Vor hundert Jahren konnten die Weißen nicht ertragen, dass Schwarze erfolgreich waren – Mai 1921: Black Wall Street

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Eine weiße Durchschnittsfamilie in den USA verfügt über ein Nettovermögen von 171.000 $, eine farbige Durchschnittsfamilie über 17.150 $. Dass da etwas faul ist und dass diese Vermögenskluft nicht an individuellem Fleiß oder Faulheit liegt, leuchtet jedem ein.

Es wird Euch nicht überraschen, dass ich im Rahmen dieser kleinen Geschichtsreihe die wagemutige These vertrete, dass historische Unterdrückung und Ungleichbehandlung die Grundlagen der noch immer deutlichen Vermögensunterschiede darstellen. Denn so Dinge wie die Verschleppung und Versklavung von Afrikanern nach Nord-, Mittel- und Südamerika hören nicht einfach auf, ihre Wirkung zu entfalten, nur weil in den USA 1865 nach dem Ende des Bürgerkriegs die Sklaverei aufgehoben wurde. Um es auf den Punkt zu bringen: Es nützt dir nicht allzu viel, wenn du von einem Tag auf den anderen rechtlich frei bist, aber Reichtum, insbesondere Landbesitz, politische Macht und Zugang zu Bildung weitgehend unerreichbar bleiben.

Die rechtliche Freiheit bedeutete noch lange keine rechtliche, geschweige denn wirtschaftliche oder gesellschaftliche Gleichheit. Statt Friede, Freude, Eierkuchen gab es Rassentrennung, Lynchmorde und den Ku Klux Klan.

Dabei begann alles mit einer visionären Idee: Im Januar 1865 ordnete die siegreiche Armee der Nordstaaten an, den Grundbesitz der Sklavenhalter in den Südstaaten zu konfiszieren und an die ehemaligen Sklaven zu vergeben. Jede Familie sollte bis zu 16 Hektar Land und ein Maultier zur selbständigen Bewirtschaftung erhalten. (Ja, sozialistische Bodenreform ist eigentlich eine US-amerikanische Erfindung, auch wenn die Herren Guevara und Castro das nicht hören wollen.)

Dummerweise wurde aus dieser Idee nichts, weil US-Präsident Abraham Lincoln bekanntlich im April 1865 erschossen wurde. Sein Nachfolger Andrew Johnson war nach einhelliger Meinung einer der schlechtesten Präsidenten in der US-amerikanischen Geschichte und damit das erklärte Vorbild von Donald Trump.

Außerdem war Andrew Johnson ein Rassist und fand, dass Schwarze intellektuell und moralisch nicht zum Landbesitz oder zum Führen einer Landwirtschaft in der Lage wären. Im Herbst 1865 hob er die Anordnung von General William Sherman auf. Viele Schwarze mussten, auch weil ihnen der Zugang zu etlichen anderen Berufen verboten war, wohl oder übel wieder auf die Baumwollplantagen und als Pflücker schuften. Was hätten sie sonst tun sollen? Gut, eine Rebellion wäre eine Möglichkeit gewesen, aber mit „Spartacus“ kam diese Idee erst hundert Jahre später ins Kino.

Apropos hundert Jahre: Weil sich diese Folge um Ereignisse vor genau hundert Jahren, also im Mai 1921 drehen soll, müssen wir einen Zahn zulegen und die weitere Vorgeschichte so rasend schnell abhandeln, dass sie vor Auslassungen und Ungenauigkeiten so strotzt wie ein Geschichtsbuch in Oklahoma.

Also, in den Südstaaten war es für die Schwarzen weiterhin ungemütlich. Zum Glück fanden die USA im Westen immer neues Land, das sie den Ureinwohnern wegnahmen. Nach Westen zogen nicht nur Weiße, sondern auch Schwarze und (unfreiwillig) aus dem Osten vertriebene Ureinwohner. Im Westen war das Leben auch nicht frei von rechtlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung, aber dort konnten die Schwarzen Land bewirtschaften oder als Cowboys arbeiten.

Und stellenweise, also dort, wo die Weißen das Land für zu schlecht befanden und sich eine ausreichend starke schwarze Gemeinschaft zusammenfand, entstanden kleine Zentren schwarzer Geschäftstätigkeit. Eine dieser Gemeinden war der Stadtteil Greenwood in Tulsa, Oklahoma.

Nördlich der Bahnlinie gelegen, wurde das Viertel von der weißen Mehrheit in Tulsa abschätzig „Little Africa“ genannt. Dort blieben die Schwarzen unter sich, und mit der Zeit eröffneten sie eigene Geschäfte, zwei Kinos, zwei Zeitungen, Restaurants, Nachtclubs, Banken, etliche Kirchen, eine Bibliothek. Schwarze Anwälte, Ärzte, Buchhalter, Fotografen und andere Dienstleister siedelten sich an. Als Öl entdeckt wurde, waren auch Schwarze unter den Eigentümern von Bohrtürmen.

Aus „Little Africa“ war die „Black Wall Street“ geworden.

Und das war ein Problem für viele Weiße. Denn die Rassentrennung, in den USA bis in die 1960er Jahre in vielen Bundesstaaten Gesetz, basierte auf der Idee, dass Schwarze den Weißen geistig und moralisch unterlegen seien. Wenn Weiße sehen, dass Schwarze auch Anwälte und Lehrer werden, nach Öl bohren und diesen ganzen Kapitalismuszauber abziehen, dann wackelt das weiße Weltbild.

Und, alter Südstaatenspruch, „wenn das Weltbild wackelt, wird ein Schwarzer abgefackelt“. Der Ku-Klux-Klan war auch in Tulsa höchst aktiv. Immer wieder wurden Farbige misshandelt und getötet. Die Weißen waren auch scharf auf das Schwarzenviertel. Sie wollten die Grundstücke für ihre eigenen Geschäfte und die Schwarzen aus der Stadt drängen.

Übrigens, ich wollte schon lange erwähnen, dass wenn ich „Weiße“ schreibe, natürlich nicht alle Weißen meine. Sicher gab es darunter auch Nichtrassisten. Aber dann sehe ich solche Fotos, die als Postkarten gedruckt und verschickt wurden, wie Ansichtskarten von den Niagarafällen. Und dann finde ich passiven Nichtrassismus wieder ziemlich schwach. Manchmal muss man aktiv Antirassist sein.

Tulsa war im Mai 1921 ein Pulverfass.

Den Funken an die Lunte legten zwei unvorsichtige Teenager.

Am 30. Mai 1921 fuhr Dick Rowland, ein 19-jähriger, farbiger Schuhputzer mit dem Aufzug in das oberste Stockwerk eines Gebäudes, wo sich weit und breit die einzige Toilette befand, die Farbige benutzen durften. Der Aufzug wurde betrieben von Sarah Page, einer 17-jährigen Weißen. Irgendwas passierte. Oder auch nicht. Jedenfalls rannte Rowland aus dem Gebäude, Fräulein Page machte angeblich einen erschrockenen Eindruck, und eine Verkäuferin benachrichtigte die Polizei. Obwohl die Fahrstuhlschaffnerin aussagte, dass Rowland sie nur am Arm berührt habe und dass sie keine Anzeige erstatten wolle, wurde Rowland am nächsten Tag verhaftet und in eine Zelle im Gerichtsgebäude gebracht. (Seither steigen amerikanische Männer nicht mehr mit einer Frau in den gleichen Fahrstuhl.)

Am gleichen Tag, den 31. Mai 1921, erschien in der Nachmittagsausgabe der „Tulsa Tribune“ eine verzerrte Darstellung unter der Überschrift „Schnappt Euch den Neger, der das Mädchen im Fahrstuhl angegriffen hat“ und mit dem Hinweis auf den Aufenthaltsort Rowlands im Gerichtsgebäude.

Das brachte das Pulverfass zum Überlaufen.

Ein weißer Mob zog bewaffnet zum Gericht, um die Herausgabe des jungen Mannes zu fordern. Schwarze bewaffneten sich ebenfalls und zogen zum Gericht, um das Gebäude vor einer Erstürmung zu schützen. Die Situation war zum Zerbersten gespannt. Als ein Weißer einem Schwarzen die Waffe entwenden wollte, löste sich ein Schuss, und ab da war der Teufel los.

Es folgten 16 Stunden mit Schießereien, Gewalt, Plünderung, Brandstiftung.

Die Feuerwehr tat, wie das Protokoll bei Pogromen verlangt, nichts. Die Polizei verteilte Dienstmarken und Waffen an die weißen Plünderer. Bis zu 300 Menschen wurden erschossen, Tausende Farbige wurden interniert.

Erst die Nationalgarde, die am 1. Juni 1921 eintraf, konnte den weißen Mob unter Kontrolle bringen. Aber „Black Wall Street“, die erfolgreiche schwarze Gemeinde, war komplett zerstört.

Jetzt wäre das Land billig zu haben, hofften die weißen Bürger Tulsas. Doch die Schwarzen wollten ihr Viertel wieder aufbauen, obwohl ihnen allerhand Steine in den Weg gelegt wurden. Versicherungen zahlten nicht, weil es sich um „Rassenunruhen“ gehandelt habe. Dieses Wort, das heute noch manchmal gedankenlos in den Mund genommen wird, verschleiert, von wem die Gewalt ausgeht, wer die Opfer sind und dass ein Pogrom keine „Unruhe“ zwischen zwei Gruppen ist.

Der weiße Stadtrat veränderte die Bauleitplanung und die Bauvorschriften, um den Wiederaufbau zu erschweren. Staatliche Unterstützung für den Wiederaufbau erhielten nur wenige. Aber die „Black Wall Street“ entstand von Neuem.

Und niemand sprach mehr über das Massaker von 1921. Niemand wurde verurteilt. Kaum jemand erfuhr von den Gewalttaten, aber genauso wenig, und vielleicht ist das der wichtigere Aspekt, von „Black Wall Street“, von erfolgreichen schwarzen Geschäftsleuten. Denn erfolgreiche Schwarze, ja auch nur ebenbürtige Schwarze, das passte den Weißen nicht ins Konzept. Nicht nur in Tulsa.

Die fortgesetzte Diskriminierung erfolgte teilweise ganz offen, bei der Rassentrennung in Schulen, im öffentlichen Nahverkehr, in Restaurants, in Parks. Es gab Heiratsverbote zwischen Weiß und Schwarz, und vielen Schwarzen wurde das Wahlrecht verwehrt. Ersteres ist abgeschafft, letzteres wird noch immer versucht.

Auch das Strafrecht war eine beliebte Methode, die Sklaverei faktisch fortzusetzen. Schwarze wurden auf Basis banaler oder erfundener Vorwürfe zu Haftstrafen verurteilt und dann zur Zwangsarbeit an Baumwollplantagen, Sägewerke und Minen weitergereicht.

Aber, auch wenn es sich nicht so dramatisch anhört wie Sklaverei oder Zwangsarbeit, für die eingangs angesprochene Vermögensungleichheit zwischen Weißen und Schwarzen ist eine andere Form der Diskriminierung wahrscheinlich relevanter: der unterschiedliche Zugang zu Hypothekendarlehen, zu Bankkonten, zu Kreditkarten und anderen Finanz- und Versicherungsdienstleistungen.

Denn ein wesentlicher Grundstock der Vermögensbildung (nicht nur) in den USA ist Eigentum an Immobilien sowie das Erben derselben. Wer aus der Arbeiterklasse oder der Mittelschicht Immobilieneigentum erwerben will, benötigt dazu im Normalfall einen Kredit, der gewöhnlich durch eine Hypothek auf das Grundstück gesichert wird. In der Theorie richtet sich die Darlehensgewährung nach dem Einkommen der hausbauenden/-kaufenden Familie und dem Wert des Grundstücks bzw. den zu erwartenden Wertsteigerungen.

In der Praxis wurden während der Boomjahre nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die jüngste Zeit Stadtpläne in verschiedene Risikozonen eingeteilt, die entlang der alten Rassentrennungsgrenzen verliefen. So wurden überwiegend von Schwarzen und Latinos bewohnte Wohnviertel mit so einem hohen Risiko bewertet, dass der Staat keine Garantie für Hypotheken abgab, womit kaum eine Bank dort Darlehen vergab. (Sogenannte rote Zonen, deshalb der Begriff „Redlining“.)

Und das geschah selbst dann, wenn diese Viertel im Durchschnitt wohlhabender waren als manche weiße Viertel! Ärmere Weiße bekamen also leichter eine Hypothek als gutverdienende Farbige. Und weil Wohlstand fast automatisch zu mehr Wohlstand führt, werden die Weißen über die Generationen immer reicher, während die Schwarzen mit ihrem Einkommen nur die Vermieter reich machen. (Ja, natürlich gibt es Ausnahmen, aber die sind in den oben erwähnten Mittelwerten ja schon eingerechnet.)

Und jetzt kommt das Perfide: das Zusammenspiel von Rassismus und Kapitalismus.

Weil Zuzug von Farbigen in ein Viertel die Chance auf Hypotheken reduziert, sinken dadurch die Immobilienwerte in der Nachbarschaft. Die weißen Hauseigentümer und Immobilienmakler müssen also gar nicht rassistisch sein, sondern „nur“ aus rein finanziellem Interesse handeln, um schwarze Nachbarn abzulehnen. Das Ergebnis von früherem Rassismus wird durch die Marktwirtschaft perpetuiert, selbst wenn niemand mehr rassistisch motiviert handeln würde. (Was nicht der Fall ist, wie Verfahren aus dem Jahr 2015 zeigen.)

Und so ist auch diese Geschichte, obwohl sie vor 100 Jahren spielt, noch lange nicht vorbei.

Ach ja, letztes Jahr – 99 Jahre nach den Ereignissen – wurde die „Black Wall Street“ und der Pogrom endlich in den Lehrplan der Schulen in Oklahoma aufgenommen. Noch heute werden in Tulsa Massengräber von 1921 entdeckt. – Aber gut, Deutschland braucht ja auch mehr als 100 Jahre, um einen Völkermord anzuerkennen. Und mit der Anerkennung allein ist es nicht getan, denn auch in Namibia sind die gegenwärtigen Landbesitzverhältnisse die Fortschreibung des Kolonialismus.

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Über Andreas Moser

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7 Antworten zu Vor hundert Jahren konnten die Weißen nicht ertragen, dass Schwarze erfolgreich waren – Mai 1921: Black Wall Street

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  3. Kasia schreibt:

    Viel Hintergrund und schwerer Kost. Das mit dem Landbesitz in Namibia ist uns vor Ort ganz stark aufgefallen. Als Schwellenland angesehen, ist trotzdem kaum ein Landgut oder eine Lodge in schwarzer Hand. Zumindest nicht, soweit wir es feststellen konnten. Das zog sich (Stand 2017) die gesamte Reise hindurch. Die namibische Regierung wollte damals, soweit ich gehört hatte, gegenwirken, die Landbesitze aufkaufen und an einheimische Interessenten weiterverkaufen. Keine Ahnung, was daraus geworden ist…

    • Andreas Moser schreibt:

      Danke für diesen Einblick in ein Land, in dem ich noch nie war – noch nicht einmal in der Nähe. :/

      Das ist schon krass, wenn man bedenkt, dass diese Landverteilung darauf zurückgeht, dass die Deutschen die Schwarzen ehemaligen Landbesitzer in die Wüste und in den Tod getrieben haben.

      Ähnlich war es in Südamerika, wo die Unabhängigkeitskriege am Anfang des 19. Jahrhunderts zwar zur politischen Unabhängigkeit von Spanien geführt haben, aber die Nachfahren der Spanier und anderer Europäer die größten Landbesitzer blieben. Soeit ich weiß, gab es nur in Bolivien eine Landreform, und auch das erst 1953.

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