
Och… 😉😎
Wenn ich heute meine Hand ansehe, glaube ich, dass ich den Schnitt am Finger etwas überdramatisiert habe. 🙂
Und angesichts der langen Postlaufzeiten im Ozean würde ich noch nicht aufgeben! Vielleicht war die Flasche auch zwischenzeitlich im Packeis eingeschlossen und taut gerade erst wieder auf.
Übrigens, Oliver Lück hab ich auch mal kennengelernt. 😎
https://flaschenposten.wordpress.com/2014/12/12/luck-locke-und-die-philosophie-der-flaschenpost/
Ich sehe, bei dir laufen alle Flaschenpostfäden zusammen!
Danke für den guten Bericht, der mir mal wieder klar gemacht hat, wie vergleichsweise unprofessionell ich an die Sache gegangen bin. 🙂
Mir gefällt die Idee auch, nicht zu wissen, wer die Post bekommt und über das Meer mit allen Wasserläufen verknüpft zu sein. Eine etwa melancholische Geschichte zwischen Fernweh in Ernüchterung. Danke!
Und ich stelle mich darauf ein, dass ich erst wieder von der Flaschenpost höre, wenn ich sie schon lange vergessen haben werde.
Pingback: Vor hundert Jahren war an Weihnachten noch was los – Dezember 1920: Blutweihnacht | Der reisende Reporter
Pingback: Vor hundert Jahren hatten Schiffe noch Katzen, und Flugzeuge verschwanden nicht nur im Bermuda-Dreieck – Januar 1921: Carroll A. Deering | Der reisende Reporter
Pingback: Flaschenpost vom Müggelsee | Der reisende Reporter