Auf den Spuren des Königs (Tag 6) Walden

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Der Geburtstag beginnt damit, und das ist eine passende Metapher auf mein ganzes Leben, dass ich verschlafe.

Rottenbuch hat, das ist nicht überraschend für die Gegend, eine hübsche Kirche und ein Kloster. Das Kloster scheint ausnahmsweise noch aktiv zu sein, denn über den Dorfplatz mit riesigen Bäumen huschen vereinzelt Nonnen.

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Nur eine Hochzeitsfeier vor dem Rathaus stört die Idylle und propagiert das bayerische Dirndl- und Lederhosenklischee.

Christina und Cordula hatten gestern erzählt, dass dieser Kitsch, für den man Kühen die Haut abzieht, zu Oktoberfestzeiten sogar in den Hansestädten verkauft wird. Bei Aldi.

Apropos Aldi, was viele nicht wissen, weil sie nie in staubigen Archiven stöbern: Die Aufteilung Deutschlands zwischen Aldi Nord und Aldi Süd geht auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurück. Aber dieser Artikel leidet wahrlich nicht unter zu wenigen historischen Exkursen, weshalb dieser hiermit jäh abgebrochen wird wie ein von der Wettbewerbsaufsicht per einstweiliger Verfügung untersagtes Sonderangebot.

Erlaubt sei jedoch eine persönliche Erklärung, die, so steht zu vermuten, nicht lange benötigt, um den Bogen zu historischen Erklärungen zu schlagen. Und zwar werde ich, wenn ich sage oder wenn Leute anderweitig erfahren, dass ich aus Bayern bin, oft gefragt, ob ich manchmal Lederhosen trage. „NEIN!“ ist die klare Antwort.

Warum?

Das will ich gerne erklären:

Erstens aus ästhetischen Gründen. Kurze Hosen sind in Ordnung für Kinder, beim Sport und vielleicht noch bei Briefträgern. Ansonsten ist diese aus dem Afrikakorps übernommene Unsitte einfach nur hässlich.

Zweitens verbinde ich Lederhosen nicht gerade mit der Intelligenzia, um es vorsichtig zu sagen. Ich habe zumindest noch nie gehört, dass Jungs mit Lederhosen, die fast immer eine Bierflasche in der Hand halten, währenddessen über Dekolonialisierung oder über Pierre Bourdieu diskutieren, obwohl gerade letzterer in diesem Zusammenhang interessant wäre. Ich glaube, das sind eher schlichte Gemüter, die Fußball mögen. Das mag ein Vorurteil sein, im Einzelfall sogar ein unberechtigtes, aber ich sehe keinen Grund, meinen Habitus so zu verunstalten und zu verderben.

Drittens sind die Trachten, wie sie heute getragen werden, insbesondere das übersexualisierte Dirndl, ein Überbleibsel aus dem Nationalsozialismus. Das glaubt Ihr nicht? Dann lest oder hört es halt nach.

Nur als Kind wurde ich gezwungen, so eine blöde Hose zu tragen:

Entschuldigt haben sich meine Eltern bis heute nicht.

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In der Kirche hängt ein Stempel, den man in einen Pilgerpass pressen kann. Wenn man den vollgestempelten Pass einschickt, bekommt man einen Pilgerpokal oder so etwas.

Und, so habe ich gehört, in manchen Herbergen bekommt man ohne Pilgerausweis weder Einlass noch Eintopf. Das scheint mir nicht nur bürokratisch und unchristlich zu sein, sondern auch unfair. Denn manchmal kommt man gerade dann durch einen Ort, wenn alle Kirchen, Klöster und sonstige Stempelstellen geschlossen sind.

„Wie läuft das beim Jakobsweg?“ muss ich hiermit offen in die Runde fragen und um Erfahrungsberichte von Erfahreneren bitten. Ist so eine Stempelkarte wirklich Voraussetzung für Unterkunft?

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In der Brot- und Feinbäckerei gibt es tatsächlich feine Sachen. Weil Geburtstag ist, gönne ich mir eine Tafel Schokolade. Es sind mehrere im Angebot, alle mit unterschiedlichen Märchenmotiven. Ich greife zu der mit „Hans im Glück“, denn Glück brauche ich. Und die Fabel vom Glück durch Überwindung materiellen Besitzes passt ja irgendwie zu mir.

Als ich aus der Bäckerei trete, erspähe ich einen süßen kleinen Hoppelhasen. Da ist es schon, das kleine Glück.

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Unter den großen Bäumen lasse ich mich noch eine Weile nieder. Wie in so vielen Dörfern, durch die ich komme, fällt mein Blick dabei auf ein Denkmal für die aus diesem Ort in den Kriegen Entfleuchteten.

Diese Dörfer sind nicht groß, vielleicht hundert oder zweihundert Häuser. Aber auf den Obelisken stehen oft mehr als 50 Namen von Männern, die jetzt bei Verdun, Ypern, Uman oder El-Alamein das Grundwasser verseuchen. Zum Glück kamen sie aus einem Landstrich, in dem sie nur nach dem Reinheitsgebot gebrautes Bier zu sich nahmen.

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Über diesen schweren Gedanken werden die Wolken dunkel.

Nachdem ich gestern nicht weit gekommen bin, will ich heute mindestens 20 km nach Trauchgau gehen. Auf halber Strecke liegt die Wieskirche, einem der Highlights auf der Wanderung, was sogar die UNESCO anerkennend bestätigt hat.

Weil Regen droht, versuche ich es mit Trampen. (Am Geburtstag soll man sich nicht totmarschieren wie die Männer, die am Denkmal in der Dorfmitte endeten.) Aber es klappt nicht. Dutzende von Autos, aber niemand hält. Komisch, denn ich sehe ausgeruht und sauber aus. Und dabei hatte Rottenbuch so einen sympathischen Eindruck gemacht. Der leidet mit jedem Fahrer, der mich ignoriert, bis ich den Ort verfluche und ihm ein höllisches Gewitter wünsche.

Nicht einmal die Schokolade beschert mir Anhalterglück. Geschlagen und deprimiert muss ich per Fuß weiterziehen. Aber die Ausblicke sind wundervoll.

Manchmal sieht Bayern tatsächlich aus wie ein Märchen. Von diesen Kühen kommt wahrscheinlich die Milch für die Schokolade, die ich mir gerade schmecken lasse.

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Der nächste Ort ist Wildsteig.

Unterhalb der Kirche ist eine künstliche Grotte eingegraben, für Heilige und Maria und Jesus und so. Zwei Bauarbeiter sitzen darin und machen Mittagspause. Ziegen grasen den steilen Hang unterhalb der Kirche ab.

Sonst ist hier nichts los.

Das für den kleinen Ort riesige Kriegerdenkmal legt nahe, dass tatsächlich ein Großteil der Bevölkerung verstorben oder verschollen ist.

Akribisch werden die Anlässe aufgelistet, zu denen die Männer des Dorfes aufs Pferd, aufs Fahrrad und in den Zug stiegen, um die weite Welt zu erobern: österreichischer Feldzug 1800-1809, preußischer Feldzug von 1807, russischer Feldzug von 1812, französischer Feldzug von 1813, deutsch-deutscher Krieg von 1866, deutsch-französischer Krieg 1870-1871, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. Zuletzt wird noch den Gefallenen der Bundeswehr gedacht, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sich die Bundeswehr in solcher Traditionslinie sieht.

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Auch die Kirche in Wildsteig bietet Pilgerstempel und Gästebuch. Ich blättere neugierig und entdecke viel Bla-Bla, so wie früher in Poesiealben und heute auf Facebook. Eine Frau hat ihren Eintrag über Wolken und Glück mit „Uta Hahn, Lyrikerin“ unterschrieben, ganz unbescheiden.

Was hier fehlt, ist etwas konstruktive Kritik. Dem helfe ich ab:

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Manchmal ist die Markierung des König-Ludwig-Weges nicht ausreichend. Oder ich übersehe sie, weil ich erschöpft oder abgelenkt bin. Außerdem habe ich die Brille zuhause vergessen.

„Wollen Sie zur Wies?“ ruft eine Frau aus dem Fenster.

„Jawohl.“

„Dann laufen’s in die falsche Richtung. Da obe geht’s.“ Wieder so ein Wort, dass Norddeutsche in die Irre schicken würde. Wie soll man darauf kommen, dass „obe“ nicht nach oben, sondern nach unten bedeutet? Ich habe schon Leute kennengelernt, die keine Deutschen sind, aber die Deutsch besser (aus)sprechen als viele meiner Landsleute.

„Oh, vielen Dank!“

Das war wirklich nett.

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Aber die Wolken werden dunkler und drohender.

Das mit meinem Gewitterfluch (Kapitel 98) hat geklappt. Aber anscheinend geographisch ungenau, denn jetzt schlägt das Gewitter mich selbst in die Flucht. Verfluchte Anfängerflucherei!

Und das, wo ich gerade auf einem Feldweg im offenen Gelände anstatt im schützenden dichten deutschen Wald bin.

Aber da vorne: Eine Kapelle! Schneller!

Oh. Gerade diese Kapelle hat, entgegen den baugesetzlichen Vorschriften für Kapellen neben Wanderwegen, kein Vordach, das vor Regen schützt. Da wollte wohl jemand sparen. Und dabei schüttet es wie in Genesis 7:11.

Doch dann lese ich den Hinweis neben dem Türknauf: „Knopf nach links drehen.“ Es funktioniert, und ich trete ein in das Heiligtum. Es ist klein, sehr klein, weil ein Gitter den Zugang zu den Sitzbänken und zum Altar versperrt. Zusammen mit meinem Rucksack fülle ich den kleinen Vorraum komplett aus. Wenn noch andere Wanderer Schutz suchen, werden wir stehen müssen wie die Kerzen in einer Kapelle.

Der Regen prasselt an die Tür, aufs Dach, an die Fenster. Es ist ein Monsterregen, der mir gründlich den Tag und die Laune versaut hätte, wenn ich nicht gerade just an der Dreifaltigkeitskapelle in Holz vorbeigegangen wäre.

Eine Broschüre mit dem Titel „Kirche in Not“ liegt aus, und jetzt passt es mal. Vielleicht war mein Kommentar im Gästebuch der Kirche in Wildsteig (Kapitel 100) doch zu undankbar, und ich sollte froh sein über die offenen Türen.

Hans im Glück!

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Nach etwa einer halben Stunde ist der Platzregen vorbei, ich werfe ein paar meiner mickrigen Finanzkraft entsprechende armselige Münzen in die Spendenbox und ziehe weiter.

Aber nicht lange, denn der Himmel verdüstert und verdunkelt sich erneut. Nach dem letzten Regen ist es kaum zu glauben, aber da oben ist noch Wasser vorrätig. Und das will, wahrscheinlich wegen der verdammten Schwerkraft, irgendwann nach unten.

Soll ich zurück zu der schützenden Kapelle?

Nein. Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Und spätestens bei der Wieskirche kann ich mich wieder unterstellen. Ich verlasse den markierten Wanderweg, weil ich auf der Karte eine Abkürzung durch den Wald erspähe.

Von dem am Wegrand stehenden Galgen lasse ich mich nicht abschrecken.

Ach so, das ist für Geier, die hier die Toten einsammeln.

Möglichst leise schleiche ich weiter.

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Unverhofft kommt zwar nicht so oft, wie das Sprichwort verspricht, aber eben doch manchmal. Aus dem Nebel taucht eine vom Schicksal gestiftete Schutzhütte auf. Eine richtig große Hütte, mit überdachten Bänken vor dem Häuschen, wo ich mich sogleich niederlasse, denn es hat schon wieder zu regnen begonnen.

Auch hier gibt es ein Gästebuch, allerdings kommen anscheinend nur wenige Besucher vorbei. Der letzte ausführliche Eintrag stammt vom 5. Juni, also von vor einem Monat:

Pascal Perkams & Henning Beckhoff hatten nach ihrer mehrwöchigen Tour „Mit 5 Gängen durchs Alpenland“ eine wundervolle Nacht in dieser rustikalen Hütte. Bei Kerzenlicht erinnerten sich die beiden Männer an vergangene Reisen wie „Down to Greece“ oder „Onekickonly“ und philosophierten über den Sinn des Lebens. Als stets kapitalismuskritische Geister waren sie dankbar für diese Nacht in Abwesenheit von jeglicher Zivilisation.

Die Kerzen haben die Kollegen Kapitalismuskritiker zwar nicht zurückgelassen, aber als ich in die Hütte eintrete und sogar einen Schreibtisch erblicke, entscheide ich, dass ich hier bleiben werde.

Ich packe Henry David Thoreaus Schmöker aus dem Rucksack und kann mein Glück kaum fassen. An meinem Geburtstag habe ich, ohne danach zu suchen, die Walden-Hütte gefunden.

Hans im Glück!

Anstatt eines Teichs liegt eine Kuhweide hinter der Hütte, und die Kühe kommen ganz neugierig angetrabt.

Einen herzlichen Dank an Bauer Neu aus Morgenbach, der sein Grundstück und die Hütte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, sowie an Leonhard Hitzl und Johann Niggl, die sie errichtet haben. Ihr habt mir die Nacht gerettet, denn das wäre ziemlich ungemütlich geworden im Freien.

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Zwar bin ich noch weit entfernt vom eigentlich für heute vorgesehenen Ziel, aber so einen tollen Schlafplatz gibt man nicht auf. Vor allem, weil es immer noch regnet, nur kurzzeitig von Regenbögen aufgelockert.

Wenn ich weiterzöge, würde ich nur patschnass, verärgert und krank. Da bleibe ich lieber in der Hütte.

Die Holztür lässt sich nicht absperren. Ist ja logisch. Schließlich soll sie auch anderen Wanderern Unterschlupf bieten.

Ob noch jemand auftauchen wird?

Wenn ja, haben sie hoffentlich Essen dabei. Denn ich war so schlau, heute kein Essen einzupacken, weil ich dachte: „Ach, am Mittag bin ich bei der Wieskirche, da gibt es auf jeden Fall etwas zu essen.“ Tja, jetzt sitze ich da mit einem kümmerlichen Rest Schokolade.

Hans bleibt hungrig.

Aber er ist zufrieden und freut sich noch immer über sein Glück. Statt Abendessen gibt es Zigarren. Endlich ein Hotel, wo man im Bett rauchen darf!

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Und dann ist es dunkel. Zappenduster.

Wenn sich die Wolken kurz lüften, schimmert der Vollmond durch die Ritzen in der Holzwand. Aber ansonsten sehe ich nichts, höre nur zu. Regen. Wind. Kuhglocken.

Waren das Stimmen? Ich bewege mich nicht. Wenn sie in die Hütte wollen, werden sie sich genauso vor mir erschrecken wie ich mich vor ihnen. – Aber es waren Radfahrer, die schon wieder vorbei sind.

Vor der Hüte steht ein Wegkreuz, das mich an den Anfang von „The Hateful Eight“ erinnert. In dem Film war es kein gutes Zeichen für das, was denen drohte, die sich vor dem Schneesturm in die einsame Hütte retteten.

Vielleicht ist das Gästebuch so leer, weil kaum jemand die Nacht hier überlebt?

Wäre die Schokoladentafel mit Hänsel und Gretel passender gewesen?

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Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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8 Antworten zu Auf den Spuren des Königs (Tag 6) Walden

  1. Ich gratuliere herzlich nachträglich. Diese Kirchen finde ich sehr beeindruckend, wie wir überhaupt überall gern in Kirchen gehen. Und btw finde ich nicht zwangsläufig, dass die Eltern sich entschuldigen müssen. Die Lederhose stand dir sehr gut 😊

    • Andreas Moser schreibt:

      Dankeschön!

      Die Kirche in Rottenbuch (Kapitel 93) ist mir als am beeindruckendsten in Erinnerung geblieben. Aber eigentlich freue ich mich mehr über kleine Kapellen am Wegesrand, vor allem wenn sie ein paar schattige Bäume und Bänke und einen schönen Ausblick bieten (wie in Kapitel 60).
      Aber nach so viel Barock wie auf dieser Wanderung steht einem wieder der Sinn nach etwas düsterer/schlichterer Romanik.

  2. Pingback: In the King’s Footsteps (Day 6) Walden | The Happy Hermit

  3. J. D. Bennick schreibt:

    Sehr geehrter Hans im Glück,

    nachträglich auch von mir alles Gute zum Geburtstag ❤ Wieder mal top verfasst. Dennoch kurze Marginalglosse: Sie erfüllen ja gerade NICHT (!) die Habitustheorie, da Ihr Leben ein einziges rationales Kalkül darstellt. Sie haben sich, gerade im Hinblick mit ihrer Arbeit hier, von den äußeren gesellschaftlichen Bedingungen gelöst. Davor zieh ich meine Basecap.

    Liebe Grüße

    J.D. Bennick

    • Andreas Moser schreibt:

      Vielen Dank für die Wünsche und für den Hinweis, dass ich, anstatt nur mit aufgeschnappten Begriffen um mich zu werfen, zuerst ein paar Bücher von oder zumindest über Bourdieu lesen sollte.
      Wenn ich jemals das Studium der Geschichte abschließen sollte, nehme ich mir als nächstes Soziologie vor.

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