Manchmal hat das Kommittee für den Literaturnobelpreis etwas komische Ideen. So ging 2016 der Preis an einen Sänger, der gar keine Bücher geschrieben hat. 2018 wurde die Preisverleihung ganz vergessen. Aber 2015, das war ein völlig berechtigter Preis für Swetlana Alexijewitsch.
Dabei könnte man auf den ersten Blick denken, dass die Schritstellerin aus Weißrussland/Belarus selbst kaum schreibt. Denn ihre Bücher sind Collagen aus Erzählungen anderer Leute, ziemlich langen Erzählungen, immer über das ganze Leben, oft auch noch das der Eltern oder der Kinder. Aber Alexijewitsch hört zu, vor allem Menschen, denen sonst niemand zuhört, für die sich niemand interessiert, die vergessen und abgeschrieben wurden. Wie eine der alten Damen fragt: „Ich weiß gar nicht, wieso Sie zu mir kommen. Was soll ich ihnen schon erzählen?“ Und dann erzählt sie vom Zweiten Weltkrieg, von Stalin, von der Verbannung nach Sibirien, vom Kommunismus, von der Perestroika, von Hoffnungen und Enttäuschungen.

Die Leistung von Alexijewitsch besteht darin, diese Menschen ausfindig zu machen, zum Sprechen zu bringen, auch über persönlichste Dinge, und auch den richtigen Mix aus Alt und Jung, Parteikadern und Dissidenten, Politischen und Unpolitischen, Männern und Frauen herzustellen. Ich habe mir als erstes Buch Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus vorgenommen, in dem das Ende der Sowjetunion und die Zeit der Perestroika erzählt werden.
Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich beginne, die Zeit zu verstehen. Denn so unterschiedlich die Erfahrungen und Perspektiven der Hunderten von Stimmen sind, so kristallisiert sich doch ein weitgehender Konsens heraus. Allerdings ein Konsens, der auf Außenstehende verstörend wirkt.
Fast keiner der Gesprächspartner verklärt die Sowjetunion, aber alle sind nostalgisch.
Interessant, auch für die deutsche Ostalgie/Unrechtsstaat-Diskussion, finde ich, dass auch diejenigen mit nostalgischen Gefühlen überhaupt nicht leugnen, dass die Sowjetunion die Bevölkerung unterdrückte. Aber dennoch (S. 111):
Vielleicht war das ja ein Gefängnis, aber mir war in diesem Gefängnis wärmer.
Oder, ganz explizit auf den KGB bezogen (S. 58), betont einer, dass es zumindest allen gleich (schlecht) ging:
Alle hatten vor etwas Angst, auch diejenigen, vor denen man Angst hatte.
Fast alle Gesprächspartner haben gelitten in der Sowjetunion, manche waren selbst im Gefängnis oder im Arbeitslager, viele hatten Verwandte oder Eltern im Arbeitslager. Immer wieder fällt dann der Satz: „Aber wir haben Hitler besiegt.“ Aus dem Westen fällt es leicht, zu spotten über die Paraden am 9. Mai. Aber aus den Gesprächen mit den alten Menschen wird deutlich, wie sinnstiftend der Große Vaterländische Krieg und der Sieg über Nazi-Deutschland war. Von dieser kollektiven Anstrengung konnte die Sowjetunion anscheinend noch 45 Jahre lang zehren, obwohl die Gesprächspartner nicht verschweigen, wie grausam die sowjetischen Kriegsgefangenen nach der Rückkehr behandelt wurden (S. 52 f.) oder wie Zivilisten noch 40 Jahre lang dafür bestraft wurden, auf einstmals deutsch besetztem Gebiet gelebt zu haben (S. 100).
Manche verstehen ihre nicht rundherum ablehnende Haltung selbst nicht (S. 113/114):
Sie werden fragen … Sie müssen fragen, wie das alles zusammenpasst: unser Glück und dass nachts Leute abgeholt wurden. Manche verschwanden, manche weinten hinter der Tür. Daran kann ich mich irgendwie nicht erinnern. Ich erinnere mich nicht!
Oder eine Frau über ihre Eltern (S. 116):
Im Gefängnis hatten sie ihm die Zähne ausgeschlagen, ihm fast den Schädel zertrümmert. Und trotzdem blieb er sich treu, ist Kommunist geblieben … Erklären Sie mir das … Meinen Sie, sie waren Dummköpfe? Naiv? Nein, das waren kluge, gebildete Menschen. Meine Mutter las Shakespeare und Goethe im Original, und mein Vater hat an der Timirjasew-Akademie studiert.
Überhaupt, die Bildung, die Bücher, die Literatur, deren Bedeutung zieht sich wie ein roter Faden durch die Sowjetleben. Das macht sogar den Gulag akzeptabel (S. 56):
Im Lager hat Vater viele gebildete Menschen kennengelernt. Nirgendwo sonst hat er so interessante Menschen getroffen.
Hauptsache, nicht kleinbürgerlich-spießig (S. 169):
Mir vorzustellen, dass meine Mutter mit einem Stickrahmen dasitzt oder unsere Wohnung irgendwie schmückt – mit Vasen, Porzellanfigürchen – nicht doch! Das war sinnlose Zeitverschwendung. Kleinbürgerlich! Die Hauptsache war das Geistige … Bücher … Einen Anzug konnte man zwanzig Jahre lang tragen, und zwei Mäntel reichten fürs ganze Leben, aber ohne Puschkin oder ohne eine vollständige Gorki-Ausgabe konnte man nicht leben.
Mir ist das auf Reisen in Osteuropa überall begegnet. Man kommt in eine Plattenbauwohnung oder in ein windschiefes Holzhaus, wo man das Wasser aus dem Brunnen pumpen muss. Aber jeder hat eine tadellose Bibliothek. Und die Bücher wurden auch gelesen.
Die Bücher ersetzten uns das Leben. Das war unsere Welt. (S. 182)
Wenn jemand ein neues Buch beschafft hatte, konnte er damit zu jeder Tages- und Nachtzeit zu seinen Freunden kommen, auch nachts um zwei oder drei, er war ein willkommener Gast. (S. 70)
Sogar die tadschikischen Bauarbeiter, die jetzt im Moskau in der Kanalisation leben, schwärmen der Autorin von Omar Khayam vor (S. 468). Ich fühle mich deshalb in Osteuropa oft wohler als in Westeuropa, weil ich lieber über Bulgakow als über Bausparverträge spreche, lieber über Ilja Ilf als über Instagraph.
Die Größe der Sowjetunion war nicht nur eine historische, sondern auch eine geographische (S. 107):
Es war alles ein Land – fahr, wohin du willst! Damals gab es keine Grenzen … keine Visa und Zollstationen.
Das erinnerte mich an einen Besuch in Transnistrien, wo mich ein älterer Mann freundlicherweise zur Migrationsbehörde begleitete, um mein Visum zu beantragen und auch gleich mitzunehmen. Ich fragte ihn (ganz naiv), ob er seit dem Fall des Eisernen Vorhangs mehr reise. „Ach, das geht ja nicht mehr“, seufzte er. „Früher, ja, da konnte ich nach Estland, nach Litauen, nach Armenien, ans Kaspische Meer, an die Ostsee, nach Kirgistan, nach Samarkand. Aber jetzt brauche ich ein Visum für jedes dieser Länder, überall sind neue Grenzen.“
Die Interviewpartner sind erstaunlich offen, reden wie ein Wasserfall. Man kann sich richtig vorstellen, wie Swetlana Alexijewitsch auf dem Sofa in der Plattenbauwohnung sitzt, stundenlang zuhört und immer wieder Kekse und Tee serviert bekommt.

Fast jeder war für die Perestroika, wollte mehr Freiheit, einen anderen Sozialismus, aber alle sind enttäuscht von dem, was sie bekommen haben, nämlich eine Marktwirtschaft, in der die Banditen regieren.
Kaum jemand von uns ist geblieben, wie er war. Die anständigen Leute sind irgendwie verschwunden. Überall Ellenbogen und Zähne. (S. 35)
Das Ende der relativen Gleichheit stößt vielen sauer auf (S. 60):
Der „kleine“, der „einfache“ Mensch ist heute ein Nichts, eine Null.
Und auch der Materialismus, für den immer wieder die Wurst als Symbol herhalten muss.
Jetzt sind auch bei uns die Läden voll. Im Überfluss. Aber Berge von Wurst haben nichts mit Glück zu tun. (S. 57)
Gesiegt hat ihre Majestät die Wurst! (S. 192)
Viele wollen noch heute die Sowjetunion zurück, aber mit jeder Menge Wurst. (S. 542)
Das Gespräch mit einem Kreml-Insider ist auch ganz spannend, zum Beispiel als er davon berichtete, dass er kompromittierendes Material über Gorbatschow sammelte. Das Schlimmste, was zu finden war: Bei einem Besuch in London hatte Gorbatschow es versäumt, das Grab von Karl Marx zu besuchen (S. 149).
Dadurch, dass einzelne Gespräche wiedergegeben werden, stehen die Kapitel für sich, und man kann die Lektüre über einen längeren Zeitraum strecken. Das ist vielleicht auch besser, denn jede Lebensgeschichte für sich ist ein Drama, nach dem man eine längere Pause benötigt. Insbesondere nach 1990 scheint es in jeder Familie Suizidgedanken gegeben zu haben. Immer wieder springen Menschen aus dem Fenster. Einer zündet sich im Garten an. Andere drehen den Gasherd auf. Und viele Gesprächsfetzen hat die Autorin auf der Beerdigung eines Frontsoldaten aufgeschnappt, der sich vor den Zug geworfen hatte.
Oft sind es Kleinigkeiten, die im Gedächtnis bleiben, die aber das Ausmaß des Schreckens beschreiben. Aus der Erzählung einer Frau, die im Arbeitslager geboren wurde (S. 292):
Ich erinnere mich daran, wie die Jungen mich einmal gerufen haben, sie hätten eine Katze zum Spielen, und ich nicht wusste, was eine Katze ist. Die Katze hatte jemand von draußen mitgebracht, im Lager gab es keine Katzen, sie überlebten dort nicht, weil es nie Essensreste gab, wir sammelten alles auf. […] Wir aßen Gräser und Wurzeln und leckten Steine ab. Wir wollten die Katze gern füttern, aber wir hatten nichts […]
Im zweiten Teil, der die Zeit nach der Auflösung der Sowjetunion in den verschiedenen neuen Staaten behandelt, wird es nochmal richtig deprimierend. Berichte aus Tschetschenien, vom Kriegsbeginn zwischen Georgien und Abchasien lassen einen ratlos zurück. Im letzten Kapitel schreibt die weißrussische Autorin über die Niederschlagung der (früheren) Proteste in Belarus, aber zumindest da gibt es zur Zeit einen Hoffnungsschimmer. Falls die Revolution in Minsk gelingt, wird sie ihr Heil hoffentlich nicht im Kapitalismus und in der Wurst suchen.
Und die Jelzin-Jahre, als Stellenangebote wie „Putzfrau mit Hochschulabschluss gesucht“ am Zaun hingen. Als der Klempner einen Doktortitel hatte. Als Kriminelle mit der Entführung der Tochter drohten, falls man die Plattenbauwohnung nicht „verkaufte“. Als die Polizei nutzlos war.
„Secondhand-Zeit“ ist ein gewaltiges Buch. Nur auf den ersten Blick ist es ein Buch über die Sowjetunion und ihr Ende. In Wahrheit ist es ein Buch über die Menschheit. Der politische Umbruch hat nur das zutage befördert, was in uns allen schlummert.
Ich habe hier viel Leid zitiert, aber es gibt auch schöne Geschichten von Hilfsbereitschaft, wobei es meist die Ärmsten sind, die den anderen Ärmsten helfen. So wie die Frau, die zusammen mit ihrer Mutter obdachlos ist, die nicht einmal einen Schlafsack haben und die gegen den Hunger tagelang nur heißen Tee trinken. Aber wenn sie irgendwo Geld bekommen, geben sie es einer alten, irren Frau am Bahnhof, weil sie Mitleid mit ihr haben.
Und Geschichten von Liebe, wie die zwischen der Armenierin und dem Aserbaidschaner, die während des Kriegs zwischen Armenien und Aserbaidschan heiraten und eine Tochter bekommen. Gegen das, was sie durchmachen, war Romeo und Julia ein Kasperltheater.
Ich wünsche dem Buch v.a. viele westeuropäische Leser, die allzu gerne auf Osteuropa hinabblicken und es nur als Reservoir von billigen Arbeitskräften sehen. Vielleicht täte uns so ein Buch über die DDR gut, auch wenn die Umbrüche in Ostdeutschland nicht so dramatisch waren wie in der Sowjetunion.
Links:
- Secondhand-Zeit bei Amazon bestellen. Die Seitenangaben beziehen sich auf die gebundene Ausgabe.
- Weitere Bücher von Swetlana Alexijewitsch. Ich have davon bisher nur ihr Buch über Tschernobyl gelesen, aber das hat es in sich, auch für aktuelle Fragen wie den Klimawandel und eigentlich auch das Coronavirus.
- Mehr aus der Sowjetunion.
- Und noch mehr Bücher, einschließlich meiner Wunschliste.
Hallo! Immer wieder interessante Sachen hier in dem Blog. Das Buch habe ich auch gelesen, vor vier Jahren, und danach noch etliche andere von ihr. Zur gleichen Zeit, im Oktober 2016, habe ich sie auch bei einer Lesung an der Prager Karlsuni gesehen. Da hat es mich allerdings sehr überrascht, wie kritisch sie vielen ihrer Interviewten gegenüber zu stehen scheint. Während man bei den sachlichen, unkommentierten Berichten eben diese tiefe Menschlichkeit immer zu fühlen scheint, schien mir die Autorin selbst gar kein allzu großes Mitgefühl mit vielen Befragten zu haben, eher sehr großes Unverständnis, wie die Menschen Ideologien wie dem Sowjetkommunismus jemals Vertrauen schenken konnten. Was ja natürlich wiederum sehr verständlich ist, bei ihrer Lebensgeschichte, dennoch war es sehr überraschend! Ändert auch nichts an der Qualität der Bücher, ist nur ein Punkt, den ich bei der Gelegenheit erwähnen wollte …
Hallo Anne,
vielen Dank für diese Ergänzung, die mich genauso überrascht wie dich. Aber vielleicht macht es die schriftstellerische Arbeit noch bewunderswerter, weil sie es tatsächlich schafft, sich selbst vollkommen herauszunehmen und die Protagonisten sprechen zu lassen.
Wie fandest du die anderen Bücher?
Tschernobyl fand ich auch sehr beeindruckend, mit diesen ganzen minutiösen Schicksalen der Dementoren, der Angehörigen usw. … vor allem weil ich mich damit gar nicht so wirklich beschäftigt hatte bis zu dem Zeitpunkt. Bin in den Achzigern geboren, das heißt, wie so viele Dinge in dem Jahrzehnt waren sie zwar als Begriff immer präsent, aber es hat lange gedauert, bis ich mich dann wirklich darüber informiert habe. Zinkjungen fand ich auch sehr gut. War ebenso eine persönliche Riesenbildungslücke, allerdings ja eine sehr verbreitete, da von diesem Kollektivtrauma einer ganzen Generation westlich der Ex-Sowjetunion kaum jemand was weiß. Als ich danach in der Ukraine war, sah ich auf einmal überall die Denkmäler 79-89…Die weiteren Büchern möchte ich aber auch noch lesen, vor allem Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Vor kurzem habe ich das Blockadebuch von Granin/Adamowitsch gelesen. Das hat mich an die Arbeitsweise von S. Alexijewitsch erinnert. Kennst du es? Falls nicht, empfehle ich es hiermit : )
Empfehlung dankend angenommen!
Vor allem weil die Blockade von Leningrad auch so ein dunkler Fleck in der (deutschen) Erinnerung ist. (Auch bei mir klafft da eine große Lücke.)
Als ich in Kiew war und ein Afghanistan-Denkmal sah, dachte ich zuerst, das sei für ISAF/Resolute Support. Bis ich die Jahreszahlen sah. Meine Bildungslücken sind also genauso groß, obwohl ich ein bisschen älter bin.
Ich lese gerade ein (sehr empfehlenswertes) Buch über DDR-Bürger, die illegal in die Sowjetunion reisten, „Unerkannt durch Freundesland“. Und sogar für die war es ein Schock, dass in fast jeder Familie ein Sohn/Bruder/Freund in Afghanistan war.
Tschernobyl habe ich schon bewusst erlebt – https://andreas-moser.blog/2020/07/19/komet/ . Ich kann mich zwar nicht mehr an meine Gefühle erinnern, aber insbesondere wenn ich Leute aus der Ukraine oder Belarus treffe, die etwa im gleichen Alter sind, ergibt sich dadurch ein etwas leichterer Zugang. (Ich muss endlich mal meinen Bericht aus Kiew schreiben, darin kommt eine Ukrainerin vor, die als 6-Jährige aus Pripjat evakuiert wurde.)
Ich habe das Tschernobyl-Buch gelesen während ich in Kiew war, und das war schon doppelt bewegend. Wenn ich in der U-Bahn gelesen habe, habe ich oft um mich herum geblickt und mir gedacht: „Hier sind die Menschen aus dem Buch. Jeder hier könnte solche Geschichten erzählen.“
Hallo Anne,
wenn du dich für die Blockade von Leningrad interessierst, ist diese Ausschreibung vielleicht etwas für dich:
https://www.hsozkult.de/grant/id/stip-93347?title=freiwilligenprogramm-humanitaere-geste-st-petersburg&recno=1&q=&sort=&fq=&total=55
Allerdings ist am 20. September schon der Bewerbungsschluss.
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