Selbstmord ist nicht unbedingt etwas Schlechtes

Heute, am 10. September, ist der „Welttag der Suizidprävention“.  Naja, wenigstens mal ein Tag, von dem man sicher sein kann, dass er nicht von der Glückwunschkartenindustrie ersonnen wurde. Dennoch bleibt die Frage, die ich mir stellte, als ich das erste Mal von diesem Tag hörte: Suizidpräventionstag? Warum? Oder, vielleicht passender zum Thema, warum zum Henker? Warum sollte man Selbstmorde verhindern?

Ich werde nicht fordern, dass es einen „Welttag des Suizids“ gibt oder dass der Freitod aktiv gefördert und dazu ermutigt werden soll. Aber ich glaube, dass der Suizid und die Menschen, die sich zu diesem Schritt (von der Hochhauskante) entschließen, nicht mehr mit dem Stigma des Versagens und der Verzweiflung bedacht werden sollten.

Die Reaktion, die mich am meisten aufbringt, wenn Leute vom Selbstmord eines Menschen erfahren haben, ist die vorwurfsvolle und oft selbstbemitleidende Frage „Wie konnte er uns das nur antun?“ Erstens, das Herz eines jeden Menschen ist voller Geheimnisse, so dass man sich jedes Urteils enthalten sollte, solange die betroffene Person ihre Motive nicht offenbart. Zweitens, niemand hat eine Pflicht, am Leben zu bleiben. Da uns niemand gefragt hat, ob wir geboren werden wollen, haben wir nicht einmal eine Verpflichtung gegenüber unseren Eltern, geschweige denn gegenüber Freunden, Kollegen oder der Gesellschaft.

Die einzigen Menschen, die mit etwas Fug und Recht behaupten können, dass jemand, der darüber nachdenkt, sein Leben zu beenden, ihnen gegenüber eine Verpflichtung hat, sind dessen Kinder. Denn schließlich war man für deren Geburt ursächlich und meist auch verantwortlich. Ich würde auch argumentieren, dass solch eine Pflicht nicht einmal gegenüber dem Partner besteht. Denn schließlich kann jede Partnerschaft dadurch beendet werden, dass man den anderen verlässt. Und was ist ein Selbstmord anderes als ein unzweideutiges Adieu?

Ein Suizid wird viel zu schnell mit Versagen assoziiert und als Akt des Aufgebens interpretiert. Dabei kann man sich viele Beweggründe vorstellen: Das Gefühl, ein erfülltes Leben gehabt zu haben, dessen Erlebnisse nicht mehr zu steigern sind. Neugier auf den Vorgang an sich und auf ein mögliches Leben nach dem Tod (aus diesem Grund sollten religiöse Menschen eigentlich ganz scharf auf Selbstmord sein). Übertriebene Abenteuerlust. Oder um ein Fanal zu setzen.

Wie will man Selbstmord mit Versagen assoziieren, ohne erklären zu können, was den Sinn des Lebens ausmacht? Solange es keine überzeugende, allgemeingültige Theorie über den Sinn des Lebens gibt, ist das Verlassen dieses Lebens keine schlechtere Wahl als das Verbleiben.

Ein Suizid sieht weniger negativ oder furchteinflößend aus, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass wir alle sterben werden. Ohne Ausnahme. Manche von uns werden im Schlaf sterben, wovon ich nicht sicher bin, ob es so friedlich ist, wie es gewöhnlich dargestellt wird. Andere unter uns werden eine schreckliche Krankheit erleiden. Oder sie werden von einem Lastwagen überfahren und verbluten. Andere werden ertrinken. Oder auf eine Landmine treten, in einem Feuer verglühen oder verhungern.

Entschuldigung für die Dramatik, aber vielleicht erkennt man angesichts dieser Aufzählung, dass es ein ziemlich vernünftiger Wunsch sein kann, Zeit, Ort und Art seines Todes selbst zu wählen.

Wenn das gesellschaftliche Stigma des Suizids beseitigt oder zumindest reduziert würde, könnten die Interessenten es möglicherweise auf eine friedlichere und kontrolliertere Weise durchführen. Meine Hoffnung ist, dass dann weniger Menschen vor Züge springen oder ihre Küche in die Luft sprengen.

Das führt uns zum rechtlichen Status des Suizids. Die ganze Angelegenheit wäre sauberer und weniger disruptiv (vor allem für den Bahnverkehr), wenn es legal wäre, Menschen bei der Umsetzung ihres Wunsches, das eigene Leben nach eigenem Ermessen zu beenden, zu unterstützen. Insbesondere finde ich es unfair und unethisch, dass kranken Menschen in vielen Staaten jegliche derartige Unterstützung versagt bleibt, während jeder gesunde Mensch eine Waffe (in den USA) oder ein Motorrad (im Rest der Welt) als Tatwerkzeug kaufen kann. Alte, gebrechliche und kranke Mencschen werden dadurch gegenüber jungen und gesunden Menschen erheblich benachteiligt.

Selbstmord ist eine Entscheidung, von der man sicher sein kann, dass man sie nachher nicht bereuen wird. Und es gibt nicht viele Dinge im Leben, von denen man das behaupten kann.

Wenn ich von jemandes Suizid höre, ist meine erste Reaktion die der Bewunderung. Ich bewundere den Mut (denn so logisch es auch sein mag, leicht ist es nicht) und die Entschlossenheit, die ultimative Entscheidung im Leben selbst vorzunehmen. Wir diskutieren über alle möglichen persönliche Freiheiten; warum sollten wir diese ultimative Freiheit ausschließen, deren Ausübung die Rechte keines anderen Menschen verletzt?

Suicide, 1881 (oil on canvas)

Links:

  • Diesen Artikel hatte ich schon 2010 auf meinem englischsprachigen Blog veröffentlicht, wo er viele Diskussionen ausgelöst hat und noch immer auslöst. Die Lektüre der mehr als 270 Kommentare dürfte von Interesse sein. Dabei sind ‚pro‘ und ‚contra‘ etwa gleich vertreten. Besonders aufwühlend sind die Kommentare von Lesern, die ihren eigenen Freitod ankündigen.
  • Dieser Artikel erschien auch im Freitag.

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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17 Antworten zu Selbstmord ist nicht unbedingt etwas Schlechtes

  1. Pingback: Suicide is not such a bad thing | The Happy Hermit

  2. aries schreibt:

    Suizid ist viel mehr für die reiche! Und wenn die Kirche für Suizid gut bezahlen würde, dann gebe es weniger Amokläufer.

  3. J. D. Bennick schreibt:

    Interessanter Artikel, der, wenn er aus dem Jahr 2010 stammt, nichts an Aktualität verloren hat. Ein Merkmal von schlauen Leuten ist, dass sie Dinge beschreiben können, die noch in tausend Jahren zutreffen. Das hat nichts mit Hellseherei zu tun, sondern einzig mit Menschenverstand und sehr guter Beobachtungsgabe. Ihr Scharfsinn jedenfalls ist ein Hochgenuss für jedes halbwegs denkendes Individuum. Man könnte sagen, wer Ihren Blog liest, entfernt sich vom Suizidgedanken, weil er könnte ja mit jedem weiteren Artikel etwas verpassen.

    Chapeau!

    Liebe Grüße

    Ihr J.D. Bennick

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank für die lobenden Worte, auch wenn ich als angehender Historiker vor Prophezeiungen über tausend Jahre warnen muss.
      Jedenfalls habe ich jetzt eine Motivation, öfter und emsiger zu schreiben. Liebe Selbstmordkandidaten, haltet ein! Denn hier lauern noch viele nachdenkliche, humorvolle und lehrreiche Artikel.

  4. Andreas Moser schreibt:

    In Erich Kästners „Fabian“ findet sich die vorbildliche Reaktion eines Vaters, als er den sich erschossen habenden Sohn vorfindet: „Er hat gewusst, was er tat. Und wenn er es für das Klügste hielt, brauchen die anderen nicht zu weinen.“

  5. Respekt. Du hast eine wahnsinnig tiefgreifende, intensive und ehrliche Sichtweise. Es tut gut so etwas zu lesen und nicht nur den ganzen oberflächlichen Blödsinn von wegen „bring dich nicht um, dass ist schlecht für dein Karma“. Danke vielmals für diesen Beitrag, das hat meine Sichtweise erweitert 🙂 Wirklich Danke! ~lg Ceyes.

  6. Anonymous schreibt:

    Wie bekomme ich das hin ohne das es jemand merkt das es selbstmord war?

    • Andreas Moser schreibt:

      Für mich persönlich würde ich das Modell „Selbstmord durch Abenteuer“ wählen: Zum Beispiel auf eine Wanderung aufbrechen, ohne Handy, ohne Geld, irgendwo wo niemand wohnt, und dann verhungen, erfrieren oder vom Bären gefressen werden.

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  11. hgamma schreibt:

    Zum endgültigen Abschied

    dazu braucht
    es dem Verstorbenen
    darüber keinen Diskurs

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