Satu Mare, die geheime Welthauptstadt des Brutalismus

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Zu jeder Stadt in Rumänien bekommt man ungebetene, aber gute gemeinte Ratschläge, wenn man dorthin fährt: „Du musst dir unbedingt die Festung ansehen“ in Alba Iulia. „Du musst in die Teleki-Bolyai-Bibliothek“ in Târgu Mureș. „Du musst das Ethnographische Museum besuchen“ in Sighet.

Immer sehr bildungs-, kultur- und geschichtslastig. Denn Rumänien hat die höchste Dichte an Intellektuellen, was Menschen von außerhalb oft zu der irrigen Annahme verleitet, es sei ein armes Land.

Zu Satu Mare empfiehlt mir niemand irgendwas.

Für weniger erfahrene Reisende wäre das ein Zeichen, weiterzuziehen. Nach Debrecen, nach Oradea, nach Timișoara oder nach Budapest.

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Für mich ist es ein gutes Zeichen. Hier kann man ziellos umherstreunen und sich überraschen lassen. Wie die Hunde und Katzen, die in der Mittagshitze die Kontrolle über die Stadt übernommen haben.

Ein weiterer Irrglaube über Rumänien ist, es läge in Osteuropa und sei deshalb immer kalt und verschneit. In Wirklichkeit ist Rumänien, wie der Name schon sagt, ein romanisches Land und liegt auf den Breitengraden der Mittelmeer- und Adriaküsten.

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Deshalb steht hier auf dem Platz vor der Kirche die kapitolinische Wölfin mit Romulus und Remus, um ungebildete Touristen daran zu erinnern, dass Rumänien der legitime Nachfolger des Römischen Reiches und überhaupt die Wiege der Zivilisation ist.

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Und deshalb gibt es hier im Sommer eine Siesta.

Wer schlau ist, geht dazu in den Park, setzt sich unter schattige Bäume oder genießt den Fahrtwind der Eisenbahn.

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Wer weniger schlau ist, zieht durch die Stadt und macht Fotos. Das hat immerhin den Vorteil, dass mir keiner der etwa 90.000 Einwohner ins Bild läuft. Und Ihr bekommt einen ersten Eindruck davon, wie hübsch die Stadt ist.

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Die einzige Institution, wo in Rumänien rund um die Uhr Betrieb ist, ist die Kirche. Da sind selbst mittags unter der Woche die Tickets ausverkauft, so dass die Leute bis auf die Straße stehen.

Damit das mit der christlichen Nächstenliebe nicht zu weit geht, weisen Schilder vor der Kirche darauf hin, dass man den Armen keinesfalls Geld geben dürfe.

„Ihr Geld hilft ihnen nicht. Sagen Sie NEIN zum Betteln“, ruft es einem christlich-verlogen entgegen.

So können die Pharisäer ohne schlechtes Gewissen in ihre Mercedes-Limousinen einsteigen, nachdem sie dem wohlgenährten Priester ein paar Scheine zugesteckt haben. (Rumänische Priester nehmen keine Münzen an, was sie theologisch damit begründen, dass Jesus von Judas gegen Münzgeld verraten wurde.)

Gerade vor einer Kirche ist die Stigmatisierung des Bettelns besonders zynisch, weil die Rumänisch-Orthodoxe Kirche die größte Bettlerin im ganzen Land ist. Und alles für Pomp und Luxus. Ich weiß nicht, ob die Zahl noch stimmt, aber als ich in Rumänien lebte, wurde jeden dritten Tag eine neue Kirche eröffnet. Und keine kleinen Kapellen, nein, das sind richtig fette Brummer, mit goldenen Kuppeln und so.

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Nett finde ich aber, dass trotz des wenigen Verkehrs vor jedem Zebrastreifen auf die tödliche Gefahr durch Handynutzung und Kopfhörertragen hingewiesen wird.

In Rumänien ist das besonders gefährlich, weil das Land bekanntlich das beste, schnellste und preiswerteste Internet in ganz Europa hat. Ich persönlich bin hingegen ein bisschen altmodisch und lasse mich, wenn es denn unbedingt sein muss, lieber beim Zeitungslesen überfahren.

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Außerdem erkennt man, wenn man genau hinsieht, dass die Stadt mindestens dreisprachig ist: Rumänisch, Ungarisch und Deutsch.

Sogar, wenn Menschen Bücher zur Weitergabe an die Allgemeinheit auf ihre Fensterbank legen, sind vor jedem Haus diese drei Sprachen vertreten.

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Den deutschen Namen Sathmar habt Ihr vielleicht schon mal gehört, denn danach sind die Satmarer Juden benannt. Das ist die größte Gruppe unter den chassidischen Juden. Ihr Begründer, Rabbi Yoel Teitelbaum, wirkte in Satu Mare und übersiedelte nach dem Holocaust mit den wenigen Überlebenden seiner Gemeinschaft nach New York. Das ist eine Stadt in Nordamerika, die auch ein bisschen auf multikulturell macht und die ihn deshalb an Satu Mare erinnerte.

Die Sekte, wie man sie vielleicht nennen muss, ist in den letzten Jahren durch die Geschichte von Deborah Feldman einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Über ihre Flucht aus New York nach Deutschland hat sie das Buch „Unorthodox“ geschrieben, das dann, wie es das grausame Schicksal eines jeden kommerziell erfolgreichen Buches ist, verfilmt wurde.

Mir persönlich sind die Satmarer zu konservativ und anti-zionistisch, aber man muss natürlich klarstellen, dass nicht alle Juden in Satu Mare zu dieser Strömung zählten. Und nicht alle chassidischen Juden sind gleich. Da gibt es jede Schattierung, von konservativ bis liberal, von mystisch bis cool. Das ist ein bisschen wie bei den charismatischen Christen. Theologisch hängt alles an der Frage, ob man die aggaditischen Aspekte in den Mischnatraktaten neologisch oder halachisch auslegt, aber in Wirklichkeit geht es um die Persönlichkeit des jeweiligen Predigers. Jedenfalls können alle gut tanzen.

Ich könnte jetzt irgendwas zu Religion und Drogen sagen, aber das hat der Kollege Marx schon abgehandelt. Deshalb lieber noch einen Blick auf die einzig verbleibende der früher drei Synagogen in Satu Mare, die jetzt etwas ungünstig zwischen modernen Gebäuden eingequetscht liegt.

Das letzte Foto deutet schon den ganz besonderen Charme von Satu Mare an, aber ein bisschen müsst Ihr Euch noch genügen, bis wir ab Kapitel 16 endlich auf den Brutalismus-Boulevard einbiegen.

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Besucher aus dem Rest der Welt mögen beeindruckt sein, wenn sie in eine Kleinstadt in Osteuropa kommen, eine Unmenge Geschichte und Kultur erblicken und die Menschen in mehreren Sprachen parlieren hören.

Aber eine historisch für diese Region enorm prägende Sprache fehlt leider: Jiddisch. Selbst wenn man weiß, dass um 1940 ein Viertel der Bevölkerung von Satu Mare jüdisch war, kann man doch nicht wirklich erahnen, um wieviel lebendiger, vielsprachiger, facettenreicher diese Landstriche Ostmitteleuropas vor dem Holocaust waren.

So oft sie sonst untereinander stritten, beim Völkermord waren sich Deutsche, Ungarn und Rumänen übrigens weitgehend einig. Die Gedenktafel am Bahnhof von Satu Mare weist zwar zweisprachig darauf hin, dass alles die Schuld der faschistischen Ungarn unter Admiral Horthy war, die damals Satu Mare kontrollierten. Aber die Rumänien waren nicht besser (Beispiele: Kapitel 20 und 21 meines Artikels über Iași oder Kapitel 27 und 47 meines Berichts aus Odessa).

Aber jetzt bin ich schon wieder bei den schweren Themen gelandet, deretwegen niemand mit mir verreist. Die Leute wollen einfach den Sommer genießen und ein Eis schlürfen.

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Als Kompromiss schlage ich vor, dass wir uns mal diesen Bücherwagen neben dem Park ansehen. Die mobile und bis unters Dach gut bestückte Buchhandlung wird betreut von einem Jungen und einem Mädchen.

Als ich nur aus Neugier einen Blick über das Sortiment gleiten lasse, spricht mich der junge Bücherwurm sogleich an und fragt, wonach ich suche. Ich muss ihn enttäuschen, weil ich noch drei ungelesene Bücher im Rucksack habe, obwohl sich die Reise schon dem Ende zuneigt. Aus ständiger Angst, dass mir der Lesestoff ausgeht, schleppe ich dann meist zu viele Romane durch Rumänien und zu viele Paperbacks über die Puszta.

Dass ich nichts kaufen will, stört den Buchhändler nicht im Geringsten. Als ich auf seine Frage zugebe, aus Deutschland zu sein und Geschichte zu studieren, schwärmt er vom Deutschritterorden, von den Landsknechten und von Otto von Bismarck. Wie diskutieren ein bisschen hin und her, zwischen Sozialdemokrat und Bismarckist, aber der Ton bleibt freundlich.

Als ich mich schließlich verabschiede, schüttelt er mir die Hand und bedankt sich, dass ich Satu Mare besucht habe. Das passiert einem auch nicht in vielen Städten.

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Das Tor zum Kunstmuseum steht offen, aber das Kassenhäuschen ist geschlossen. Es ist 12 Uhr, und dienstags soll von 10 bis 17 Uhr geöffnet sein. Ich spaziere in den Innenhof, wo ein Angestellter den Rasen wässert, und erkläre mein Anliegen.

„Ja, ja, natürlich haben wir geöffnet“, sagt er und dass er seine Chefin holen werde.

Die Museumsdirektorin sieht sehr nach Kunstmuseum aus. Langes Kleid, farblich passender Hut, und nachdem wir ein bisschen auf Englisch radebrechen, fragt sie, ob wir nicht ins Französische wechseln können, weil ihr das etwas leichter falle.

„Mais bien sûr, Madame„, antworte ich und fühle mich sogleich kosmopolitischer. Satu Mare ist wirklich eine Weltstadt!

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Und so wird das Museum nicht nur extra für mich aufgesperrt und beleuchtet, sondern die Direktorin höchstpersönlich erklärt mir die Werke von Aurel Popp, des bekanntesten örtlichen Malers. Die Gemälde sind sehr körperbetont, bei Mensch und Tier. Wie ein moderner Michelangelo.

Die Bezeichnung „Maler“ greift tatsächlich zu kurz. „Künstler“ sollte ich schreiben, denn Popp war auch Bildhauer, Zeichner, Grafiker und Organisator von Kulturveranstaltungen. Außerdem betrieb er eine Porzellanmanufaktur, in der jedes Stück als Unikat in Handarbeit hergestellt wurde und die deshalb nach fünf Jahren in Konkurs ging.

„Eigentlich hätte Popp am liebsten nur als Bildhauer gearbeitet,“ erklärt die Museumsleiterin, „aber Skulpturen verkauft man nur an öffentliche Einrichtungen oder an die Kirche. Bei beiden wollte sich Popp nicht einschleimen, also fokussierte er sich auf Gemälde. Die kann man auch an Privatleute verkaufen.“

Popp begann in der „Schule von Baia Mare“, die ich leider nicht sehen konnte, weil das dortige Museum montags und dienstags geschlossen ist, distanzierte sich aber bald und zog nach Baia Sprie. Viele Schüler folgten ihm, weshalb der dortige Kirchturm einer der meistgemalten in Rumänien ist.

Eine Besonderheit war die absichtliche Unfertigkeit der Bilder. Ein oder zwei Figuren verblieben als Skizzen und wurden nicht mehr farblich ausgefüllt.

Man kennt das ja selbst, wenn man an einem längeren Projekt sitzt, das einen ursprünglich begeistert hat. Aber irgendwann ist die Luft raus, man will eigentlich schon wieder etwas Neues machen. Die meisten von uns kämpfen sich irgendwie durch, nach dem blöden Motto „wer A sagt, muss auch B sagen“.

Nur Popp, das Genie, hat es richtig erkannt: Das Leben ist zu kurz. Man kann auch mittendrin den Pinsel fallenlassen und etwas Neues anfangen.

Leserinnen und Leser außerhalb Rumäniens und Ungarns haben wahrscheinlich noch nie von Aurel Popp gehört. Selbst seine Wikipedia-Seite gibt es nur in diesen beiden Sprachen. Und auf Esperanto, denn das spricht man in Satu Mare natürlich auch. Ist ja eine leichte Sprache, die man an ein paar Nachmittagen erlernt.

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Und erst recht kennt niemand die Gebrüder Tatz, Kálmán und László, Söhne eines Sathmarer Lokführers. Kálmán Tatz war angeblich der beste Schüler von Popp. Er wurde in den Ersten Weltkrieg einberufen und landete irgendwie als Kriegsgefangener in Sibirien. Von dort konnte er fliehen und schlug sich nach China durch, wo er – irgendwas muss man mit seiner Zeit ja anfangen – eine Porzellanfabrik übernahm.

Viele Jahre später kam Aurel Popp in Rumänien eine Porzellantasse unter die Augen, die zwar das weltbekannte Gütesiegel „Made in China“ trug, ihn aber verdächtig an die Hand eines seiner Schüler erinnerte.

Daraufhin machte sich der Bruder, László Tatz, auf den Weg nach Asien, um den lange für tot geglaubten Kálmán zu suchen. Die Brüder fanden sich tatsächlich, gaben aber kurioserweise keine Lebenszeichen von sich, sondern blieben zusammen in China, bis Kálmán 1932 starb. Dann zog László auf die Philippinen, wo er noch bis 1951 lebte. Er hatte den Auftrag bekommen, die hundert schönsten Frauen Asiens zu porträtieren. Manchmal tauchen einzelne Bilder aus der Serie bei Auktionen auf, aber niemand weiß, wie viele es gibt und wo sie herumtingeln.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich das alles so richtig verstanden habe. Schließlich kann ich gar nicht so gut Französisch. Jedenfalls empfehle ich, wenn Ihr die fantastische Geschichte der Odyssee osteuropäischer Künstler nach Sibirien und Asien lesen wollt, den Roman „Die Fassade“ von Libuše Moníková.

Am Ende des Rundgangs bedankt sich die Kunstexpertin überschwänglich, dass ich ihr Museum besucht habe. Das passiert einem im Louvre nicht.

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Das Gebäude, das heute das Kunstmuseum von Satu Mare beherbergt, ist übrigens das gleiche, in dem 1711 der Friede von Sathmar geschlossen wurde. Die Gedenktafel dazu stammt natürlich auch von Aurel Popp.

Jetzt könnte ich ein bisschen etwas erklären von den Habsburgern und den Ungarn, von den Kuruzen-Aufständen und dem Venezianisch-Österreichischen Türkenkrieg. Aber ich erinnere mich an das Vorbild des großen Meisters, das auf diesem Blog viel zu selten beherzigt wird, und lasse hier eine bewusste Leerstelle.

Außerdem will ich Euch etwas anderes zeigen.

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Ich habe schon die ganze Zeit versucht, das Highlight von Satu Mare aus den Fotos herauszuhalten, um es für den Schluss aufzuheben. Das ist nicht ganz einfach, weil der Turm der Kreisverwaltungsbehörde mit seinen 97 Metern alles überragt. Bei der Fertigstellung 1984 war es immerhin der höchste Turm in ganz Rumänien.

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Die Romanik oder die Renaissance haben durchaus etwas für sich. Auch Jugendstil oder Neoklassizismus können gefallen. Aber für wahre Kenner und Connaisseurs gibt es nur einen Baustil, der das Herz höher schlagen, die Augen übergehen, den Geist jauchzen und die Seele jubilieren lässt.

Der Brutalismus benötigt nicht viel. Ein bisschen Beton und einen Eimer voll Wagemut. Die richtigen Hände zaubern daraus die Zukunft. Die Funktion diktiert die Form. Nicht so wie früher, als einen die Häuser regelrecht erschlagen haben. Und Farbe wird endgültig als überflüssiger Firlefanz enttarnt.

Noch nirgendwo habe ich so ein perfekt choreographiertes und erhaltenes Brutalismus-Ensemble vorgefunden wie in Satu Mare. Ein Stadtzentrum wie eine Raumfahrtbasis. Wohnblocks wie Raketenabschussrampen.

Man muss auf die Einzelheiten achten, die liebevollen Details, die klaren Linien, die Ecken und Kanten. Die feine Farbgestaltung, die feierlichen Fonts, die funkensprühende Fröhlichkeit. Das ist Perfektion. Architektur, die man regelrecht umarmen will. So würde Gott bauen, wenn es einen gäbe.

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Auch hier überall erkennbar der Hinweis auf das Erbe Roms: Der imposante Turm als Campanile. Der Platz als Forum Romanum, ein Ort zum Austausch und zur gepflegten Diskussion. Die Stadthalle als Kolosseum. Rund um den Platz die großzügigen Wohnungen der Bürger und Patrizier, genauso halbrund wie um die Piazza del Campo in Siena.

Man würde sich nicht wundern, wenn die Capulets oder die Montagues um die Ecke kämen. Oder wenn sich aus der Erde der Trevi-Brunnen erhöbe und eine Verdi-Oper erklänge.

Na gut, die Kontrolle über die Musikauswahl liegt anscheinend bei einem Beamten, der sich der ungarischen Hälfte der Bevölkerung zurechnet. Aber Brahms und Brutalismus, das passt alliterativ auch gut zusammen.

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Etwa ein Drittel der Bevölkerung von Satu Mare ist ungarischer Abstammung.

Damit diese ungarischen Rumänen nicht vergessen, dass sie in Rumänien leben, weht sicherheitshalber an jeder Ecke die blau-gelb-rote Trikolore.

Fragt man einen rumänisch-sprachigen Rumänen, woher der hohe Anteil an ethnischen Ungarn kommt, wird er sagen: „Naja, das sind halt Ungarn, die bei uns leben. Das ist okay, die sind auch nett.“

Fragt man einen ungarisch-sprachigen Rumänen, wird er in tränenerfüllte Tiraden ausbrechen und von historischer Ungerechtigkeit, tiefsitzender Schmach und einem stechenden Schmerz in seinem Herzen berichten. Sodann wird er schwören, niemals zu ruhen, bis nicht jeder Quadratzentimeter, auf dem jemals ein Ungar sein Pferd hat weiden lassen, wieder zum Königreich Ungarn gehören wird, und wenn es ihn seinen letzten Blutstropfen koste. Als nächstes wird er eine Liste der angeblich ungarischen Nobelpreisträger, Tennisspieler und vor allem Hollywood-Schauspieler herunterrattern, auf der insbesondere Tony Curtis und Columbo nicht fehlen dürfen. Dann wird er eine Landkarte aus seiner Jackentasche ziehen, auf der Großungarn abgebildet ist, und er wird einem weismachen wollen, dass eigentlich ganz Mitteleuropa von Triest bis Târgu Mureș, von Schlesien bis Serbien, von Pressburg bis Kronstadt, zu Ungarn gehöre.

Eigentlich war es kein „Königreich Ungarn“, sondern eine österreichische Provinz.

Die Geschichtsverfälschungsstunde findet erst ein Ende, wenn sein rumänisch-sprachiger Nachbar vorbeikommt, ihn mit dem siebenbürgischen „Servus“ begrüßt und sich beide spontan auf einen Besuch im Biergarten einigen.

Die Tragik des ungarischen Trianon-Traumas ist allerdings so ernst, dass sie einen eigenen Artikel verdient, der irgendwann auf diesem Blog erscheinen wird. Wer in der Zwischenzeit in das Thema einsteigen will, ist bei György Dalos und seinem Buch „Ungarn in der Nußschale“ bestens aufgehoben.

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Satu Mare, in der unmittelbaren Grenzregion zwischen Rumänien und Ungarn gelegen, kann ein Lied von dem ewigen Hin und Her der Historie singen. Allein im 20. Jahrhundert gehörte es zu Österreich-Ungarn (bis 1918), zur Ungarischen Volksrepublik (von 1918 bis 1919, und nicht zu verwechseln mit der gleichzeitig bestehenden Föderativen Ungarischen Sozialistischen Räterepublik), zum Königreich Rumänien (von 1919 bis 1940), zum königlosen Königreich Ungarn (von 1940 bis 1944), nach einem königlichen Staatsstreich wieder zum Königreich Rumänien (von 1944 bis 1948), zur Volksrepublik Rumänien (1948 bis 1965), zur Sozialistischen Republik Rumänien (von 1965 bis 1989) und schließlich seit 1990 zum aktuellen Rumänien, das sich zur Sicherheit gar keinen Beinamen mehr gibt, weil man den sowieso alle paar Jahre ändern muss.

Ich helfe zur Zeit einem Freund aus Rumänien (zufällig einem von den ungarisch-deutschen Rumänen, aber das würde jetzt zu weit führen), seine mysteriöse Familiengeschichte aufzuklären. Sein Urgroßvater war aus dem Dorf Foeieni / Fienen / Mezőfény (auf Rumänisch/Deutsch/Ungarisch), unweit von Satu Mare.

Dieser (also der Urgroßvater, nicht mein Bekannter) geriet irgendwie in die Wirren des Zweiten Weltkriegs, nach Deutschland und am Ende des Krieges in ein Flüchtlingslager. In den Arolsen Archives habe ich Unterlagen der International Refugee Organization gefunden, in denen mehrere Verhöre zwischen 1946 und 1949 aufgezeichnet sind. Am Anfang versucht er noch, dem amerikanischen Vernehmungsbeamten zu erklären, wie es sein kann, dass man als Untertan seiner kaiserlichen Majestät geboren wurde, Ungar ist, Deutsch spricht, in Rumänien lebt, aber in einem Landstrich, der dazwischen zu Ungarn gehörte. Später sagt er dann auf die Frage nach seiner Staatsangehörigkeit genervt: „Ich weiß doch selbst nicht mehr genau, welche Staatsangehörigkeit ich eigentlich habe.“

Die Geschichte endet dann ein bisschen tragisch, aber dazu irgendwann mehr. Wenn es Euch interessiert.

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Auf der Suche nach Postkarten gehe ich zur Tourismus-Information, wo die freundliche Frau eine Kiste aus dem Archiv holt. „Es tut mir leid, die sind etwas alt,“ sagt sie. Man sieht ihr die Verwunderung darüber an, dass überhaupt noch jemand nach diesen Relikten fragt.

Ihre Verwirrung wird zum Entsetzen, als ich Postkarten mit dem brutalistischen Verwaltungsgebäude auswähle.

Für sie ist es potthässlich, ein Zeichen der Unterdrückung, des Kommunismus.

Ich erkläre, dass der Brutalismus eine weltweite architektonische Bewegung war und dass in den 1960er und 1970er Jahren überall so gebaut wurde. In Westdeutschland war ich an einem brutalistischen Gymnasium und an einer brutalistischen Universität, und soweit ich mich erinnere, war keines von den beiden besonders kommunistisch.

Diejenigen, die bei der Nennung von Gott in Kapitel 17 schon den Blasphemieparagraphen herausholen wollten, werden – soweit es sich nicht um langjährige Leser handelt, die wissen, dass in diesem Blog jedes Wort stimmt und jede Aussage belegt ist – erstaunt sein, welche Brutalismustempel mit ihren Kirchensteuern erbaut wurden.

Die Beispiele sind aus Köln, Neviges, Wien und Rio de Janeiro. Also nichts mit Unterdrückung oder Kommunismus. Das hat alles der Papst entschieden. Und der ist architektonisch unfehlbar, zumindest seit dem Ersten Vatikanischen Konzil von 1870. (Der erst 1880 fertiggestellte Kölner Dom fällt ganz offensichtlich nicht unter die Unfehlbarkeit, weil er auf weit ältere Pläne zurückgeht.)

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Es hilft alles nichts, die Tourismusexpertin versucht mich abzubringen von meiner Brutalismusbegeisterung und verweist auf Kathedralen, Burgen, Schlösser, Theater, Bischofspaläste, mittelalterliche Fresken, ein Piaristengymnasium, sowie eine ganze Reihe von Klöstern und Holzkirchen.

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Nur der Feuerwehrturm ist leider geschlossen, bedauert sie.

Vor zwei Tagen habe dort jemand eine Zigarre brennen lassen, und jetzt muss der Turm renoviert werden.

Ups.

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Kein einziger der Menschen, mit denen ich in Satu Mare ins Gespräch komme, teilt meine Begeisterung für das neue Stadtzentrum. Dabei wäre gerade der Brutalismus ein weltweites Alleinstellungsmerkmal, ein Magnet für den Architektourismus.

Klar, der siebenbürgische Sezessionsstil ist auch schön, aber den gibt es halt in vielen Städten in Rumänien. Und er ist in Satu Mare ja ebenfalls vorhanden. Das ist doch gerade das Wunderbare an dieser Stadt, dass man die verschiedenen Epochen und Stile stimmig gegenübergestellt sieht.

Für mich ist klar: Das Stadtzentrum von Satu Mare muss UNESCO-Weltkulturerbe werden.

Sonst kommen am Ende noch die Bagger und reißen alles ab.

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Nachdem sie gemerkt hat, dass sich jemand für Altpapier interessiert, hat mir die Frau im Tourismusbüro neben einer aktuellen auch eine etwas ältere Broschüre mitgegeben. Sie stammt aus den 1990er Jahren, preist noch ganz stolz das erst kürzlich erbaute „political-administrative headquarter“ und gibt die Bevölkerung mit 132.000 an.

Jetzt wisst Ihr, warum ich in Kapitel 5 die aktuelle Einwohnerzahl von etwa 90.000 erwähnt habe.

Auch in Deutschland gibt es Städte, die so dramatisch geschrumpft sind. (Ich wohne in einer davon.) Aber der Unterschied ist, dass es in Rumänien das ganze Land betrifft. Seit 1990, also seit dem Ende der Ceaușescu-Diktatur, ist die Bevölkerung um ein Fünftel zurückgegangen.

Und damit steht Rumänien in Osteuropa nicht alleine da.

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Vor kurzem hatte ich einen Couchsurfer aus Rumänien zu Gast, der sehr explizit gegen Umweltschutz eingestellt war. So ein Typ, der absichtlich ein Schnitzel isst, um Veganer zu ärgern. Und der behauptete, der Bevölkerungsrückgang läge daran, dass die Grünen die Jagd auf Bären verboten hätten, und diese (die Bären, nicht die Grünen) jetzt unablässig unschuldige Kinder fressen würden.

Weil er gleich darauf behauptete, dass Rumänisch nicht von Latein, sondern umgekehrt Latein von Rumänisch abstamme, und dass der Vatikan diese Geschichte seit Jahrhunderten verfälsche und vertuschte, konnte ich die Bärendiskussion nicht vertiefen. Er musste dann auch bald ins Bett, weil er am nächsten Morgen mit seiner Enduro durch die bärenfreien Wälder im Erzgebirge donnern wollte.

Als Bärenexperte kann ich jedenfalls Entwarnung geben: Die 4 Millionen Menschen, um die die Bevölkerung Rumäniens seit 1990 geschrumpft ist, wurden nicht alle von Bären gefressen.

Gefressen werden sie vielmehr vom Kapitalismus, von deutschen Schlachthöfen und Spargelbauern, von spanischen Gemüseplantagen, von Speditionen, vom Hotelgewerbe und von der Bauindustrie. Es gibt bei uns ganze Branchen, von unwichtig (Paketdienste) bis zu lebensnotwendig (Medizin), die ohne Rumäninnen und Rumänen kollabieren würden.

In Rumänien selbst bleiben eigentlich nur noch die Rechtsanwälte, wahrscheinlich weil sie für jede praktische Arbeit unbrauchbar sind.

Mittlerweile ist der Arbeitskräftemangel in Rumänien so enorm, dass das Land jedes Jahr 100.000 Gastarbeiter anwirbt, hauptsächlich im Baugewerbe, in der Gastronomie, im Transportwesen und für Bäckereien. Dafür kommen jetzt Menschen aus Nepal, Sri Lanka und Bangladesch. Ich weiß nicht, ob es Zufall ist, aber das sind alles Länder, wo man von Tigern gefressen wird.

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Jetzt bin ich ein bisschen abgeschweift. Aber Ihr wollt ja etwas über das Land lernen.

Das mit den Bären wollte ich übrigens nicht total verharmlosen. Es sterben tatsächlich jedes Jahr drei oder vier Menschen, einige Dutzend werden verletzt.

Das sollte Euch aber wirklich nicht von einer Reise nach Rumänien abhalten. In den Städten bekommt Ihr sie sowieso nicht zu Gesicht, und auch in der Natur sind sie normalerweise friedlich. Ein paar praktische Tipps: Zu zweit oder in der Gruppe gehen, denn das Geräusch vertreibt die Bären. Oder das sprichwörtliche Pfeifen im Walde. Am besten keine offenen Lebensmittel mitnehmen und nicht draußen kochen.

In Rumänien bin ich bisher nur einmal einem Bären begegnet. Allerdings hatte ich es auch darauf angelegt und war ganz besonders leise und vorsichtig. Entweder der Bär hat mich nicht gehört/gerochen/gesehen, oder es war ihm einfach egal. Er ist einfach vorbeispaziert, obwohl ich noch extra die Kamera aus dem Rucksack geholt habe. (Ja, so cool bin ich.)

Ich persönlich habe jedenfalls wesentlich mehr Angst vor Hunden.

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Und dann steht leider schon wieder die Weiterreise an. Der Busbahnhof von Satu Mare wartet mit filigraner Fassadenkunst auf.

Aber Ihr kennt mich: Ich vertraue mein Leben lieber der Eisenbahn an.

Wie es sich für eine Stadt geziemt, die einst zur Habsburgermonarchie gehörte, gibt es einen täglichen Direktzug nach Wien. Denn wo käme man hin, wenn man nur 100 Jahre nach dem Ende des Kaiserreichs schon anfangen würde, die Zugfahrpläne zu ändern? „Nur ned hudeln“, wie wir in Osteuropa sagen.

Praktische Tipps:

  • Satu Mare liegt kurz nach der ungarisch-rumänischen Grenze, ist also ein guter Ort, um auf der langen Fahrt nach Rumänien ein oder zwei Tage Pause einzulegen.
  • Zwischen Wien und Satu Mare gibt es sogar eine direkte Zugverbindung. Wenn Ihr den Fahrschein bei der ungarischen oder der rumänischen Eisenbahn kauft, ist die Fahrt noch billiger.
  • Ich bin per Anhalter von Sighet nach Satu Mare gefahren – über den Huta-Pass durch das Oaş-Gebirge -und wäre unterwegs am liebsten ein paar Mal ausgestiegen, weil die Landschaft so wunderschön war.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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10 Antworten zu Satu Mare, die geheime Welthauptstadt des Brutalismus

  1. Xeniana schreibt:

    Spannender Bericht. Ich mochte Rumänien immer sehr. Besonders wenn man sie Stadt hinter sich liess:)

    • Andreas Moser schreibt:

      Aber in der Natur sind doch die gefährlichen Bären! :O 😛

      Obwohl ich eigentlich auch eher auf Natur stehe, finde ich so Klein- und Kreisstädte von der Größe von Satu Mare ganz angenehm.
      Und dort in der unmittelbaren Umgebung finde ich eigentlich auch die Landschaft zu flach. Fast so wie in Ungarn, was die ungarischen Leser jetzt wahrscheinlich sogleich dazu bewegen wird, die Äußerung als Beweis für die Ungarnhaftigkeit von Satu Mare anzuführen. 🙂

    • Xeniana schreibt:

      Gut zu Satu Mare kann ich nichts sagen.
      Ich war in Deva:)
      Hab unlängst ein Buch gelesen über einen der nach Tibet gelaufen ist.
      Der schrieb es sei lustig gewesen dass immer gewarnt wurde. In Tschechien wurde er vor Ungarn gewarnt in Ungarn vor Rumänie usw …

    • Andreas Moser schreibt:

      Ah, Deva mit der imposanten Burg!
      Ich kenne es bisher leider nur aus dem vorbeifahrenden Zug.

      Das mit den Warnungen vor dem jeweils nächsten (vor allem östlichen) Nachbarland ist mir auch schon öfter aufgefallen. 😀
      Wenn man diesen Warnungen folgt, kommt man wahrscheinlich einmal um die Welt.

    • Xeniana schreibt:

      Das wäre mal ein Experiment:)

    • Xeniana schreibt:

      Bären, Wölfe, Dracula. Schon nicht so ohne

  2. Anonymous schreibt:

    Ah. Feuerwehrturm. Fragte mich bei satu-mare-introduction-5.jpg schon, ob jemand versehentlich ein Minarett stehen gelassen hatte. Zufälligerweise auch herausgefunden, warum die Kameraden nicht wie sagen wir in Krakau einen Trompeter auf einem Kirchturm (ok, blödes Beispiel) stationiert haben? festus

    • Andreas Moser schreibt:

      Das war auch mein erster Gedanke!
      Und so abwegig ist es gar nicht, schließlich war die Gegend auch mal osmanisch.

      Aber der Turm ist wohl jüngeren Datums, von Anfang des 20. Jahrhunderts.

      Das Problem mit den Trompetern ist, dass die auch rauchen wie Schlote. (Weil sie ja eine größere Lunge haben.) Und dann brennt der Turm noch öfter ab.

  3. Anonymous schreibt:

    Vielen Dank für deinen Bericht, war wieder sehr kurzweilig und interessant. Angela aus Chemnitz

    • Andreas Moser schreibt:

      Hallo Angela,
      vielen Dank, das freut mich!
      Von der gleichen Reise nach Rumänien kommen irgendwann noch Berichte über Baia Mare und über Sighet.

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