Im August 2008 besuchte ich Freunde in New York. Es war ein sehr heißer Sommer. Ich kann mich genau daran erinnern, denn wegen der Hitze konnte ich nicht vor Mitternacht zum Laufen gehen. Meine Freunde wohnten in Harlem, und mit Ausnahme von mir hielten es alle für eine dumme Idee, mitten in der Nacht herum zu joggen, die ganze Strecke runter zum Central Park, einmal um den Park, und auf dem Malcolm X Boulevard zurück nach Norden. Ich weiß nicht, weshalb die Leute besorgt waren, denn nachts ist viel weniger Verkehr als tagsüber.
Am letzten Tag vereinbarte ich mit einer anderen Freundin, dass wir uns treffen würden. Beim Metropolitan Museum of Art.
Ich war früh dran, weil ich aufgeregt war, sie wieder zu sehen.
Sie war spät dran, und ich weiß nicht, ob das etwas bedeutete.
Schlau wie immer, und darauf bedacht, schlau zu wirken, hatte ich ein Buch mitgenommen. “Twelve Angry Men” von Reginald Rose, die Vorlage für den Film „Die zwölf Geschworenen“. Ich weiß nicht, wie lange ich auf den Stufen vor dem Museum saß und wartete, aber das Buch war ausgelesen, bevor sie auftauchte. Ich hätte selbst angry wie zwölf Männer sein sollen, aber sobald ich sie sah, war aller Ärger verflogen, wie wenn ein reinigender Herbststurm die 5th Avenue hinabgefegt wäre.
Wir genossen das Museum.
Die Benin-Masken, von denen man damals noch nicht als Raubkunst dachte. Gemälde. Kalligraphie. Waffen und Rüstungen. Ein Nilpferd. Der Innenhof aus der Burg von Vélez-Blanco, ohne zu wissen, dass mich zehn Jahre später meine Wege in genau jene Burg in Andalusien führen und Kontinente, Geschichten und Erinnerungen verknüpfen würden.
Wir genossen das Museum – und unsere Gesellschaft – so sehr, dass ich keinerlei Eile verspürte, zum Flughafen zu kommen. Mein Flug nach Deutschlang ging am Nachmittag.
Irgendwann, Stunden später, schaffte ich es dann doch, mich von dem reizenden Fräulein loszureissen, in die falsche U-Bahn zu steigen, noch eine halbe Stunde zu verlieren, und 45 Minuten vor dem Abflug am John-F.-Kennedy-Flughafen anzukommen.
Das sollte reichen, dachte ich mir, aus der Erfahrung mit kleinen Flughäfen wie Memmingen oder Malta.
“Das reicht auf keinen Fall“, sagte die Frau am Check-In-Schalter, die für einen Moment den typisch amerikanischen Optimismus vergaß.
“Ich kann ziemlich schnell laufen“, sagte ich, dankbar für die nächtlichen Trainingsrunden.
“Selbst wenn – das Gepäck ist das Problem. Wir bekommen das in dieser Zeit niemals zum Gate“, erklärte sie das komplizierte Innenleben eines Flughafens.
Und so verpasste ich meinen Flug nach Europa.
Wenn das kein Wink des Schicksals war! Ich schrieb der Freundin eine SMS, um ihr mitzuteilen, dass wir noch mehr Zeit miteinander verbringen könnten. Sie hat nie geantwortet.

(Fortsetzung folgt nächste Woche.)
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Sehr schade… Aber NY ist trotzdem toll. Oder war es jedenfalls. Ich bin gespannt auf die Veränderungen. Wir hatten die Stadt 2015 besucht.
Für mich war es so traumatisch, ich bin dann nie mehr hingefahren. Geschweige denn geflogen.
Aber vorher, imSeptember 1998, war ich einen Monat in New York, zu einem Praktikum beim Deutschen Generalkonsulat. Das war super! (Obwohl es, so konträr sich das anhört, gleichzeitig die größte Reise-Fehlentscheidung meines Lebens war.)
Aber ich hatte da ziemlich viel Freiraum beim Arbeiten, konnte mir die spannendsten Jobs raussuchen, es war gerade UNO-Vollversammlung, und irgendwo muss ich noch ein Foto von mir mit dem damaligen Außenminister Klaus Kinkel haben.
Grandioses Praktikum, das hätte mir auch gefallen. Ich fand es schon allein ganz erhebend, einfach vor dem UNO-Gebäude zu stehen.
Das Deutsche Generalkonsulat ist übrigens gleich gegenüber, so dass man den besten Blick hat. 🙂
Ich denke immer daran zurück, wenn ich „Der unsichtbare Dritte“ sehe.
In der Fortsetzung erfahren wir dann, wer oder was, wenn nicht die Freundin, dafür sorgte, dass es doch ein „Wink des Schicksals“ war? Bin gespannt.
Ich war nur einmal in New York, kurz nach dem Mauerfall, 1992 glaube ich. Am letzten Tag hätten wir auch fast den Bus zum Flughafen verpasst, weil ich unbedingt noch die NYSE besuchen musste und auf dem Rückweg kein Geld mehr für die Subway übrig war. Das letzte Kleingeld hatte ich für das Wall Street Journal ausgegeben 😂
Oh, das ist ja cool!
Ich war auch an der Wall Street und habe mir eine Tasse gekauft, die ich noch immer habe.
Ich habe damals selbst ein bisschen mit Aktien spekuliert, wie man das in den neoliberalen 1990ern so machte. Natürlich mit dem Geld anderer Leute, um den Film mit Danny DeVito zu zitieren. 😉
Und der Flughafen ist echt verdammt weit draußen, das kann man schon untershätzen, wenn man aus einer kompakteren Stadt kommt.
Und die Fortsetzung wird eine überraschende Wendung bringen…
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