Normalerweise schreibe ich über Städte, um Euch zu motivieren, diese selbst zu besuchen. Im Falle von Odessa, der ukrainischen Hafenstadt am Schwarzen Meer, die, wie Ihr sehen werdet, so viel mehr ist als eine Hafenstadt, kommt das vielleicht zu spät. Womöglich wird Odessa das nächste Ziel russischer Raketen und Bomben.
Ich war im Januar 2020 in Odessa, nach meiner Zeit in Kiew und einem Zwischenstopp in Uman. Der Bericht beruht weitestgehend auf Tagebuchnotizen, die ich damals vor Ort gemacht habe, und vermittelt deshalb das Bild von damals. Nur ganz vereinzelt werde ich aktuelle Bezüge aus dem Krieg von 2022 einstreuen, denn es soll ein persönlicher, subjektiver Bericht bleiben. Die Erinnerung an eine Stadt, in der so viel mehr zerstört werden wird als Gebäude, Katzen und Menschenleben.




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Manche Menschen sehen Fotos von einer Inka-Ruine, von einem Eiffelturm oder von einem Matterhorn und wissen: „Da muss ich hin!“
Mein Gehirn funktioniert eher sprachlich als visuell, und so sind es die Namen von Städten, die mich – ohne sonst irgendetwas über die Orte zu wissen – zum Träumen bringen: Timbuktu. Samarkand. Damaskus. Jerusalem. Buxtehude. Und eben Odessa.
Man kann es beim Träumen belassen, dann werden die Illusionen und das Weltklima nicht zerstört. Aber wenn ich schon in der Ukraine bin, dann kann ich Odessa nicht einfach links liegen lassen, egal wie weit es geographisch vom Schuss liegt. (Eine Formulierung, mit der ich auf den Krieg in der Ostukraine anspielte, und wahrscheinlich schon damals nicht lustig.)

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Wer in Odessa mit dem Zug ankommt, wird stilvoll empfangen: Jeder Fernzug wird mit aus allen Lautsprechern plärrender klassischer Musik begrüßt. Es gibt nichts besseres, als mit Tschaikowsky aufzuwachen, wenn man schlaftrunken aus dem Schlafwagen torkelt und in einer neuen Stadt aufschlägt, von der man, wenn man ehrlich ist, noch gar nichts weiß.
Die zweite Überraschung ist der Schriftzug am imposanten Bahnhofsgebäude: „Willkommen in Odessa, der Heldenstadt!“ Eine von Stalin im Zweiten Weltkrieg verliehene Ehrung (mehr dazu in Kapitel 47), darunter der Lenin-Orden, darüber die ukrainische Flagge. Am Portal sind die Jahreszahlen 1905, 1917 und 1944 angebracht, für die Russische Revolution, die Oktoberrevolution und die Befreiung Odessas durch die Rote Armee.
Im Bahnhofsrestaurant, das den Charme der 1960er Jahre versprüht, sehen einem Rotarmisten zwischen Hammer und Sichel zu, während man mit Messer und Gabel einen Rotkohlsalat vertilgt.
Das passt alles nicht zu der russischen Propaganda, die Ukraine sei ein Land von Nazis und Faschisten. Es zeigt aber auch die ukrainische Ambivalenz zur Sowjetunion. Und es verwirrt westliche Leser, die selten einen Unterschied zwischen der Sowjetunion und Russland machen und ganz erstaunt sind, dass es östlich von Polen so viele verschiedene Staaten, Völker, Kulturen, Sprachen und Geschichten gibt.
Die Verwirrung wird im Folgenden nicht geringer werden, fürchte ich. Aber wer gerne seine Vorurteile über Bord wirft, der möge mir folgen auf diesem Spaziergang durch Odessa.
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Es ist der 13. Januar, aber in dem Keller, der für eine Woche meine Wohnung sein wird, brennen noch die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum.
„Nach dem alten Kalender ist heute Neujahr„, erklärt Vadim, übrigens in sehr gutem Deutsch, das er erlernt hat, ohne je in Deutschland gewesen zu sein. Eigentlich vermietet seine Frau die Ferienwohnung, aber wenn er sieht, dass ein Gast aus Deutschland kommt, dann will er seine Sprachkenntnisse wieder praktizieren.
„Es ist gut, dass du eine ganze Woche in Odessa bleibst. So viel Zeit braucht man schon für die Stadt.“ Außerdem seien die Preise für den Keller jetzt in eben jenem, während sie sich im Sommer vervierfachen. Die Ukraine ist nach dem Ende der Sowjetunion anscheinend in die Fänge einer grausamen Marktwirtschaft geraten.
Ich frage Vadim, ob er für Sommer schon ausgebucht sei. „Es läuft gut“, sagt er diplomatisch und erklärt ganz unpatriotisch: „Früher fuhren die Leute im Sommer auf die Krim. Doch seit der Annexion durch Russland geht das nicht mehr. Also kommen sie nach Odessa.“
Kiew ist weit weg, Moskau noch weiter.
Ob hier der Rubel oder die Hrywna rollt, das ist den Geschäftstüchtigen egal.
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Überall wird gebaut, gesägt und gehämmert. Weit draußen vor der Altstadt werden hässliche Hotels hochgezogen. In der Altstadt wird liebevoll restauriert. Das Trambahnnetz wird erweitert.











Dieses Gebäude gegenüber der Verklärungskathedrale war vor fünf Monaten noch verfallen, sagen mir die Leute.

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Die Kathedrale selbst musste auch ein bisschen renoviert werden. Sie war 1936 auf Befehl Stalins gesprengt worden.
Aber davon sieht man jetzt nichts mehr.
Der Soborna-Platz mit der Verklärungskathedrale liegt gleich um die Ecke meiner Kellerwohnung, so dass ich hier zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeikomme. Selbst bei Temperaturen um die null Grad spielen die Männer Schach.


Den Park, in dem die Frauen Schach spielen, habe ich noch nicht entdeckt.
Aber vielleicht finden die Frauen hier das Schachspiel einfach zu unweiblich. Ukrainische Frauen, zumindest die jungen, unverheirateten, halten viele Aktivitäten für unweiblich: Türen öffnen, einen Fahrschein kaufen, Cola-Dosen öffnen, sich beim Bedienungspersonal bedanken und – ein absolutes Tabu – Restaurantrechnungen bezahlen.
Echt, viele Frauen hier haben so einen Prinzessinnenkomplex, dass man ihnen nur das Schicksal der Romanows wünschen kann. Normal sind hier allenfalls diejenigen, die in der Sowjetunion sozialisiert wurden, als Frauen noch Traktoristinnen, Kosmonautinnen und Chemikerinnen sein durften.
Überhaupt ist Sozialismus gesünder für Frauen als Kapitalismus, wo sie halt immer zur Ware werden. Auch in Odessa.

Aber genug der Gesellschaftskritik, Ihr wollt etwas von der Stadt sehen.
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Leute, die noch nicht in Odessa waren, fragen immer, ob die Stadt eher ukrainisch oder eher russisch geprägt sei. Bei meinem ersten ziellosen Spaziergang formt sich langsam die Antwort auf diese Frage: Weder noch.
Die Oper ist österreichisch und spielt Iolanta auf Russisch, Il Barbiere di Siviglia auf Italienisch und Carmen auf Französisch.
Die Mendelevich-Passage gegenüber dem Soborna-Platz könnte so in Mailand oder in Florenz stehen.






Die Paläste sehen aus wie in Venedig, Bukarest oder Paris.
Gegründet wurde die Stadt unter der deutsch-russischen Kaiserin Katharina II., der erste Gouverneur war ein Spanier mit irischen Wurzeln, der zweite ein Franzose. Der Hafen blickt nach Constanța und Konstantinopel.
Odessa, so weit aus dem Blickfeld der meisten Europäer, ist eine durch und durch europäische Stadt. „Wien, wie es nie war, aber am Meer“, nennt es der Fotograf David Staretz in einem aktuellen Bildband über diese wahrhaft bildbandwürdige Stadt.
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Auf dieser Reise ist etwas Schlimmes passiert. Ich habe noch mindestens eine Woche vor mir, aber alle Bücher sind bereits ausgelesen und verschenkt, zuletzt ein erhellendes Buch über die ukrainische Geschichte von Serhii Plokhy, The Gates of Europe. Jetzt ist der Rucksack leichter, aber das Gehirn lechzt nach Lesestoff.
Als ich aus dem Bahnhof trete, erkenne ich das Titelbild: die örtliche Filiale der staatlichen Eisenbahn und die Kathedrale für den Großmärtyrer und Nothelfer Panteleimon.


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Odessa ist keine alte Stadt, das erkennt man am schachbrettartigen Stadtplan, der offensichtlich von New York raubkopiert wurde.

Erst 1794 wurde die Stadt gegründet, aber spätestens 1815, als man hier den Duty-Free-Hafen erfand, begann der Boom. Aus ganz Europa kamen die Menschen, um hier zu arbeiten, um Geschäfte zu machen, um neu anzufangen, um sich freier zu fühlen, um Pogromen zu entkommen, um zur See zu fahren oder um sich vor Pinkerton oder Hercule Poirot zu verstecken.
Kiew ist weit weg, Moskau noch weiter.
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In der Sjerova-Straße sitzt der Krankenwagenfahrer, dessen Uniform ihn eher wie einen Mechaniker aussehen lässt, auf dem Bordstein und raucht eine Zigarette. Entweder er wartet auf die Sanitäter mit Trage, oder der Krankenwagen ist kaputt.
Bei vielen Autos frage ich mich, ob die noch einmal fahren werden.
Oder ob sie im Diukivsky-Park als Grill enden.

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Der Diukivsky-Park ist eigentlich nicht weit vom Zentrum. Wenn man vom Busbahnhof in die falsche Richtung geht, ist man schon da. Und auch mit der Tram, Linie 12 oder 15, kommt man leicht hin.
Ein junges Mädchen macht Fotos von ihrer hübschen Freundin in gelb-ockerfarbenem Pullover und in Model-Pose. Ob ich mit meinem Notizbuch und der Zigarre absichtlich den Hintergrund dafür bilde oder ob sie mich gar nicht bemerken, bleibt unklar. Ein paar einsame Kinderwägen werden hin- und hergeschoben. Aber ansonsten ist nicht viel los hier.
Dabei wäre so viel geboten: Ein Wasserschloss, eine Kartbahn, ein Theater und, direkt neben dem See für Familienausflüge, das Hauptquartier des Rockerclubs Bandidos. Vielleicht trauen sich derentwegen nicht zu viele Leute in den Park. Dabei sitzen die wirklichen Banditen in Odessa anderswo, aber mehr dazu in Kapitel 16.
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Der Bauboom erklärt, warum ich auf dem Starokonny-Markt nicht, wie erhofft, „Die weiße Garde“ oder „Das hündische Herz“ von Michail Bulgakow finde, sondern nur Bohrmaschinen, Sägeblätter, Gummistiefel, Teppichkleber, Schleifpapier, Fliesen, aber auch Kanarienvögel und Nachtsichtgeräte.
Hier gibt es fast alles, aber nichts, was ich brauche.
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Auf dem Sofiyivska-Boulevard kommen mir vier Studenten der Marineakademie entgegen, in viel zu langen und weiten schwarzen Mänteln mit goldenen Knöpfen, mit großen schwarzen Pelzmützen. Wie Kinder, die die Uniformen ihrer Väter ausführen, sehen sie aus. Wie Kinder, die Krieg spielen, würde man anderswo sagen. Aber hier ist Krieg.

Und da fällt mir endlich ein, woher ich Odessa kenne, ohne je hier gewesen zu sein: „Panzerkreuzer Potemkin“, ein Stummfilm von 1925 und aus irgendwelchen Gründen ein Filmklassiker, spielt hier und wurde hier gedreht. Wie gut, dass ich den Film noch nicht gesehen habe, denke ich mir und suche ein Kino.
Die Kinos, bei denen ich vorbeikomme, zeigen allerdings nur Star Wars IX, Jumanji und Cats. Nichts mit Schiffen. Dann muss ich ihn eben auf YouTube gucken. Die Sowjetunion wird es mit der Durchsetzung des Urheberrechts schon nicht so eng sehen, wenn man sich einmal einen alten Revolutionsschinken ansieht.
Ich gehe zurück zu meiner Wohnung, zu der man durch einen langen Torbogen, quer durch einen Innenhof, über einen kleinen Gartenzaun und die Treppe hinab in den Keller gelangt. Das ist so eine Wohnung, die in Friedenszeiten niemand haben will, die aber in Kriegs- oder Revolutionszeiten wegen ihrer versteckten und geschützten Lage Leben retten kann. Ob wir gerade Krieg oder Frieden haben, ist schwer zu sagen. „Eingefrorener Konflikt“ nennen die Politikwissenschaftler so etwas wie derzeit im Donbass, aber dafür fallen dann doch ein bisschen viele Schüsse. Andererseits, in Odessa ist ganz normales Leben.
Wer jedenfalls einfriert, das bin ich. Als Vadim mir die Wohnung gezeigt hatte, dachte ich, er hätte aus Versehen den Herd angelassen. Jetzt merke ich, dass er nur dadurch den Anschein erwecken konnte, man könne hier im Januar überleben. Wasserkocher, Tee und Tütensuppen werden schnell zu meinen besten Freunden.
Und das warme Bett, in dem ich mich am Abend durch 72 Minuten potemkinsches Panzerschiff quäle.
Ich glaube, der Film ist nur deshalb so berühmt, weil die Szene des Massakers auf der Treppe – und insbesondere der davon unbewegt herabrollende Kinderwagen – dutzendfach kopiert wurde.

Auf jeden Fall weiß ich jetzt: Diese Treppe muss ich finden!
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Aber erst einmal treffe ich Yaniv.

Wir hatten uns kennengelernt, als wir beide in Târgu Mureș in Rumänien lebten. Angeblich studiert er jetzt in Odessa Medizin, aber ich habe den Eindruck, er beschäftigt sich mehr mit Kulinarik. Während wir durch die Stadt gehen, kann er zu jedem Restaurant, jeder Bar und jedem Dönerstand einen Kommentar abgeben: „Hier gibt’s die besten Burger, aber leider ein bisschen teuer. Das gönne ich mir nur zu meinem Geburtstag.“
„Wo wohnst du?“ fragt er mich.
„In der Dvorianska.“
„Welche Nummer?“
„Sieben.“
„Oh, da ist direkt gegenüber das ‚Merry Berry‘. Die haben fantastischen Frappuccino mit Erdbeerschaum und Oreos.“
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Da, ist das die berühmte Potemkinsche Treppe? Sogar mit einer Flasche Odessa-Schaumwein für den ehrlichen Finder.
Sie ist es nicht, muss ich geknickt zugeben.
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Im „Molodost“ trinken wir Bier aus Einweckgläsern. Kein Tippfehler, ich meine wirklich Einweck, nicht Einweg. Das kommt davon, wenn die Oma jedes Gurkenglas aufhebt, „weil man nie weiß, wann man das mal brauchen kann“. Irgendwann ist der Keller voll, und der Enkel muss eine Bar aufmachen.
Wie so oft, vergesse ich meinen Schal in der Kneipe. Ach, was ich weltweit schon an Schals, Mützen und Handschuhen vergessen habe, damit könnte man ein ganzes Bataillon ausrüsten. Ich kaufe mir solche nervigen Kleidungsstücke gar nicht mehr, weil sie nach einer Woche eh weg sind.
Jedenfalls merke ich es erst nach einer Stunde Spaziergang durch die abendliche Stadt. Weil das Molodost nicht weit von meiner Wohnung liegt, schaue ich noch vorbei. Die Kneipe ist jetzt rappelvoll, aber mein Schal liegt auf dem Tisch. Jemand hat ihn hübsch zusammengefaltet.
Scheint eine ehrliche Stadt zu sein.
Das fällt mir in den nächsten Tagen auch immer auf, wenn ich die Straßenbahn nehme. Man zahlt hier nicht beim Einsteigen, sondern beim Aussteigen. Natürlich könnte man auch einfach hinten aussteigen oder hoffen, dass der Fahrer im Passagiergewimmel nichts mitbekommt. Aber warum unehrlich sein, wenn die Fahrt 5 Hrywna kostet? Das sind etwa 15 Cent.

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Sogar die Hunde sind hier ehrlich. Dieser hat ein Portemonnaie gefunden und trägt es zum Fundamt.

Weil das Fundbüro im Rathaus ist, kann es allerdings passieren, dass die Geldbörse dort „verloren geht“. Denn der Bürgermeister, Gennadi Truchanow, sitzt gerade wegen millionenschweren Betrugs, Geldwäsche, Untreue, Amtsmissbrauch in Untersuchungshaft. Aber er bleibt natürlich Bürgermeister.
Praktisch so wie Joachim Wolbergs in Regensburg.
Und plötzlich erklärt sich mir eine Wandmalerei, die ich links von der Sankt-Pauls-Kirche gesehen habe und die eine Städtepartnerschaft zwischen den beiden Ganoven(städten) besiegelt.

Die Sache ist übrigens noch viel dubioser als gedacht, und diese Enthüllung gibt es hier und jetzt exklusiv auf diesem Blog. Seht selbst: Das eine ist der korrupte Bürgermeister von Odessa, das andere ist der korrupte Bürgermeister von Regensburg. Gennadi Truchanow und Joachim Wolbergs.


Na, fällt Euch etwas auf?
Genau: Das ist ein und derselbe! Dieser Typ ist so dreist, er regiert nicht nur gleichzeitig in zwei Städten in zwei Ländern als Bürgermeister. Er betrügt, stiehlt und plündert nicht nur in zwei Städten in zwei Ländern. Nein, er hat auch noch eine Städtepartnerschaft initiiert, um zwischen Regensburg und Odessa auf Steuerzahlerkosten hin- und herzufliegen.
Falls Ihr jetzt denkt „Das gibt’s doch nicht!“, dann sucht mal nach einem Foto, das die beiden zusammen zeigt. Das gibt es nämlich wirklich nicht. Und das ist für die Bürgermeister zweier Partnerstädte schon äußerst suspekt, oder?
Übrigens müsst Ihr Euch um den Herren keine Sorgen machen: Als Wolbergs wurde er nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Und als Truchanow kam er im Oktober 2021 auf freien Fuß, weil jemand eine Kaution von einer Millionen Euro für ihn hinterlegte. Und zwar ein Parlamentsabgeordneter, der im Privatberuf Milliardär ist. So etwas ist in der Ukraine normal, wie man aus Andrej Kurkows Roman „Pinguine frieren nicht“ kennt. Absolut empfehlenswert, aber lest zuerst „Picknick auf dem Eis“.
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Die Geschichte der beiden Gauner, die vielleicht nur ein Gauner sind, könnte aus der Feder der zwei größten Schriftsteller Odessas stammen, die vielleicht nur ein Schriftsteller waren: Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, die immer zusammen als Ilf und Petrow schrieben und veröffentlichten. Wie das gehen soll, kann sich niemand vorstellen, aber das Ergebnis überzeugt.
Wie jede Stadt, so hat auch Odessa eine Reihe von Denkmälern für Generäle, Bürgermeister, Entdecker und Schriftsteller. Aber das beliebteste ist ein Denkmal für einen Roman: „Zwölf Stühle“ von dem dubiosen Duo Ilf und Petrow.

Es ist eine Gaunerkomödie über einen versteckten Juwelenschatz, um den sich der rechtmäßige Erbe, ein raffgieriger Priester (wie wenn es auch andere Priester gäbe) und der gewitzte und charmante Ganove Ostap Bender eine ereignisreiche Jagd liefern. Eines der lustigsten Bücher der sowjetischen Literatur!
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An anderer Stelle gibt es Denkmale für die Elektrizität sowie für Elektriker. Wahrscheinlich spielen sie auf die Oper „Die Elektrifizierung der Sowjetunion“ an.


Ich bin kein Freund von Opern. Aber wenn es unbedingt sein muss, Gesang, Musik und Herumhüpfen zu vermengen, dann wünsche ich mir so lebensnahe Themen wie die Elektrifizierung des Landes, den Bau des Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanals oder die Mechanisierung der Landwirtschaft.
Ist das noch Verismus oder schon Proletkult?
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Dummkunst sind jedenfalls diese Bänke in Buchform im Taras-Schewtschenko-Park.

Klar, das sieht witzig und kreativ aus. Aber man kann auf diesen blöden Bänken einfach nicht angenehm sitzen, geschweige denn schlafen. Das ist so eine Schnapsidee von Leuten, die selbst kein einziges Mal stundenlang lesend auf einer Parkbank saßen.
Und viel wichtiger wäre eine Buchhandlung, verdammt nochmal.
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Als Yaniv und ich beim Cooper Burger vorbeigehen, sagt er: „Hier gibt es montags zwei Burger für den Preis von einem. Und gut sind sie auch.“
Ich: „Heute ist Montag.“
Wir stellen unverzüglich fest, dass wir beide Riesenhunger haben, und die Entscheidung ist gefallen.
Es tut gut, sich mit jemandem zu treffen, der auch ein sparsamer Student ist, anstatt ständig Empfehlungen für die teuersten Restaurants vorgesetzt zu bekommen, weil in der Ukraine der Irrglaube vorherrscht, alle Westeuropäer seien reich.
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Ach ja, Ihr wollt das Meer sehen, oder?
Schließlich kommen die meisten Besucher deshalb nach Odessa. Ich selbst bin nicht so ein Wasser-Freund, aber dann gehe ich für Euch, hochverehrte Leserschaft, halt mal an den Strand.
Zwei Jahre später werden am selben Strand Sandsäcke gefüllt, um die Stadt vor russischen Bomben, Granaten und Raketen zu schützen.

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Da, ist das die berühmte Potemkinsche Treppe?

Stolz über die Entdeckung schreite ich sie hinauf, hinab, hinauf, bis mir ein- und auffällt, dass die echte Potemkinsche Treppe nicht so weit außerhalb, sondern mitten in der Stadt liegen sollte.
Nun gut, ich werde weitersuchen.
Aber erst einmal eine Pause. Ich versuche, eine Katze vom Baum herunter zu locken, aber anscheinend habe ich die ukrainischen Wörter für Katze („kitty“) und Hund („chewbacca“) verwechselt, denn statt ersterem kommt letzteres. Der sieht aber auch so aus, wie wenn er das Mittagsmahl dringender nötig hätte.
Na gut, ausnahmsweise teile ich auch mal mit einem Hund.
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Ist Euch aufgefallen, dass die Katzen in Odessa allesamt sehr wohlgenährt aussehen?
Entweder es liegt am Hafen, wo immer Fisch abfällt. Oder die Leute hier sind einfach nett und stellen die Reste ihres Abendessens in den Hof.
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Die Tierliebe zeigt sich auch an der Infrastruktur: Größere Parks haben Veterinärsstationen, wo man seine Tiere zur Inspektion oder Reparatur hinbringen kann bzw. wo diese, wenn sie selbständig genug sind, von sich aus und ohne Anmeldung vorbeikommen können.

Hier werden sogar Pinguine behandelt.
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Nicht zu verwechseln mit dem Veterinär ist der Veteran, der nicht weit davon erschöpft und nachdenklich im Park sitzt. Den Jahreszahlen entnehme ich, dass er in Afghanistan war.

Und jetzt hat ihn der Krieg im eigenen Land eingeholt.
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Weiter südlich werden Wetter und Wellen rauher und tosender. Am Morgen hätte man vergessen können, dass Januar ist, aber jetzt peitscht einem der Wind knallhart den Kalender ins Gedächtnis.
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Die Kirchen in Odessa sind eher klein, unauffällig, fast versteckt. Wie Reihenhäuser zwischen den viel prächtigeren Hotels, Banken und Handelskontoren.

Odessa scheint mir viel weniger religiös als zum Beispiel Kiew.
Oder vielleicht sollte ich sagen: weniger christlich. Denn Odessa war immer auch eine jüdische Stadt. Die drittgrößte jüdische Gemeinde der Welt, nach New York und Warschau. Mehr als 40 Synagogen. Die meistgesprochene Sprache in Odessa war Jiddisch.
Bis die Nazis und ihre rumänischen Kumpanen kamen. Wobei, das sollte nicht verschwiegen werden, auch Ukrainer mit den Nazis kollaborierten. Was manche Ukrainer, auch wenn das Land insgesamt diese Episode am liebsten totschweigen würde, immer noch so richtig dufte finden.
Viele ehemalige Synagogen verfallen.

In den wenigen noch aktiven sind die Nachwuchssorgen so groß, dass sie jüdischen Studenten für den Besuch von Vorträgen sogar Geld anbieten: 100 Hrywna für einen langweiligen Vortrag über Levitikus.
Yaniv hat es einmal ausprobiert, aber „die Stimmung dort war mir zu Gestapo-mäßig. Die haben sich aufgeregt, weil ich mich nebenbei am Handy auf Wikipedia weitergebildet habe.“ Er ist Experte für schiefe historische Vergleiche.

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Am Morgen weckt das Hafenradio die Stadt. Aus den Lautsprechern schmalzt Leonid Ossipowitsch Utjossow, der als Odessit natürlich Odessa besingt.
Aber neben einigen Busfahrern und Straßenkehrern scheine ich der einzige zu sein, der sich so früh aufwecken lässt. Überhaupt hat Odessa einen anderen Rhythmus. Wenn man sich hier mit Menschen zum Frühstück verabredet, dann fragen sie: „Also um halb eins oder um ein Uhr?“ Wenn ich 9 oder 10 Uhr vorschlage, höre ich immer, das sei viel zu früh.
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So ist auch das Museum für Moderne Kunst um 12 Uhr noch geschlossen. Man könnte sich die Zeit mit einem geopolitischen Basketballspiel vertreiben, aber ich komme stattdessen mit zwei Frauen ins Gespräch, die ebenfalls auf Einlass warten. Alexandra ist Juristin, Psychotherapeutin, Lektorin, Dozentin, attraktiv und intelligent. Anna eher weniger.

Als das Museum endlich die Tore öffnet, erspähen wir in einem Raum ein Künstlerpaar, das gerade unwillig vom Nachtlager aufsteht, und wir riechen die ungewaschenen Socken. Naja, wahrscheinlich Flüchtlinge aus der Ostukraine, da muss man tolerant sein.

Eine Ausstellung feiert Wolodymyr Strelnikow, einen Maler aus Odessa, der seit seiner Verbannung 1978 in München lebt.


Und ansonsten Objekte und Ideen, die man in einem Museum für Moderne Kunst eben so findet: Aus mechanischen Teilen gefertigte Kunstwerke, zu denen im Hintergrund die Arbeitsgeräusche einer Werft erklingen. Das Video eines gut gelaunten Pyjamabären, der einen chassidischen Tanz aufführt. Und eine Menge Bilder und Installationen, die sich von selbst erklären. Oder?








Wer, wie ich, mehr mit klassischer Malerei anfangen kann, der freue sich auf den Besuch im Museum der Schönen Künste im ehemaligen Palast von Graf Pototsky bzw. in Kapitel 50.
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Alexandra und Anna wollen in eine Shisha-Bar gehen und Wasserpfeife rauchen. Das ist eigentlich nicht so mein Ding, aber man muss ja irgendwie mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt kommen. Sonst dreht sich dieser Blog nur um mich.
Das Gespräch mit den beiden verläuft allerdings ziemlich schleppend, denn sie sind unentwegt am Handy. An die Shisha-Bar ist das Tätowierungsstudio Black Brush angeschlossen. Die Jungs dort lassen sich wahrscheinlich alle aus Langeweile tätowieren, weil ihre Freundinnen nur in Telefone starren. Sie scrollen sich online durch die Läden von TK Maxx und Zalando und erzählen von Shopping-Touren in Krakau und Italien. Dabei sollte Alexandra, die Psychotherapeutin, eigentlich um die Gefahren von Internet-, Handy- und Shoppingsucht wissen.
Am Abend wollen sie zu einem Vortrag von einem Finanzgenie, der ihnen erklären wird, wie man weniger arbeiten und mehr verdienen kann. Ich biete an, aus meinem eigenen Leben zu erzählen, wie man mit relativ wenig Arbeit um die Welt reisen kann. Aber der Schlüssel zum Erfolg sei natürlich, weniger auszugeben.
Ich gehe in der Ukraine z.B. zu Humana, wo die Kleidung verkauft wird, die Überflussmenschen in Deutschland in den Container werfen. Man sucht sich aus, was einem passt, Hose, Hemd, Pullover, Winterjacke, und an der Kasse wird alles zusammen gewogen und mit einem Kilopreis multipliziert. So einfach, wie wenn man Kohlen oder Brennholz kauft. Ich kann mich nicht mehr an den Kilopreis erinnern, aber für ein paar Euro ist man frisch eingekleidet.
Sie sehen mich an, wie wenn ich dumm wäre, dabei haben sie für den Kurs am Abend je 50 Dollar bezahlt. Selbst Ostap Bender würde nicht so billige Scharlatanerie betreiben.
Später erzählt Anna ganz entsetzt von einem befreundeten Paar, das in ihrem Haus von Männern mit Maschinenpistolen überfallen wurde. Die im gleichen Haus lebende Oma habe sich so erschrocken, dass sie jetzt im Krankenhaus sei. Das laut Anna dramatischste an der Geschichte ist aber Folgendes: „Die beiden sind gar nicht reich! Das Haus, das Auto, die Kleider, der Schmuck, es war alles auf Kredit gekauft.“
Den Einbrechern könnten die Eigentumsverhältnisse an der Beute eigentlich egal sein, aber sie wollten Bargeld, das ebenfalls auf Kredit zu besorgen das Angeber-Paar vergessen hatte. Tja, das kommt von Materialismus und Oberflächlichkeit. Mit meinen löchrigen Schuhen und meinem alten Handy hat mich noch niemand ausgeraubt.
Ich fürchte nur, dass Anna die falsche Lehre aus der Geschichte ziehen wird.
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Als sie hören, dass ich aus Deutschland komme, erzählen sie von den Ortschaften Großliebental und Kleinliebental, nur ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Ganz in der Nähe gab es noch eine Menge deutscher Dörfer, da sollte ich eigentlich mal hinspazieren, auf den Spuren der Schwarzmeerdeutschen. Das werde ich machen, wenn ich Odessa ausreichend erkundet habe, sage ich.
„Ha,“ sagt Alexandra, „das schaffst du nie. Alleine für die Straßen hier in der Innenstadt brauchst du Tage. Lauf nicht einfach nur durch, sondern achte auf die Kacheln, die Fließen, die Balkone, die Treppen, die Zeichnungen, die Schnitzereien.“ Ein Bekannter von ihr bietet Architekturführungen an, dabei verbringt er drei Stunden in nur einer Straße.
Auf dem Rückweg werde ich merken, sie hatte Recht: Odessa ist eine Stadt der Details. Man muss wirklich überall genau hinsehen.














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Und genau hinhören.
Alexandra und Anna sprechen miteinander Russisch, nicht Ukrainisch. Aber sie sind Ukrainerinnen. „Natürlich“, rufen sie ganz entsetzt auf diese Frage, wie wenn sie noch nie im Leben daran gedacht hätten, Russinnen sein zu wollen.
Im Westen wird oft die Unterscheidung gemacht zwischen mehrheitlich ukrainischsprachigen und mehrheitlich russischsprachigen Städten in der Ukraine. In Wirklichkeit sprechen viele Menschen hier mehrere Sprachen (oder eine Mischform) und wechseln zwischen diesen je nach Anlass oder Gesprächspartner. Die Sprache ist kein Identitätsmarker, sondern ein Kommunikationsinstrument.
So wie ich oft auf Englisch schreibe, aber deshalb nicht will, dass Großbritannien mich annektiert. Oder wie Österreicher, Norditaliener, Ostbelgier, Schweizer, Liechtensteiner, Luxemburger, Siebenbürger, Mennoniten und manche Slowenen und Brasilianer Deutsch sprechen, aber deshalb nicht wollen, dass die deutsche Armee dort (wieder) einmarschiert.
Andererseits, vielleicht sind es gerade deutsche Großmachtsträume, die russische Propaganda bei uns auf fruchtbaren Boden fallen lassen. Die Wahrheit sieht anders aus. Beim Referendum für die Unabhängigkeit der Ukraine stimmten landesweit über 92% für die Unabhängigkeit. In Odessa waren es 85%, in Donezk und Luhansk 84%.
Für die Menschen in der Ukraine geht es sowieso nicht um eine Wahl zwischen zwei Staaten, sondern um den Unterschied zwischen Freiheit und Diktatur. Die Flüchtlinge aus der Ostukraine sind ja nicht deshalb geflohen, weil sie bei den Behörden jetzt Russisch sprechen müssen (was sie alle fließend beherrschen), sondern weil sie nicht bombardiert, ohne Gerichtsurteil eingesperrt und gefoltert werden wollen.
Außerdem fühlen sich junge Leute wie Alexandra und Anna als Europäerinnen, spätestens seit dem 11. Juni 2017. Beide haben das Datum noch genau im Kopf. Das ist der Tag, ab dem Ukrainer visumsfrei in die EU reisen konnten. Dank billiger Flüge sind sie in ein oder zwei Stunden in Athen, Riga, Warschau, Breslau, Mailand, Budapest, Rom oder Berlin. Sie interessieren sich viel mehr für Griechenland, Italien oder Deutschland als für Politik oder den Krieg im eigenen Land.
Kiew ist weit weg, Moskau noch weiter.
Noch viel weiter entfernt vom Wertekanon der jungen Frauen sind Männer, die nur ihre eigene Cola bezahlen, womit sichergestellt ist, dass ich den Rest des Tages allein verbringen kann. Das ist gut, denn auch mein Leben ist ein ständiger Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit.
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Als ich zur Nationalen Bibliothek der Wissenschaften komme, sehe ich gerade noch jemanden, der mir die letzten Bücher weggeschnappt hat.

Ein Banner vor der Bibliothek weist auf eine digitale Kollektion „Schätze der Ukraine“ hin. – Zwei Jahre später werden Bibliotheken und Museen überall in der Ukraine fieberhaft digitalisieren, Gemälde in Kellern verstecken, Statuen mit Sandsäcken schützen. So wie das Denkmal für Graf Richelieu in Odessa.

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Falls jemand glaubt, Ukrainisch wäre leichter als Russisch: Vergesst es!

Auch Ukrainisch verfügt über sieben Fälle und unterscheidet bei der Flexion der Substantive nach Genus, Deklinationsklasse und, je nach harter, weicher oder gemischter Endung, zusätzlich nach Untergruppen der jeweiligen Deklinationsklassen. Mit Ausnahmen für den präpositiven Lokativ natürlich.
Und mit den Verben und Adjektiven will ich gar nicht erst anfangen.
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Davon zwar nicht überfordert, aber leicht genervt war Ludwig Zamenhof, ein Augenarzt, der von 1859 bis 1917 in Białystok und in Warschau lebte. Das ist jetzt in Polen, gehörte damals aber zum russischen Kaiserreich. Mit seiner Mutter sprach er Jiddisch, mit dem Vater Russisch, mit den Nachbarskindern Polnisch und Belarussisch. Sein Vater war Lehrer für Französisch und Deutsch, also schnappte Ludwig diese Sprachen en passant auf. Zudem lernte er in der Schule Latein, Griechisch, Englisch und Hebräisch. (Warum so jemand Augenarzt wird anstatt Auslandskorrespondent oder Geheimagent, das verstehe, wer will. Wahrscheinlich der Einfluss eines petit-bourgeoisen Elternhauses. Wie bei so vielen von uns, denen die Träume ausgeprügelt wurden.)
Jedenfalls entwickelte Ludwig Zamenhof die Plansprache Esperanto, damit alle Menschen der Welt Freunde werden können. Der ganz große Traum ist nicht in Erfüllung gegangen (ich vermute, weil Englisch ziemlich leicht zu erlernen ist und faktisch die Rolle der Weltsprache übernommen hat), aber bis zu 2 Millionen Menschen sprechen Esperanto.
Das fällt mir gerade ein, als ich einen Blick in den Innenhof der Deribasivska-Straße Nr. 3 werfe. Da steht nämlich zwischen den Wäscheleinen eine Statue des Friedens- und Sprachstifters.

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Es lohnt sich, bei offenem Tor hineinzuhuschen in diese Innen- und Hinterhöfe, wo sich ein anderes Odessa zeigt. Ein verborgenes, privates Odessa, wo die Zeit schon vor Jahrzehnten stehengeblieben zu sein scheint, wo Kinder in der Vergangenheit spielen können, wo man sein Auto noch selbst repariert, wo man mit Nachbarn teilt, wenn man gekocht hat, und wo Ostap Bender aus Kapitel 17 seine krummen Geschäfte abwickelt.











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Falls Euch Hinterhöfe nicht verborgen genug sind, bietet Odessa noch ein besseres Versteck: Katakomben. Und zwar richtig viele. Je nachdem, wen man fragt oder wo man nachliest, sind es 2000, 2500 oder 3000 km an unterirdischen Gängen.
Entstanden sind sie eher zufällig, weil man für den Bau der ganzen hübschen Häuser Muschelkalk abbaute, der dann eben Tunnels bis zu 60 Meter Tiefe und auf drei Ebenen hinterließ. Diese Katakomben waren praktisch für Schmuggler, als Abenteuerspielplatz, aber vor allem für sowjetische Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Trotz der Einnahme der Stadt durch deutsche und rumänische Truppen konnten so einige Widerstandsgruppen den Kampf weiterführen.

Heute sterben hauptsächlich dumme Touristen in den Katakomben, weil sie sich verlaufen. Das kann mir nicht passieren, weil ich schon zu dumm bin, den Eingang zu finden.
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Das Museum für Westliche und Östliche Kunst in der Puschkin-Straße ist eines jener Museen, bei denen das Gebäude interessanter ist als die Ausstellung. Aber durchaus passend, die westliche und östliche Kunst in diesem Schmelztiegel von West- und Osteuropa aufeinandertreffen zu lassen.
Ob die Museumswärterin in der Ecke den Napoleon oder ob Napoleon die Angestellte bewacht, bleibt unklar. Aber es sieht so aus, wie wenn sie sich in den Jahrzehnten ihrer Arbeit schon so gut kennengelernt haben, dass sie nicht jeden Tag aufs Neue die weltpolitische Lage diskutieren müssen.

Museumswärterinnen in Osteuropa sind ein ganz eigener Typ. Jenseits der 55, mit selbstgestrickten Jacken und dicken Pullovern. An den Füßen gemütliche Pantoffeln. Wie zuhause im Wohnzimmer laufen sie durch die Paläste, die sie bewachen. Gebildet, oft Kunsthistorikerinnen, Literaturwissenschaftlerinnen, Orientalistinnen, Romanistinnen, Anglistinnen, die in der Sowjetunion hochgeschätzte Arbeit an Akademien, Instituten und Universitäten taten, aber für deren Fähigkeiten der Kapitalismus keine Verwendung mehr hat. Nie kommen ihnen so unfreundliche Sätze wie „Fotografieren verboten“ über die Lippen. Stattdessen blicken sie einen an, wie wenn sie sagen wollten: „Ach Junge, du bist so dünn. Willst du etwas Kartoffelsuppe?“

Nach der Ausstellung über die an die Ukraine retournierte Raubkunst komme ich zur noch nicht retournierten Raubkunst aus Japan, China und der Mongolei. Ach so, das West und Ost im Namen des Museums bezieht sich gar nicht nur auf Europa.
Wird echt Zeit, dass ich den Zug nach Asien nehme, um endlich diesen Eurozentrismus abzulegen.
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Eigentlich will ich noch ins Museum der Schönen Künste, aber Yaniv ruft an und sagt, dass wir unbedingt in die Esshalle gehen müssen, denn die würde morgen schließen.

In einer großen Halle, die irgendwie nach ehemaligen Schlachthof/Schwimmbad/Theater aussieht, gibt es auf zwei Stockwerken all das Essen, das es überall anders auch gibt: Pizza, Gyros, Burger, Hummus.
Warum die schließen, frage ich, denn es sieht beliebt und geschäftig aus.
„Die müssen renovieren“, deutet Yaniv zur Decke. „Danach soll hier ein neues Projekt reinkommen, aber niemand weiß etwas Genaues.“ Unkontrollierter Bauboom halt.
Aber die Pizza schmeckt stabil.
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Noch viel größer als die Esshalle ist der Privos-Markt. Mehrere Hallen, jede so groß wie ein Luftschiffhangar.

Eine Halle für Obst, eine für Gemüse, eine für Brot und Gebäck, eine für Käse. In der Fischhalle lebt die Ware noch, Fische, Krabben und Krebse buhlen japsend um Aufmerksamkeit.
Das Fleisch lebt nicht mehr. Zum Beweis schneidet die Verkäuferin Scheibe um Scheibe zum Probieren ab. Nachdem ich auch noch mit Frischkäse gefüllte Karotten und mit Auberginen umwickelten Käse probiert habe, bin ich schon satt, ohne etwas gekauft zu haben.
Hier gibt es Früchte, die ich nie vorher gesehen habe. Fische, die ich nie mehr sehen will. Aber keine Bücher.
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„Ach, Bücher suchst du?“ fragt Yaniv. „Die werden vor dem Gewerkschaftshaus verkauft.“
Das trifft sich, denn zu diesem tragischen Gewerkschaftshaus wollte ich sowieso. Allerdings habe ich schnell gemerkt, dass es, obwohl es direkt neben dem Bahnhof steht, gerne übersehen wird. Niemand erwähnt es von sich aus. Keiner will darüber reden. Und wenn, dann bleibt es vage und ungewiss. Es ist ein Tabuthema.
Wie wenn sich damals, am 2. Mai 2014, etwas entlud, von dem alle Überlebenden selbst schockiert waren. Wie ein Geist aus der Wodkaflasche, denn die Odessiten, egal ob ukraine- oder russlandfreundlich durch Nichtbeschwören, ja durch Ignorieren, zurück in die Flasche drängen wollen, um diese sodann ganz fest zuzukorken und ins Meer zu werfen.
Das Gewerkschaftshaus steht seither leer. Der große Platz davor, einst genutzt für Volksfeste und Paraden, ist verwaist. Ein Junge probiert sein Mofa aus.
Am Zaun hängen Blumen und Fotos für die 42 Todesopfer. Aber ganz klein, wie um nicht versehentlich ein Feuer zu entflammen, von dem alle hoffen, dass es nie mehr aufflammen wird. Keine Flaggen, keine nationalen Symbole, keine großen Parolen. Selbst der Weihnachtsbaum ist eher bescheiden.
Den Bücherflohmarkt gibt es hier tatsächlich. Bei Eiseskälte sitzen die Verkäuferinnen und Verkäufer im Park, um die literarische Grundversorgung der Stadt aufrecht zu halten. Allerdings nur auf Russisch und Ukrainisch. Die einzigen Bücher auf Englisch sind zwei Lehrbücher: „Englisch für Seeleute“.
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Da fällt mir ein, dass ich Euch eigentlich mal den Hafen zeigen könnte. Ist ja kein unwesentlicher Bestandteil so einer Hafenstadt.
Wie beim Tourismus, so profitiert auch der Hafen von Odessa von der russischen Besatzung der Krim und der Ostukraine. Wenn alle anderen Häfen des Landes besetzt, blockiert oder gefährlich nahe an der Frontlinie sind, dann freut sich der einzig verbleibende freie Hafen über das wachsende Geschäft und hält sich aus der Politik raus.
Kiew ist weit weg, Moskau noch weiter.
Da ich leider nie selbst zur See fuhr, noch in einem Hafen arbeitete, weiß ich nicht, was ich über all die Kräne und Schiffe und Container erklären soll. Ich nehme an, hier wird Weltwirtschaft betrieben, hier wird Weizen ex- und Plastik importiert. Hier wird bestochen, geschmiert und geschmuggelt. Hier gibt es Abschiedsdramen und Wiedersehensfreuden. Ach, was wäre ein Hafen doch für eine Fundgrube an Geschichten, wenn man nur etwas Sinnvolles gelernt hätte und sich mit einem Gabelstaplerdiplom den Zugang zu dieser Welt erschleichen könnte.
Etwas mehr kann ich Euch sagen über das Segelschiff: Es ist die Druschba (Freundschaft), ein Segelschulschiff der ukrainischen Marine. Also so etwas wie die Gorch Fock und genauso oft wie diese reparaturbedürftig und deshalb sinnlos im Hafen herumliegend.

Das Schiff im Vordergrund mit dem amtlichen Kennzeichen F130 ist die Fregatte Hetman Sahaidatschnyj, das Flaggschiff der ukrainischen Marine. Im März 2022 wird es anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine im Hafen von Mykolajiw versenkt werden, wahrscheinlich von der ukrainischen Besatzung selbst, die verhindern wollte, dass das Schiff in russische Hände fällt.

Aus der Werft von Mykolajiw stammt auch der Lenkwaffenkreuzer Moskwa, der zwei Jahre später als Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte zusammen mit 13 weiteren russischen Schiffen den Hafen von Odessa blockieren und die Stadt bedrohen wird. Ich hoffe, die russischen Matrosen kennen den Film „Panzerkreuzer Potemkin“ (Kapitel 12) und wagen es, die Geschichte zu wiederholen. Die Rebellion auf dem Schiff hat damals ja auch die russische Revolution ausgelöst.
Aber von all dem ahne ich noch nichts, während ich U-Boot-Jagd-Korvetten, Patrouillenboote und sonstige Kutter begutachte.
Aber ich mache mich besser schnell aus dem Staub. Denn Seestreitkräfte mögen es gar nicht, wenn neugierige Landratten Fotos von ihren Schiffen machen. Da wird man schwuppdiwupp der Spionage verdächtigt, wie ich mal auf einem montenegrinischen Marinestützpunkt erleben musste.
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Und da finde ich sie endlich: Die echte Potemkinsche Treppe.
War ja eigentlich klar, dass ich am Hafen hätte suchen müssen, schließlich ist die Treppe das Tor zur Stadt für all jene, die, wie es vor der Erfindung von Eisenbahn, Automobil oder gar Flugzeug üblich war, mit dem Schiff ankommen.

Was für ein Anblick nach einer wochenlangen Schiffsreise von Kapstadt, Cartagena oder Kuala Lumpur! Wie ein Berg liegt die steile Treppe vor einem. Man bräuchte ein Fernglas, um die Menschen auf dem oberen Treppenabsatz zu erkennen, wie wenn man in den Alpen einen Bergkamm nach einer Seilschaft absucht.

Und die Verheißung, die dieser schier unbezwingbare Stufenberg verspricht! Wer diese Treppe zu erklimmen vermag, der wird, der muss einfach belohnt werden mit einer Stadt, die es wert ist. Nach so einem Ein- und Aufgang kann kein mittelmäßiges Hafennest liegen. Die Reise hat sich gelohnt, man weiß es schon in diesem Moment, noch ehe man den Primorski-Boulevard erreicht hat.
Tatsächlich begrüßen einen großzügige Parks, breite Boulevards und prächtige Paläste, wenn man die 200 Stufen endlich überwunden hat.










Die Treppe ist nicht nur wegen der Verwendung in Sergey Eisensteins Film (siehe Kapitel 12) berühmt, sondern auch aus eigenständiger architektonischer Kraft. Wenn man einen Blick zurück wirft, sieht man zum einen leider ein hässliches Hotel, aber zum anderen erscheint der Hafen ganz nah, nur eine kurze Treppe entfernt.

Seht Euch zur Erinnerung und zum Kontrast noch einmal die Treppe von unten an.

Die Treppe wurde absichtlich so gebaut, dass man von oben nur die Absätze, aber keine Stufen erkennt, was den Hafen näher an sie Stadt rückt. Von unten hingegen sieht man nur Stufen, aber keine Absätze. Dass die Treppe von unten endlos lang, fast in den Himmel reichend, wirkt, liegt aber vor allem an einem anderen architektonischen Trick. Unten ist die Treppe 21 Meter breit, oben nur 13 Meter. Die perspektivische Verzerrung gaukelt von unten eine Entfernung vor, die gar nicht existiert, während sie von oben den Entfernungsunterschied aufhebt. Genial!
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Eine ähnliche Täuschung sind die auf dem Stadtplan eingezeichneten Buchläden.
An deren Stelle befinden sich jetzt Bars oder Dönerläden. Traurig.
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Gleich bei der Wohnung, an der Ecke Dvorianska/Pastera, verkauft eine Frau spät abends noch Obst.
„Emil, übersetze dem Kunden doch bitte, dass das Kilogramm Äpfel und die Zitrone zusammen 45 Hrywna kosten“, sagt sie zu ihrem etwa 12-jährigen Sohn, der neben ihr sitzt und auf seinem Handy spielt.
Schüchtern tut er wie geheißen, und die skythischen Goldzähne der Mutter strahlen vor Stolz.
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Weil man sich am frühen Morgen in Odessa mit niemandem treffen kann (sieh Kapitel 28), nehme ich den Bus zum Standort der ehemaligen 411. sowjetischen Küstenverteidigungsbatterie, wo noch ein bisschen Kriegswerkzeug aus dem Zweiten Weltkrieg rumsteht. Man weiß ja nie, wann man das wieder brauchen kann. Und in der Zwischenzeit taugt es als Spielplatz.
Oder als Ort für romantische Dates: „Ich schwöre dir ewige Liebe, bei der Ehre der ruhmreichen Schwarzmeerflotte, und ich werde um dein Herz kämpfen wie einst die 255. Marine-Schützenbrigade um den Küstenabschnitt zwischen Tschornomorske und Novofedorivka.“

Leider haben sich das verliebte Paar und ich den kältesten Tag der Woche ausgesucht, denn meine Finger frieren fast am Stahl fest, wenn ich auf den U-Booten oder Raketenwerfern herumklettere.
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Zwei Jahre später überkommt mich ebenfalls ein eisiges Frösteln, als ich meine Fotos durchsehe. Vor dem kleinen und so früh am Tag natürlich noch geschlossenen „Museum zur heldenhaften Verteidigung von Odessa“ zeigt eine Karte die Belagerung der Stadt im Jahr 1941.

Ukrainische Städte, auf die aus allen Richtungen dicke Pfeile feindlicher Armeen zeigen, diese Kombination erlangt im Frühjahr 2022 eine traurige Aktualität.
Die Karte zeigt die Situation vom 5. August bis zum 16. Oktober 1941, als Odessa nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion von deutschen und rumänischen Truppen belagert wurde. Erst mit dem Unternehmen Barbarossa begann nach sowjetischen Geschichtsverständnis der Zweite Weltkrieg. Ein Geschichtsverständnis, das, wie dieses Denkmal nur als ein Beispiel zeigt, auch in Odessa wachgehalten wird.

Die Sowjetunion evakuierte einen Teil der Zivilbevölkerung über den Seeweg. Damit die Schiffe auf der Rückfahrt nicht leer herumtuckerten, brachten sie Truppen zur Verstärkung mit. Zusammen mit der in Odessa verbliebenen Bevölkerung wurden drei Verteidigungsringe errichtet.
Das Schlachtenglück ging, wie Ihr an den blauen und roten Pfeilen auf der Karte erkennen könnt, ein bisschen hin und her, aber am Ende eroberten die Angreifer Odessa. Weil die Stadt jedoch mehr als zwei Monate der Belagerung standgehalten hatte, wurde sie zur Heldenstadt erklärt und durfte fortan den Leninorden tragen, der Euch bei der Ankunft am Bahnhof begrüßt (siehe Kapitel 2).
Und jetzt sieht es in Odessa wieder so aus wie 1942. Sandsäcke und Panzersperren vor den Kulturdenkmälern der Stadt.

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Der Busfahrer im Bus Nr. 175 weigert sich, das Fahrgeld anzunehmen: „Nein, nein, Sie müssen erst am Ende bezahlen.“ Und wahrscheinlich nur, wenn man mit der Fahrt zufrieden war.
Bei Fahrgästen, die nur ein paar Stationen mitfahren, verzichtet er ganz auf die Bezahlung, sehe ich.
Was für ein Unterschied zu Kiew, wo selbst die privat nettesten Menschen unfreundlich werden, sobald sie die Uniform eines Transportgewerbes oder eines Supermarktes überstülpen. Im Gegensatz zur Hauptstadt wirkt Odessa viel lockerer, freundlicher, ruhiger, entspannter.
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Auf dem Gehsteig in der Torhova-Straße verkauft eine alte Frau mit Kopftuch Gebäck, das allesamt verlockend aussieht. Sie steht hinter einem wackeligen Holzstand mit Mikrowelle, deren Kabel in die dahinterliegende Apotheke führt. Wahrscheinlich dürfen die Apothekerinnen dafür umsonst speisen.
Die Frau besteht darauf, das Küchel in eine Plastiktüte zu verpacken, obwohl ich aus Umweltschutzgründen vehement abwinken will. Außerdem bin ich jetzt schon hungrig.
Ein paar Meter weiter setze ich mich auf eine Bank, beiße kräftig zu und entdecke, dass es zwar aussieht wie ein süßes Küchel, aber dass der Teig mit Fleisch und Käse gefüllt ist. Komplett gefüllt bin auch ich nach der Hälfte, und jetzt verstehe ich den Sinn der Tüte. Es wird fürs Abendessen reichen.
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Das Museum der Schönen Künste ist nach odessitischen Standards fast schon in einem unscheinbaren Gebäude, dem ehemaligen Sommersitz des Grafen Pototsky auf dem Sofiyivska-Boulevard, untergebracht.
Auch hier sitzen an der Theke etliche Frauen in warmen Pullovern, jede von ihnen in ein Buch vertieft. Eine von ihnen unterbricht die Lektüre, um mir ein Billet zu verkaufen. 35 Hrywna für Studenten, das ist etwa 1 Euro. An der nächsten Tür unterbricht eine andere Frau die Lektüre, um mein Billet durchzustreichen. Nicht, dass ich es später auf dem Schwarzmarkt verkaufe.
Es findet gerade eine Führung statt, allerdings auf Russisch, also schließe ich mich nicht an, sondern erkunde das Museum auf eigene Faust. Nur einmal merke ich auf, als der Name Iwan Kramskoi fällt. In Kiew hatte ich in der Ivana-Kramskoho-Straße gewohnt und einen Monat gebraucht, um zu verstehen, dass das kein Frauenname, sondern der für Namen von in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Straßen zu verwendende palatalisierte Ablativ dritten Grades von Iwan Kramskoi ist.

Auch hier sitzen überall alte Frauen in Wollpullovern und Wollmützen und lesen, so ruhig, wie wenn sie für ein Gemälde von Kyriak Kostandi posierten.
Viele Werke bemalen den jetzt unerreichbaren Sehnsuchtsort Krim.
Die Holztreppe in das Obergeschoss hängt so schief, dass ich Angst habe, es nicht mehr lebend zur Kunst des 20. Jahrhunderts zu schaffen. Aber es geht, und ich komme in den Genuss der sowjetischen Kunst. Wie bei der Oper in Kapitel 18 werden hier lebensnahe Szenen verewigt: Arbeiter lesen die Nachricht von der Rekordkohleförderung durch den Bergmann Alexei Stachanow. Rebellierende Seeleute des Panzerkreuzers Potemkin (siehe Kapitel 12) tragen den Leichnam von Wakulintschuk an Land. Situationen eben, wie sie jeder Werktätige aus dem Kombinat oder von der Kolchose kennt.
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Nach einer Woche ohne Bücher geht mir der Lesestoff so ab, dass ich verzweifelt zum Bahnhof gehe, um am Kiosk nach internationalen Zeitungen zu fragen.
Süddeutsche Zeitung? – Nein.
Spiegel? – Nein.
New York Times? – Nein.
Economist? – Nein.
El Pais? – Nein.
Haben Sie irgendwelche internationalen Zeitungen? – Einen Moment, ich sehe mal nach… Die South China Morning Post haben wir noch.
Na gut, die ist wenigstens auf Englisch. So lese ich lustlos etwas über Hongkong, Malaysia, Containerschiffe und Alibaba, bis ich, ganz klein, auf Seite 19 eine Nachricht entdecke: „Mehrere Fälle eines SARS-ähnlichen Coronavirus im Hubei-Xinhua-Krankenhaus. Behörden schließen Fischmarkt in Huanan.“
An diesem Tag, am 21. Januar 2020, weiß ich: Jetzt kommt die Apokalypse.
Sogleich organisiere ich mir für die nächsten Monate ein Housesitting auf einer möglichst weit entfernten und damit virussicheren Insel mitten im Atlantik und buche einen Flug, der heute noch Odessa verlässt.
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Das Flughafengebäude müsste eigentlich auch noch Hammer und Sichel aufweisen, so alt ist es. Wenn nicht schon andere Passagiere schlotternd, bibbernd und frierend warteten, würde ich denken, dass ich mich verlaufen hätte. Etwas Beton, etwas falscher Marmor, ein paar Asbest-Platten, die fast von der Decke fallen. Maximal 10 Grad im Gebäude. In den Fluren ist so wenig Licht, dass man mit der Handytaschenlampe auf die Suche nach der Toilette gehen muss. Die Tapete rollt sich von der Wand.
Ich folge dem DIN-A4-Blatt aus dem Drucker, das den Raucherraum anzeigt. Vielleicht stehen dort die Polstermöbel und der wärmespendende Bollerofen.

Nein, es ist ein kleiner Raum, gefliest wie in einem Schlachthof oder einer Molkerei. Was ihn zum Raucherraum qualifiziert, ist nur der Feuerlöscher, der, seit er 1986 von der Tschernobyl-Katastrophe übrig geblieben ist, die Tür offen hält. Ganz offen, damit sich der Rauch gut ausbreiten kann.

Über das Rollfeld läuft ein großer, schlanker, weißer und scheinbar herrenloser Hund. Wenn es eine von den fetten Katzen gewesen wäre, hätte ich sie noch schnell eingepackt.
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Am nächsten Tag fragt jemand in einer Facebook-Gruppe über Osteuropa, ob für einen Besuch in Odessa ein Tag ausreiche. Ich antworte nicht, weil ich solche Fragen und die Antworten darauf sinnlos finde. Wie zu befürchten, schreibt jemand, ausgerechnet ein Ortsansässiger: „An einem Tag in Odessa kannst du eigentlich alles sehen, was es zu sehen gibt.“
Da kennt jemand seine eigene Stadt nicht.
Aber bei Menschen, die sich durch diesen langen Artikel gequält haben, besteht wohl sowieso nicht die Gefahr, dass sie zack-zack durch Städte hetzen, um eine nach der anderen abzuhaken. Nehmt Euch lieber Zeit. Wie Ihr seht, lohnt es sich. Und nach dem Krieg wäre ein Besuch in der Ukraine ein willkommener Beitrag zum Wiederaufbau des Landes.
Links:
- Weitere Berichte aus der Ukraine.
- Ähnliche Stadtspaziergänge gibt es z.B. durch Tiflis, Marienbad oder Pilsen.
- Wenn Ihr von meiner nächsten Ukraine-Reise eine Postkarte möchtet, so geht das ganz einfach, indem Ihr diesen Blog unterstützt.
Apropos: Das Postamt in Odessa ist auch beeindruckend.

Dein Artikel war grad wie ein unverhoffter, zufälliger Spaziergang. Man geht los, mal kurz um die Ecke, und dann läuft man immer weiter und schwebt von einer interessanten Begegnung zur nächsten und staunt am Abend, dass die Füße gar nicht schmerzen sondern der Kopf und das Herz vor Anregungen überlaufen.
Danke, dass du uns mitgenommen hast. Man wünschte, die letzten Sätze (und aktuellen Fotos) einiger Kapitel würden da nicht stehen müssen.
Danke! Ich bin sehr gern mit dir durch Odessa gelaufen.
Vielen Dank!
Ich habe Euch gerne mitgenommen, freue ich mich doch über Menschen, die genauso ziellos wie ich herumirren anstatt eine vorgefertigte Liste mit Sehenswürdigkeiten abzuklappern.
Ahoj! Ein schöner Bericht. Ich wollte lange hin. Ach ja. Ich bin total leicht beeinflussbar, darum antworte ich im Stil des Artikels:
1. Die Fotos sind grandios. Ich mochte speziell die schwarze Katze im Baum, die alten Männer beim Schachspielen, die alten Häuser und die alten Autos. Ich war mal zwei Tage in Lemberg und habe vor allem viele alte Saporishjas in allen Farben fotografiert. Ein Grill war da leider nicht dabei!
2. Die Sandsäcke, die Karte der Belagerung von 1941, das eingemummelte Denkmal und vor allem das (zerstörte) Schiff im Hafen: Da möchte man weinen und schreien. Aber damit ich es richtig verstehe, die aktuellen Fotos sind nicht von Dir, sondern aus den Medien? Vielleicht hab ich auch die Quelle übersehen : )
3. Die Wolbergs-Entdeckung ist super… man sollte das im Auge behalten! Auch dieses Wandgemälde von Regensburg… Da musste ich sehr lachen.
4. Außerdem fand ich interessant, dass z.B. das Gewerkschaftshaus angesprochen wurde, also die Geschehnisse von 2014. Aber, um am Ende ganz diplomatisch etwas Kritik unterzubringen, die Verlinkung auf den Welt-Artikel, der nur Fotos ohne viel Erklärung enthält, fand ich nicht so gut. Man ist in den jetzigen Kriegszeiten (zurecht) extrem empfindlich und giert nach Kontext.
5. Also ich finde schon, dass ukrainisch ein kleines bisschen leichter ist als russisch, denn wie die Tschechen sagen sie dort Dobry den und Djakuje ; )
6. Sorry für den langen Kommentar, aber der Artikel war ja auch lang…
Hallo Anne,
wie man sieht: Ich mag nummerierte Artikel und Kommentare. Das macht das Replizieren und Bezugnehmen doch viel einfacher. 🙂 (Ich weiß gar nicht, wie Menschen lange E-Mails ohne nummerierte Absätze schreiben können.)
1. Ich bin leider immer sehr zurückhaltend, was Fotografien von Menschen anbelangt. Deshalb gibt es bei mir mehr Katzen, Häuser und Autos.
Lemberg ist auch eine faszinierende Stadt, glaube ich! Ich war nur ein paar Stunden dort, auf einem Zwischenstopp während meiner Zugfahrt nach Kiew – https://andreas-moser.blog/2019/12/25/zwei-nachtzuege-nach-osten/ . Bei der damaligen Ukraine-Reise wollte ich dann eigentlich von Odessa über Lemberg zurückfahren. Aber dann kam ja das Virus.
2. Die aktuellen Kriegsfotos sind nicht von mir, sondern frech aus dem Internet geklaut. *schäm*
Das Foto des gekenterte Schiffes am Strand von Odessa (Kapitel 26) ist jedoch schon von mir. Das lag schon 2020 so nutzlos herum.
3. Ich war selbst verdutzt, als ich diesen neuen Aspekt in der Wolbergs-Saga entdeckte. Konnte es zuerst selbst nicht glauben. Aber solange niemand ein Foto der beiden Bürgermeister in einem Raum vorweisen kann…
4. Du hast Recht mit deiner Kritik. Das war etwas faul von mir. (Und ich dachte nicht, dass Leute auf Links von einem eh schon langen Artikel gerne noch mehr lesen. Aber es freut mich, dass du mich eines besseren belehrt hast!)
Ich habe den Link jetzt ausgetauscht: https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/303013/analyse-der-ambivalente-aufstieg-einer-ukrainischen-unzivilen-gesellschaft-nach-dem-euromaidan/
5. Wer Tschechisch als Maßstab für die Erlernbarkeit von Sprachen anlegt, ist ja wohl sowieso ein Sprachgenie. 😉
Hallo Andreas, hier wird man als Leserin aber noch ernstgenommen : ) Danke dafür. Und keine Sorge, auch ich beherrsche Tschechisch bei weitem nicht so gut, wie mein Angeberkommentar vielleicht glauben lässt. Aber es reicht halt gerade, um ein paar grundlegende Gemeinsamkeiten zu erkennen…
Absolut! Ohne Leserinnen und Leser wäre das Bloggen ja frustrierend.
Ich komme vor jeder Reise nach Tschechien nur bis zur Aussprachetabelle, um wenigstens die Ortsnamen nicht ganz falsch aussprechen zu können. Und ein paar Grüße, aber dann merken die Leute eh, dass ich Ausländer bin und fragen, ob ich Englisch oder Deutsch kann.
Die Unerlernbarkeit von Tschechisch spielt auch in dieser Geschichtsposse eine Rolle, wenn auch nur eine nebensächliche:
https://andreas-moser.blog/2021/11/02/kaiser-karl/
Un relato precioso, le has hecho justicia a una ciudad invaluable, lejos de kiev pero mas lejos todavía de Rusia.
Cuando leo tus artículos, a veces pienso que eres una biblioteca.
Definitivamente soy un ratón de la biblioteca. 🙂
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Odessa ist einfach ein Juwel, lieber Andreas, was du uns ja bestens gezeigt hast! Grazie mille e saluti.
Vielen Dank!
Und dabei war damals Winter. Gar nicht auszudenken, was ich alles entdeckt hätte, wenn es wärmer gewesen wäre und ich mehr Zeit mit ziellosem Herumspazieren verbringen hätte können.
All das, was du verpasst hast, kannst du dir ja das nächste Mal ansehen!
Das habe ich mir fest vorgenommen!
Sobald der Krieg vorbei ist, geht es in die Ukraine.
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Hallo Andreas,
Jeden Tag entdecke ich neue Geschichten auf Deiner Seite. Es ist ja schon viel mehr, als ein Blog. Schöne Geschichten. Geschichten, die die Seele des Ortes wiedergeben. Ich hoffe, Du kannst sehr bald wieder in die Ukraine reisen. Und ich würde mir selbst wünschen, es zu können. Vielleicht klappt es ja.
Bin gespannt, was ich als nächstes hier entdecke. Es sind ja noch sehr viele Einträge da, die gelesen werden wollen. In chronologischer Reihenfolge mache ich das sicher nicht. Wirklich tolle Seite.
Viele Grüße Wolfgang
Hallo Wolfgang,
vielen Dank für diese Rückmeldung!
Ich freue mich immer, wenn jemand meinen Blog neu entdeckt und dann Lesestoff für Monate vor sich hat. Weil ich selten chronologisch schreibe, muss man auch gar nicht chronologisch lesen.
Ich war seither tatsächlich wieder in der Ukraine, nämlich im Sommer 2022. Allerdings nur in den Karpaten, wo man vom Krieg nicht so viel mitbekam:
Ich wollte eigentlich auch diesen Herbst/Winter wieder hinfahren, aber jetzt, wo dort Strom und Heizung und alles knapp ist, hätte ich ein schlechtes Gewissen und wahrscheinlich das Gefühl, nur „im Weg zu stehen“.
Ich habe noch ziemlich viele unveröffentlichte Fotos und Beobachtungen aus Kiew, wo ich den Winter 2019/20 verbracht habe. Vielleicht mache ich daraus demnächst eine Serie „Ein Winter in Kiew“, damit nicht immer alles in so überbordende Monster-Artikel ausufert.
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