Zu Silvester lud mich ein Freund nach Cochrane ein, etwa 15 oder 20 km westlich von Calgary. Als ich auf der Karte sah, dass es am gleichen Fluss, dem Bow River, liegt, stand der Entschluss fest: Das gehe ich zu Fuß. Immer am Fluss entlang, da werde ich mich schon nicht verlaufen.
Außerdem geht der Weg durch ein Naturschutzgebiet, den Glenbow Ranch Provincial Park, also sollte es schön werden. Wenn das Wetter mitspielt.
Sicherheitshalber gehe ich vor Sonnenaufgang los, zuerst durch langweilige Vororte wie Bearspaw (bekannt aus der dritten Staffel von Fargo), aber schon bald die Berge im Blick.
Der erste Schock ist ein riesiger, gefährlicher Bison auf der anderen Straßenseite. Mein Herz rutscht in die Hosentasche vor Angst. So ein Monster! Zum Glück ist es vollauf mit dem Frühstück beschäftigt und bemerkt mich gar nicht. (Vielleicht ist es auch ein Elch oder ein Rentier. Mit diesen nordischen Tieren kenne ich mich noch nicht so gut aus.)
Dass ich früh aufgestanden war, rettet mein Leben, denn so schlafen die Leute noch, durch deren Gärten ich unbefugt schleichen muss, um auf kürzestem Weg zum Fluss hinab zu gelangen. Ein paar Stunden später werden sie mit ihren Flinten auf der Veranda sitzen und würden auf mich schießen.
Falls ich den Fluss übersehe, könnte ich mich auch an der Bahnlinie orientieren. Das ist überhaupt ein wichtiger Tipp fürs Wandern in Kanada. So kommt man irgendwann in die nächste Stadt oder schließlich ans Meer, falls man nicht vorher erfriert oder verhungert. Und wenn einer der ewig langen Güterzüge vorbeifährt, kann man aufspringen und die Wanderung abkürzen.
Anstatt auf den Zug muss ich wieder einmal über Zäune klettern und springen, denn anderweitig gelangt man von dieser Seite aus nicht in das Naturschutzgebiet. Falls Ihr die Wanderung nachgehen wollt, das hier ist die Stelle, an der Ihr in den Park gelangt:
Anders geht es nicht. In Kanada ist leider alles abgesperrt und verstacheldrahtet. Falls mich ein Parkwächter erwischt, werde ich einfach sagen, dass ich über den zugefroreren Fluss spaziert bin und mich verlaufen habe.
Als das erste Gebäude auftaucht, verspüre ich gerade Lust auf ein stärkendes Frühstück. Es ist die Bearspaw Ranch. Hier gibt es hoffentlich Kaffee und eine Portion Eier und Speck nach Cowboyart.
Als ich näher trete, wieder einen Zaun überkletternd, merke ich, dass hier schon lange kein Frühstück mehr ausgeschenkt wird. Die Landkarte, auf der hier noch ein Kiosk eingezeichnet ist, stammt wohl von 1890. Die Rinderhirten sind ins Ölgeschäft abgewandert, so wie die ganze Provinz Alberta. Die Menschen hier befinden sich dermaßen im Ölrausch, dass sie sogar im Eis nach Petroleum bohren.
Na gut, dann esse ich eben den ersten Müsliriegel. Zum Trinken gibt es genug Wasser, Schnee und Eis. Der Fluss kommt direkt aus den Rocky Mountains, ist also trinkbar.
Langsam wird es sonniger, wärmer, farbiger. In der Nähe des Flusses sehe ich allerdings auch Spuren eines weiteren gefährlichen Raubtiers. Ich weiß nicht, was es ist, aber seine Zähne sind scharf genug, um ganze Bäume abzubeißen.
Dass hier überhaupt noch ein bisschen Wald steht, ist dem Großbrand in Calgary von 1886 zu verdanken. (In Erinnerung daran heißt die örtliche Eishockeymannschaft Calgary Flames.) Danach kam Holz als Baumaterial aus der Mode und man stieg auf Ziegel und Sandstein um, die entlang meiner heutigen Wanderstrecke gewonnen wurden. Auf der anderen Seite der Bahnlinie, die schon damals bestand, und natürlich wieder abgetrennt durch Zäune und Verbotsschilder, sind die Überreste eines Steinbruchs zu erkennen.
Damit wurde das zweite Calgary aus Stein erbaut, das leider mittlerweile fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht und durch das dritte Calgary aus Stahl, Glas und Beton ersetzt wurde. Schöner wurde es nicht im Laufe des sogenannten Fortschritts.
Gut, dass ich stattdessen den Tag in der Natur verbringe. In der Ferne erspähe ich die Rocky Mountains. Ganz so weit werde ich es heute nicht schaffen, aber mit diesem Ziel vor Augen geht es sich leichter, beschwingter und zügiger.
Auf der anderen Seite erspähe ich die Skisprungschanze von den Olympischen Spielen 1988. Irgendwann muss ich da auch mal hinwandern, um zu sehen, ob sich dort heute noch etwas tut oder ob das alles sinnlos vor sich hinbröckelt wie ein aufgelassener Steinbruch.
Calgary war im Rennen als erneuter Austragungsort für die Winterspiele 2026, aber vor ein paar Monaten fand ein Referendum statt und 56% sprachen sich gegen Doping und Korruption aus. Wahrscheinlich kommt die Winterolympiade jetzt auch nach Katar.
Etwas überrascht stelle ich fest, dass ich auf dem Trans Canada Trail wandere. Die Landschaft ist wirklich schön, keine Frage, aber wie soll ein Wanderweg vom Pazifik bis zum Atlantik in einem Land funktionieren, in dem alles abgesperrt und umzäunt ist?
Ich sehe mir das später auf der Landkarte des Trans Canada Trails an, und siehe da, die Strecke verläuft tatsächlich bis zum östlichen Ende des Parks, wo die Wanderer dann zurück und auf die Bundesstraße geschickt werden.
Ein Riesenumweg! Und vollkommen untauglich zum Wandern. Da hätte ich schon mal einen Verbesserungsvorschlag. Wenn ich mir weitere Abschnitte ansehe, wird mir wahrscheinlich noch mehr einfallen. Vielleicht muss man ein bisschen enteignen, aber Privateigentum an Grund und Boden ist ja sowieso ein komisches Konzept.
Auch hier wurde Land erst etwas wert, als die Eisenbahn kam, Steine und Stroh abholte und dafür Zeitungen und Zigarren brachte. Und noch mehr wurde das Land wert, als die Eisenbahn in Glenbow einen Wasserturm für die Dampflok baute, und schließlich eine Haltestelle, um die sich zuerst ein Dorf und dann eine kleine Stadt bildete.
Eine Stadt, die immerhin eine Schule, ein Postamt, einen Laden und natürlich eine ganze Menge Farmen hatte. Der Dorfladen käme mir jetzt ganz gelegen, denn es ist Zeit fürs Mittagessen geworden.
Mist, den Einzelhändler scheint die verfluchte Rezession dahingerafft zu haben. Die Investititon in die pittoreske Örtlichkeit hat sich monetär nicht rentiert. Sicherheitshalber klopfe und rufe ich, aber außer ein paar aufgescheuchten Rehen regt sich nichts.
Auch der Bauernhof ist verwaist. Keine Karnickel zum Schlachten, keine Kuh zum Melken. Vielleicht stießen die Menschen hier nur mangels Alternativen auf Öl?
Missmutig verspeise ich einen weiteren Müsliriegel. Schon langsam werden die Teile langweilig. Dafür wird der Tag immer schöner. Es ist Ende Dezember, aber ich schätze die Temperatur auf mindestens 10 Grad. Das ist nicht der befürchtete kanadische Winter (der wird einen Monat später kommen). Mütze und Handschuhe habe ich schon lange ausgezogen, jetzt ist die Winterjacke dran, und ich lege mich in die Sonne für ein Nickerchen. Hoffen wir, dass die Büffelherde still hält und nicht plötzlich über die Prärie brausen will. Aber die Stampede ist erst für Juli angekündigt.
Apropos tödliche Gefahren, an einem der Rastplätze sehe ich ein gleichermaßen informatives wie erschreckendes Schild. Jetzt ist klar, welches Mordsvieh hier die Bäume frisst!
Zum Glück ist gerade Winter, und Schlangen, Gänse und kanadische Rentner sind in den Süden gezogen. Es wäre gut, wenn man die Schlangen im Frühjahr über dessen Ankunft im Unklaren lassen könnte, so dass sie in Texas bleiben, anstatt hier Wanderer zu erschrecken. (In Texas ist es so gefährlich, dass es auf ein paar Schlangen auch nicht mehr ankommt.)
Auf der weiteren Wanderung komme ich an einem Tipi vorbei und hoffe auf eine Einladung der Indianer zum Büffelbarbecue. Aber auch die Ureinwohner sind weg, ob geflohen, vertrieben oder ermordet, weiß man nicht. Vielleicht sind sie aber auch nur kanadisch-kapitalistisch assimiliert worden und bohren jetzt ebenfalls nach Öl. Mir bleibt wieder nur ein Müsliriegel, und langsam beginne ich, diese Proteindinger zu hassen.
Zum Glück wiegt ein zufriedenes Herz einen unzufriedenen Magen auf, zumindest temporär. Die Sonne trumpft noch einmal so richtig auf, die Hügel werden hügeliger, das Gras saftiger, die Berge in der Ferne spitzer. Alles zusammen verdichtet sich zu einer Stimmung aus Erfülltheit und Zufriedenheit, aus Stolz und Glück. Zehn Stunden lang einen Fuß vor den anderen zu setzen, ist einer der besten Wege, einen Tag zu verbringen. Neujahrsvorsätze sind nicht so mein Ding, aber jetzt, wenige Stunden vor dem Beginn des neuen Jahres, wird mir klar, was ich 2019 will: Mehr Tage wie diesen. Dabei ist es eigentlich egal, wo ich bin. Fernreisen brauche ich dazu keine. Nur ein Paar Turnschuhe und ein paar Dollar für den Bus zurück.
Zeitgleich mit der absoluten Dunkelheit komme ich etwa um 17 Uhr bei Edward in Cochrane an. Ich erzähle ihm sogleich davon, dass alle Restaurants, Kioske, Imbissbuden und Dönerstände unterwegs geschlossen waren und wie stark mein Verlangen nach einem Steak oder einem Hamburger ist. „Du weisst aber schon, dass wir Veganer sind?“ zerschlägt er alle Hoffnungen auf einen ungesunden Jahresausklang. Zigarren gibt es in so einem Haushalt natürlich auch nicht.
Links:
- Informationen und Landkarte des Glenbow Ranch Provincial Parks.
- Mehr Artikel über Wanderungen.
- Wer keine Lust hat, Kanada zu Fuß zu durchqueren, dem empfehle ich die Eisenbahn.
Die Wanderung ergab tolle Fotos, aber die vielen Zäune hätten mich abgehalten. Kanada hatte ich mir irgendwie zaunfreier vorgestellt. Bitter ist natürlich der vegane Jahresausklang nach einem Tag voller ekliger Müsliriegel…
Wenigstens gab es etliche Dosen Pepsi, das hatte ich fast noch mehr vermisst als Nahrung. 🙂
Ich hatte mir Kanada auch als „wide open country“ vorgestellt, wo man einfach tagelang wandern kann. Aber zumindest in der Umgebung von Calgary ist es nicht so.
Im Vergleich finde ich die meisten Staaten Europas wesentlich freier.
In Deutschland oder Österreich kann man eine ziemlich direkte Linie zwischen zwei Punkten ziehen und dann einfach losgehen. In Kanada wird man zu weiten Umwegen und eigentlich immer wieder auf eine Straße gedrängt.
Vielleicht ist es weiter nördlich, im Yukon oder in den arktischen Territorien, lockerer. Aber zumindest hier im Westen sind die Leute ziemlich versessen auf die Idee von Privateigentum. Dass man, wie in Europa ersichtlich, das Recht auf ein Stück Land nicht verliert, nur weil mal ein paar Wanderer darüber spazieren, wird hier als sozialistische Idee angesehen. Aber na gut, dann bin ich eben ein sozialistischer Wanderer.
Verrückt, diese Kanadier. Dabei haben sie doch so viel Platz. Anscheinend aber keine Wanderer – Kultur.
Bzw. eine andere Wander-Kultur.
Wenn die Leute hier davon sprechen, dass sie Wandern gehen, dann setzen sie sich ein paar Stunden ins Auto, fahren in einen Nationalpark, zahlen Eintritt und wandern auf festgelegten Wegen.
Hmmh…. mit dem Fernwandern könnte ich mich ja durchaus anfreunden, aber der Trans Canada Trail wird dann wohl nicht in die erste Wahl kommen.
Ich werde mir noch ein paar weitere Abschnitte des Trans Canada Trail ansehen, bevor ich ein endgültiges Urteil fälle, aber laut der Karte läuft man ziemlich viel auf Fernstraßen bzw. direkt daneben.
Da gibt es wohl tatsächlich bessere Fernwanderwege. Am besten fand ich bisher die National Trails in Großbritannien, von denen ich drei gegangen bin. Die beginnen und enden in Städten, so dass man mit dem Zug oder Bus hinkommt, aber dann geht es weitgehend durch die Natur, höchstens mal kurze Abschnitte auf Feldwegen oder Landstraßen.
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