Einer der Gründe für meinen Umzug nach Litauen 2012 war, dass das Land die perfekte Fallstudie für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu sein schien: Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen. Besetzt von der Sowjetunion. Besetzt von Nazi-Deutschland. Dann wieder besetzt von der Sowjetunion. Der Holocaust wütete hier am gewalttätigsten. Schließlich Revolution und Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991. Jetzt EU-und NATO-Mitglied.
Als ich die Preise für die Busse in Vilnius eruierte, stieß ich auf eine Liste mit verschiedenen Preiskategorien für 15 Personengruppen. Dass es unterschiedliche Preise für
- Schüler,
- Studenten,
- Senioren,
- Behinderte,
- teilweise Behinderte,
- u.s.w.
gibt, war ja noch normal. Aber an den zusätzlichen Kategorien der Fahrgäste konnte man regelrecht eine kurze Geschichte Litauens im 20. Jahrhundert ablesen. Rabatt bekommen nämlich auch:
- Teilnehmer des Widerstands gegen die militärischen Besatzungen von 1940 bis 1990,
- militärische Freiwillige unter 70 Jahren,
- militärische Freiwillige über 70 Jahren,
- Teilnehmer der Befreiungskämpfe,
- Personen, die unter den Besatzungen von 1939 bis 1990 gelitten haben,
- ehemalige politische Gefangene,
- ehemalige Exilierte,
- ehemalige Insassen von Ghettos,
- ehemalige Insassen von Konzentrationslagern
- ehemalige Insassen anderer Unterdrückungslager,
- Verteidiger der Unabhängigkeit der Republik Litauen, die aufgrund der sowjetischen Aggression vom 11. bis zum 13. Januar 1991 oder danach körperlich eingeschränkt sind,
- Familienangehörige der verstorbenen Verteidiger der Unabhängigkeit der Republik Litauen, die unter der sowjetischen Aggression vom 11. bis zum 13. Januar 1991 oder danach gelitten haben,
- Bewahrer der litauischen Unabhängigkeit, die vom 11. bis zum 13. Januar 1991 oder später verwundet wurden und deshalb noch teilweise beeinträchtigt sind.
Obwohl ich damals Student war, bezahlte ich der Einfachkeit halber den normalen Fahrpreis und freute mich über die gemütlichen Oberleitungsbusse aus der Sowjetzeit.
(Foto von Bjørn Giesenbauer.)
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