Unerkannt durch Freundesland

30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung scheint mir das im Westen vorhandene Wissen über das Leben in der DDR – soweit diesbezüglich überhaupt Interesse besteht – weiterhin von unergiebigen Diskussionen über Schlagwörter wie „Unrechtsstaat“ oder von wenig ausdifferenzierten Täter-Opfer-Schemata geprägt zu sein. Aber zwischen FDJ-, SED- und Stasi-Leuten auf der einen und Oppositionellen und Republikflüchtlingen auf der anderen Seite muss es auch eine Menge Zwischenstufen gegeben haben.

Von einer interessanten Gruppe habe ich gerade erst erfahren: den UdF-Reisenden. Das waren DDR-Bürger, die die geographischen und ideologischen Grenzen ihres Staates überwanden, aber ohne allzu offenen Widerstand, und ohne ins Gefängnis oder in den Westen zu gehen, zumindest in den meisten Fällen. Sie brachen die Regeln auf kreative und gewitzte Weise. Sie waren entweder sehr mutig oder sehr sorglos. Sie demonstrierten nicht für Freiheit, sie nahmen sie sich einfach.

UdF, als Abkürzung durchaus eine Anspielung auf KdF, steht für „Unerkannt durch Freundesland“, und so heißt auch das absolut empfehlenswerte Buch mit 29 Geschichten über illegale Reisen in die Weiten der Sowjetunion.

Die Möglichkeit zu diesem Regelverstoß bot ironischerweise die sozialistische Bürokratie: DDR-Bürger benötigten für Privatreisen in die Sowjetunion eigentlich eine Einladung, eine exakte Reiseroute und eine Genehmigung. Das war kompliziert. Leichter war es, nach Bulgarien oder Rumänien zu fahren, meist mit dem Zug durch die Tschechoslowakei. Als dort 1968 der Prager Frühling zuerst blühte und dann von Panzern niedergewalzt wurde, richtete man für die DDR-Urlauber eine Ausweichroute über Polen und die Sowjetunion ein. Dafür gab es unkompliziert ein Transitvisum, mit dem man 48 Stunden durch die Sowjetunion reisen durfte, um nach Rumänien und am Ende des Urlaubs wieder zurück zu gelangen.

Was taten die findigen Abenteurer aus der DDR? Sie planten vorgeblich eine Reise nach Rumänien, besorgten sich das Transitvisum für die Sowjetunion, und stiegen dann am ersten Bahnhof in der UdSSR aus dem Zug und verliefen sich. War ja auch ein großes Land.

Wer nicht nach Westen kann, fährt halt in den fernen Osten: Baltikum, Ural, Kaukasus, Sibirien, Altai-Gebirge, Samarkand, Pamir-Gebirge, bis nach Kamtschatka. Insbesondere die Bergsteiger waren, nachdem sie die Herausforderungen des Erzgebirges schon gemeistert hatten, ganz wild darauf, den Elbrus (5642 m) oder den Pik Kommunismus (7495 m) zu besteigen. Andere wollten mit einem selbstgebauten Segelschlitten über den zugefrorenen Baikalsee flitzen.

Und nach einem Monat fuhr man wieder zurück in die DDR, wie wenn nichts geschehen wäre. Das war zwar nicht ganz legal, aber wie Michael Beleites über seine Reisen ins Baltikum schreibt:

Das Risiko war überschaubar: Es konnte zwar passieren, dass man von der Miliz gestoppt wurde und eine Strafe zahlen musste – aber nie mehr, als man dabei hatte. Und man konnte des Landes verwiesen werden – was aber nicht schlimmer ist, als wenn man gar nicht erst hinfährt.

So eine Einstellung gefällt mir!

Von der Miliz, der Polizei oder dem KGB wurden dann tatsächlich viele der Reisenden gestoppt, auch mal für eine Nacht festgenommen. Aber all diese Begegnungen verliefen überraschend milde, manchmal richtig humorvoll.

Wenn die Deutschen erzählten, dass sie sich verlaufen hatten oder dass sie trampten, wurde der KGB-Offizier immer weich und fragte fürsorglich: „Haben Sie heute schon gegessen?“ Daraufhin wurde das Verhör ins Restaurant verlegt und der Delinquent eingeladen, bis alle betrunken waren. Selbst in eigentlich verbotenen Städten wie Königsberg oder dem Schwarzmeerhafen Sewastopol konnten sie sich herausreden, wobei in letzterem Fall wohl half, dass die Dolmetscherin nicht wahrheitsgemäß übersetzte, dass der Reisende per Anhalter auf einem Schiff übers Schwarze Meer fahren wollte. Manchmal gab einem der KGB auch noch ein bisschen Geld für die Weiterreise mit.

Die Flüge waren in der Sowjetunion anscheinend spottbillig, denn etliche Reisende flogen kreuz und quer durchs Land, aber natürlich gehört auch das Trampen zu so einem Reisestil. Und nicht nur mit Autos:

Es kam auch vor, dass wir mit dem Helikopter getrampt sind. Da hat man einen Piloten angequatscht, mit ihm Wodka getrunken, und schon konnte man mitfliegen,

schreibt Ulrich Henrici, der vor allem in Mittelasien unterwegs war.

Wenn das Geld ausging, war es auch kein Problem. Wie die Herausgeberin Cornelia Klauß schreibt:

Es war im damaligen Ostblock machbar, mit kaum Geld in der Tasche loszuziehen. Nie wurde man als Schnorrer wahrgenommen, sondern stets als junger abenteuerlustiger Mensch, der seinem natürlichen Recht auf das Sammeln von Erfahrungen nachging.

Wo man auch hinkam, es wurde immer alles geteilt, Essen, Trinken und natürlich die Wohnung. Wie das so war in der guten alten Zeit vor dem Internet: Man hatte über Bekannte von Bekannten einen Namen und eine Adresse in Vilnius oder in Tiflis bekommen, tauchte spontan auf, und konnte so lange bleiben, wie man wollte. (In Tiflis wurden sie sogar eingeladen, wenn sie auf der Suche nach der Adresse bei völlig Unbekannten klingelten.)

Manche der Geschichten sind regelrechte Schwejkiaden. Die Reisenden fälschten Einladungen zu Sportfesten und nahmen so an der Elbrusiade und an einem Triathlon in der Ukraine teil (den sie auch noch gewannen). Ein anderer hatte kein Geld für den Zug nach Turkmenistan. Er ging zur Miliz und sagte, dass er seine Reisegruppe verloren habe und ihr schnellstmöglich nachreisen müsse. Die Miliz organisierte ihm eine Fahrkarte für den nächsten Zug, der eigentlich schon ausverkauft war. Drei Studenten wollten nach Kamtschatka und hatten sich dafür eine „Einladung zur Eröffnung eines Karl-Marx-Denkmals“ gefälscht. Das flog zwar auf, aber da waren sie schon am Japanischen Meer. Nach ein paar Tagen Haft wurden sie zurückgeschickt.

Aber ich will gar nicht mehr erzählen. Lest einfach selbst! „Unerkannt durch Freundesland“ ist ein Genuss für Freunde des Ostens, für Abenteurer und vor allem für Nostalgiker, die dem Reisen ohne Internet, Vorabbuchung und GPS hinterhertrauern.

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Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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8 Antworten zu Unerkannt durch Freundesland

  1. Kain Schreiber schreibt:

    wie immer sehr interessant, was du schreibst!hab mich mal ein wenig durch deine innerdeutsche geschichtsforschung geklickt:alle beiträge sehr interessant!und wieder denke auch ich: ein Buch (oder mehrere), die nicht nur die eine oder andere Seite zeigen, sondern das dazwischen – das auch ein gutes, wohlbehütetes Leben zuließ – feht überall…

  2. Andreas schreibt:

    Das Buch habe ich meinem Bruder letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt (aber natürlich nicht vorher selbst gelesen ;-)). Eh ich es zurückborge, werde ich es mir halt noch einmal kaufen. Mittlerweile kenne ich auch jemanden, der in den Achtzigern auf diese Weise in der SU war. Wir (Freundeskreis) haben von so einer Möglichkeit (Transitvisum) damals nichts gewusst und haben uns deshalb brav von sowjetischen Brieffreunden zu denen nach Hause einladen lassen. Blöderweise ging es nur nach Litauen, die Gastgeber waren schlimmer als der KGB und haben uns keine Minute aus den Augen gelassen. Wir hatten ursprünglich auch gedacht, wir könnten da so frei im Land rumkurven (dass der Transport spottbillig war, wussten wir), aber die haben das nicht zugelassen. Zwei glühende litauische Nationalisten, die eher Hitler bewunderten als Lenin. Immerhin durften wir 1988 die Anfänge der Unabhängigkeitsbewegung live erleben. Auf dem baltischen Studenten Lieder- und Chorfestival wurden schon die Fahnen der später unabhängigen Staaten geschwungen.
    Ach so, den Grund für die Existenz dieses Transitvisums habe ich auch nicht gekannt, verrückt nur, dass es das bis in die Achtziger gegeben hat, denn da war der Grund dafür ja längst erledigt und die Tschechoslowakei wieder ein linientreues, ziemlich langweiliges Land (wir haben es natürlich dennoch geliebt).

    • Andreas Moser schreibt:

      Aber immerhin haben Euch die litauischen Brieffreunde eingeladen.
      Vielleicht hatten sie selbst Angst vor dem KGB. Dessen litauische Zentrale stand ja ziemlich massiv und drohend mitten in der Stadt.
      Darin ist jetzt ein Museum, das auch ein paar Probleme in der litauischen Geschichtsschreibung durchschimmern lässt, wenn auch nicht so krass wie das private Museum im Grutas-Park: https://andreas-moser.blog/2015/02/21/grutas-park/
      Ich habe in allen drei baltischen Staaten immer wieder erlebt, dass Leute sich wohlwollend über die deutsche Besatzung geäußert haben. „Ach, die Deutschen waren ganz ordentlich“, hörte ich immer wieder und fragte mich, wie sich das mit dem Holocaust und den Massakern vereinbaren läßt. Wahrscheinlich nur, wenn einen das Schicksal von Juden und anderen NS-Opfern völlig kalt lässt. In Vilnius kam oft noch dazu, dass die Litauer ziemlich anti-polnisch eingestellt waren, weil sich beide Länder immer wieder um Wilna/Vilnius gezankt hatten. Und wer Polen nicht mag, der mag natürlich Hitler.

      Ich finde es übrigens vollkommen legitim, Bücher zu verschenken, nachdem man sie gelesen hat. Ich empfinde das sogar als eine besondere persönliche Empfehlung.

      Ich lese zur Zeit Daniela Dahns „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von morgen“, das du mir geschickt hast, und bin gerade entsetzt über die Information gestolpert, dass Deutschland noch immer Renten an baltische SS-Soldaten zahlt (dafür aber die DDR-Renten für die Kämpfer gegen den Faschismus reduziert hat). In dem Buch erfahre ich einiges Schockierendes.

  3. Pingback: „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ von Daniela Dahn | Der reisende Reporter

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