Schlachtfeldtourismus damals und heute

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Tagesausflüge nach Tschernobyl. Touren durch eine brasilianische Favela. „Dark Tourism“ nennt sich das, und viele werden es als die makabre Idee einer Zeit abtun, in der selbst das Unglück und das Leiden vermarktet werden. Aber so neu ist da Phänomen gar nicht.

Die Schlachtfelder von Waterloo (Belgien, 1815) und Gettysburg (USA, 1863) zogen schon im 19. Jahrhundert Besucher an. Bereits während des Ersten Weltkriegs kamen Besucher an die Westfront, hauptsächlich Schriftsteller, aber auch neugierige Touristen. Und mit dem Ende der Kampfhandlungen setzte der Massentourismus an die Orte ein, wo vier Jahre lang gekämpft worden war. In diesem Beitrag werde ich mich auf Ypern in Belgien konzentrieren, weil dies bis heute eine der wichtigsten “Pilgerstätten” an der Westfront ist – und weil ich im Februar 2020 mit einer Exkursion der Fernuniversität in Ypern war. Dieser Artikel basiert auf einem Referat, das ich dort gehalten habe.

Schlachtfeldtourismus während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar im Anschluss daran

Auch wenn, wie in der Einleitung erwähnt, der Schlachtfeldtourismus nach 1918 kein neues Phänomen war, so erfuhr er doch ab dem Ersten Weltkrieg ein exponentielles Wachstum. Ein Grund darin liegt im zeitlichen Zusammenfallen mit dem einsetzenden Massentourismus. Technische Veränderungen bedingten ein stärkeres Interesse und mehr Möglichkeiten, angefangen von Kameras, mit denen Soldaten Bilder schossen, die wiederum zuhause Interesse weckten, bis zu den aufkommenden Pauschalreisen.

Der britische Leutnant J. W. Gamble prognostizierte im Dezember 1915:

Ypres will be flooded with tourists and sight-seers after the war, and they will be amazed by what they see.

Schon während des Krieges wagten sich vor allem Fotografen, Maler, Journalisten und Schriftsteller an die Front oder zumindest nahe genug, um zu behaupten, “dabei” gewesen zu sein. Einige der Buchtitel klingen durchaus wie die Ermutigung zum eigenen Reisen: Durch Belgien zur Westfront von Ludwig Ewers [1915], Reise zur deutschen Front von Ludwig Ganghofer [1915], Reise in den belgischen Krieg von Heinrich Eduard Jacob [1915], Im Auto durch Feindesland von Paul Grabein [1916], Mit Rucksack und Wanderstab durch Belgien an die Westfront von Karl Straub [1916], A Visit to Three Fronts, Glimpses of the British, Italian and French Lines von Arthur Conan Doyle [1916], Mit dem Auto an der Front: Kriegserlebnisse von Anton Fendrich [1917], Aus den Pampas Argentiniens nach Ypern. Eine abenteuerliche Kriegsfahrt zur Front von Leo Toelke [1918].

Ab 1919 erschienen die ersten Reiseführer, z.B. der Illustrated Michelin Guide to the Battlefields (1914-1918), was auf eine rege Reisetätigkeit schon unmittelbar nach Kriegsende hinweist. Thomas Cook war eines der bekanntesten Reisebüros, das solche Touren anbot, aber beileibe nicht das einzige. Dabei war das Reisebüro immerhin zurückhaltend genug, die Touren nicht schon während des Krieges anzubieten, trotz diesbezüglicher Nachfragen. Im März 1915 ließ Thomas Cook in The Times verlauten, dass es aufgrund von Widerständen aus Frankreich zumindest während der laufenden Kampfhandlungen noch keine Fahrten an die Westfront offerieren würde.

Aber 1919 fuhren die ersten Busse nach Flandern. In seinen Prospekten gab Thomas Cook an, dass das unmittelbare Erfahren der Schlachtfelder und Schützengräben unerlässlich sei, um ein authentisches und vollständiges Bild des “Great War” zu bekommen. Die Werbung richtete sich an alle, die “dem Andenken der glorreichen Verstorbenen Tribut zollen wollen”. Thomas Cook stellte die Westfront-Reise in seinem Reiseführer von 1920 wie eine staatsbürgerliche Pflicht dar:

We do not know – and we cannot know – what war really means until we have visited the battlefields and the ruined towns and devastated miles upon miles in the north of France and Belgium. And it is our duty to visit them.

Das Schlachtfeld wird zum Symbol eines ganzen Krieges stilisiert, wo Geschichte erlebbar, spürbar, fühlbar werden soll. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Landschaft in Flandern unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg tatsächlich von den Verwüstungen gezeichnet war.

Durch diese vernarbte Landschaft führte 1919 auch ein Radrennen, die „Rundfahrt der Schlachtfelder“, bei der natürlich keine deutschen Teilnehmer zugelassen waren.

Auch deutsche Reisebüros boten solche Fahrten an, wie dieses Beispiel von Anfang der 1930er Jahre zeigt:

Insbesondere in den Dekaden unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wollten die Besucher oft mehr als nur Fotos oder Erinnerungen mit nach Hause nehmen. Granaten, Helme, Kochgeschirr, alles was nicht niet- und nagelfest war wurde eingepackt, unter anderem vom ersten Kurator des 1917 gegründeten Imperial War Museum. Aus heutiger Sicht erscheint das pietätlos, fast wie Grabräuberei, aber wie wurden diese Reisen nach 1918 von den Teilnehmern und Daheimgebliebenen gesehen?

Zeitgenössische Rezeption dieser Reisen

Zwiespältig, ist die eindeutige Antwort. Bezüglich der Westfrontreisenden kam es schnell zu einer Ausdifferenzierung zwischen der Meinung über “legitime” Westfrontbesucher wie Veteranen und Angehörige einerseits und den als schau- und schauderlustig bezeichneten “Touristen” andererseits.

Eine der schärfsten Kritiken gegen letztere Gruppe ist die Polemik Reklamefahrten zur Hölle von Karl Kraus, in der er sich 1921 über die Westfront-Fahrten der Basler Nachrichten echauffiert und ihnen Kaffeefahrtcharakter unterstellt.

Auch in englischsprachigen Zeitungsartikeln, Gedichten und der Literatur der Zeit wurde immer wieder die Dichotomie zwischen aus ehrenwerten Motiven reisenden “Pilgern” und “profanen Touristen” reproduziert. Dass man sich über die Bezeichnung der Reisen durchaus Gedanken machte, zeigt ein Bericht in The Times vom 7. Juni 1920:

The French have a better term for what are described in this country as battlefield tours. They call them pilgrimages.

Selbst den Reisebüros war der dünne Grat des gerade noch guten Geschmacks bewusst, auf dem ihre Reisebusse nach Flandern fuhren. Thomas Cook stellte in seinen Publikationen explizit klar, dass die Reisen keinesfalls der Faszination des Grauens oder anderer niedriger Beweggründe dienen sollte.

In Wirklichkeit dürfte es diese klare Trennung zwischen Reisezwecken nicht gegeben haben. Insbesondere Besucher aus Übersee, die sich nur einmal im Leben eine Europareise leisten konnten, verbanden Gräberbesuch und Gedenken mit anschließendem Strandurlaub oder mit belgischem Bier. 

Verschiedene Funktionen des Schlachtfeldtourismus im Wandel der Zeit

Je zeitlich näher man noch am Kampfgeschehen lag, umso direkter und unmittelbarer fühlten sich die Besucher dem Massensterben an der Front verbunden. Solange Schützengräben und Gefechtsmüll noch deutlich sichtbar waren, bedurfte es keiner Vermittlung durch Reiseleiter oder Museen.

Insbesondere für die Angehörigen und ehemaligen Kameraden von Gefallenen waren Orte wie Ypern der Friedhof, auf dem sie das Grab besuchen konnten. Idealerweise war dies ein namentlich gekennzeichnetes Grab, andernfalls ein Ehrenmal für unbekannte Soldaten. Diese Verbundenheit auch der Hinterbliebenen mit einem bestimmten Ort dürfte an der Westfront stärker ausgeprägt sein als an anderen Schauplätzen oder in anderen Kriegen, denn die Soldaten waren im Stellungskrieg lange Zeit an einem Ort, von wo aus sie immer wieder nach Hause schrieben. Orte wie Ypern oder Verdun wurden so auch an der Heimatfront zu festen Begriffen.

Die überlebenden Veteranen konnten ihren Familienangehörigen oft erst anlässlich von Front- und Gräberbesuchen ihre Erinnerungen vermitteln. Auch in der Literatur stößt man auf die Figur des ehemaligen Soldaten, der (mit Familie) an die Front zurückkehren muss, um das Trauma zu überwinden (Josefs Frau von Erich Maria Remarque, Douaumont oder die Heimkehr des Soldaten Odysseus von Eberhard Möller).

Mochten die Familien der Gefallenen während des Krieges noch auf eine anschließende Umbettung gehofft haben, so war doch bald klar, dass dies aus logistischen und finanziellen Gründen keine veritable Option darstellte. Dies betraf deutsche Familien besonders, weil deren Angehörige ganz überwiegend im “Feindesland” lagen. Die Reichsregierung erlaubte 1921 zwar die “Heimschaffung Gefallener”, jedoch unter der Auflage, dass die Angehörigen sämtliche Kosten zu tragen haben. 

Der 1919 gegründete Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) übernahm die Aufgabe der Betreuung deutscher Soldatenfriedhöfe im Ausland und hatte gar kein Interesse an Leichenrückführungen. Als selbsternannter Fürsprecher der Gefallenen äußerte der VDK den Appell, “dass alle, die im Kampfe nebeneinander standen und starben, auch im Tode vereint bleiben.” Die Funktion als Soldat sollte also auch im Tod die eines Vaters, Bruders, Ehemannes oder Freundes überlagern.

Die Verbandszeitschrift Kriegsgräberfürsorge ist eine Fundgrube von Berichten Angehöriger, die im Ausland gelegene Gräber besuchten. Praktische Hinweise wie zur Passbeschaffung, zur Übernachtung, zu den zu erwartenden Kosten nehmen einen breiten Raum ein, genauso wie man es bei “normalen” touristischen Reisen erwarten würde. Als Beispiel die eher negative Bewertung des Reisebüros Thomas Cook durch einen deutschen Reisenden im Jahr 1924:

Aber auch pathetische Berichte im nationalistisch-militaristischen Geist wurden abgedruckt, so wie dieser 1925:

Und auch den deutschen Touristen, der überall in der Welt mit Verbesserungsvorschlägen auftritt, gab es schon früher. Ein wichtiger Hinweis aus dem Jahr 1931:

Für die Nationalsozialisten wurden Soldatenfriedhöfe zu symbolischen Orten, an denen man gelobte, die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg wettzumachen. Der Ort Langemark nördlich von Ypern war schon während des Ersten Weltkriegs zu einem Mythos im Deutschen Reich geworden. 1933 schrieb die VDK-Zeitschrift, dass man endlich den dortigen Toten zurufen könne: “Seht: Wir marschieren wieder, froh und opferfreudig!”

1940 wurde tatsächlich wieder in Belgien (ein)marschiert. Im Herbst 1940 fanden im mittlerweile deutsch besetzten Langemark militärische Gedenkfeiern statt. Aus deutscher Sicht war der Erste Weltkrieg erst jetzt zu seinem richtigen Ende gekommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, der eigentlich ausreichend schlachtfeldtouristisch interessante Novitäten geschaffen hätte, z.B. in der Normandie, nahm der Tourismus nach Flandern wieder an Fahrt auf, anfänglich jedoch ohne die Besucher aus Deutschland.

Der 1946 wieder zugelassene VDK brach mit der überkommenen Heroisierung des Kriegstodes, der das Gedenken zwischen den beiden Weltkriegen dominiert hatte. Er bekannte sich zur Versöhnung in Europa, schwieg sich aber andererseits über deutsche Kriegsverbrechen in den beiden Weltkriegen aus. Damit bestärkte der VDK das in der frühen Bundesrepublik weitverbreitete Opferbewusstsein und das Leitbild des angeblich “unpolitischen Soldatentums”, das letztlich bis zur Wehrmachtsausstellung 1995 anhielt.

Die Kriegsgräberfahrten waren für die Erinnerungskultur in Westdeutschland auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil es weder ein nationales Denkmal für gefallene Soldaten, noch eine nationale Zeremonie für sie gab. Der Volkstrauertag war nicht auf die gefallenen Soldaten beschränkt, anders als z.B. der Memorial Day in den USA oder der 11. November als Remembrance Day im Vereinigten Königreich und anderen Commonwealth-Staaten. Öffentliches Soldatengedenken in der Bundesrepublik fand entweder im kommunalen Rahmen oder eben im Ausland statt.

Seit dem Ersten Weltkrieg und nochmals seit den 1960er Jahren hat sich der Totenkult gewandelt. Mit dem Übergang vom sakrifiziellen zum viktimologischen Opferverständnis wurde das Leiden und Sterben der Soldaten immer weniger glorifiziert, mehr als Mahnung verstanden und zunehmend distanziert und teils mit Unverständnis betrachtet. Dass diese Entwicklung zur Zeit des Vietnam-Krieges eine spürbare Wende nahm, zeigt, dass das Gedenken der Vergangenheit nie losgelöst von den jeweils aktuellen Diskursen verstanden werden kann.

Auch aus Sicht der örtlichen Kommunen, Einrichtungen und Tourismusverbände hat sich der Fokus vom Schlachtfeldtourismus, einem Wort das gar nicht mehr gerne gehört wird, hin zum Kulturgut-Tourismus (einschließlich eines Antrags auf Anerkennung der Schlachtfelder in Flandern, in der Wallonie und in Frankreich als UNESCO-Weltkulturerbe) und zu Versöhnungsreisen verschoben. Nicht mehr die morbide Faszination des tausendfachen Todes oder militärgeschichtliche Detailversessenheit, sondern die Mahnung und die Lehren daraus stehen im Vordergrund. Man blickt zurück, um sich als Europäer des seither Erreichten zu erfreuen.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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9 Antworten zu Schlachtfeldtourismus damals und heute

  1. danysobeida schreibt:

    A propósito de turismo oscuro, yo diría que Milluni hasta hace poco era un lugar muy poco visitado, casualmente hoy encontré esta invitación en facebook, minuto 2:30 aproximadamente. Algunas vez te preguntaste, lo que pueden desencadenar tus andanzas? https://www.facebook.com/bolivia360/videos/1093686957783452

  2. Michael Müller schreibt:

    Aber die Hochzeit des „echten Schlachtfeldtourismus“ war immer noch der amerikanische Bürgerkrieg, wo man sich zum Picknick am Schlachtfeldrand traf. Während der Schlacht!

    Führte sogar dazu dass Rückzug behindert wurde wegen „Stau durch Gaffer“, siehe 1. Schlacht am Bull Run.

  3. tinderness schreibt:

    Sehr spannender Artikel, danke!

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