Wannsee

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Ich fahre mal wieder mit dem Zug von der Kultur- in die Bundeshauptstadt, von Chemnitz nach Berlin. Weil ich das oft mache und weil mich das Deutschlandticket auf die Regionalzüge verweist, variiere ich die Strecke je nach Lust und Laune. Manchmal steige ich in Elsterwerda um, manchmal in Jüterbog, und heute in Dessau.

Der Zug ist schon ziemlich voll, so dass ich schnell entscheiden muss, zu wem ich mich platziere. Am liebsten setze ich mich zu Menschen mit Büchern. Oder zu alten Menschen, die haben interessante Lebensgeschichten.

Da sehe ich ein junges Paar, erkennbar aus Israel. Sie sprechen Hebräisch, und der Junge trägt eine Kippa. Ich setze mich zu ihnen, schon allein, damit sich beim nächsten Halt kein Antisemit dazugesellt und ihnen die Fahrt vermiest.

Weil ich nicht nur vorausschauend und stets auf das Wohlergehen all meiner Mitmenschen bedacht, sondern auch höflich bin, begrüße ich sie auf Hebräisch. So wissen die beiden Reisenden, dass ich ihre Sprache verstehe, und können ihre Konversation notfalls dementsprechend anpassen, um keine Privat- oder Staatsgeheimnisse auszuplaudern.

Die jugendlichen Reisenden befinden sich jedoch anscheinend auf Flitterwochen, denn sie unterhalten sich ganz ungeniert und verliebt.

Oder sie haben gemerkt, dass mein Hebräisch gar nicht so gut ist. Mittlerweile habe ich das meiste wieder verlernt und verstehe nur mehr die Zahlen, sowie die Wörter für Bier (בירה), Pizza (פיצה) und Kibbutz (קיבוץ). Was man halt so braucht für eine Reise durchs Heilige Land. Und das Wort „אצטרובל“ [itstrubál] für Putzelkuh. Es ist komisch, wie das Gehirn funktioniert. Was ich lernen und memorieren will, das bleibt nicht hängen. Aber dieses Wort, das ich vor mehr als 25 Jahren im Wald von Ben Shemen einmal hörte, das hat sich in einer Gehirnzelle so hartnäckig festgesetzt wie ein israelischer Siedler im Westjordanland.

Fast genauso putzig wie das Wort „אצטרובל“ sind die Namen der Orte, die wir passieren:

Jeber-Bergfrieden.

Bad Belzig.

Borkheide.

Beelitz-Heilstätten.

Oh, jetzt weiß ich endlich, wo dieser berühmte „Lost Place“ ist.

Brandenburg ist wie Oberägypten. Ein paar interessante Ruinen, aber sonst viel Sand und alle paar Jahre eine Überschwemmung. (Oberägypten ist übrigens der Teil von Ägypten, der auf der Karte unten ist. Das ist wie Oberbayern oder Obervolta.)

Ich schweife ein bisschen ab, weil ich das Unvermeidliche hinauszögern möchte. Am liebsten würde ich den Zug umlenken. Denn ich weiß ja, woran wir bald vorbeifahren werden.

„Naja,“ denke ich, „das sind junge Leute. Denen wird das gar nichts mehr sagen.“ Außerdem sind sie sehr glücklich und scherzen miteinander. Wahrscheinlich doch keine Hochzeitsreise, sondern in der schönen Zeit vor diesem fatalen Fehler, den viele Menschen trotz meiner beständigen Warnung begehen.

Falls das jemand für zu negativ empfindet: Ich bin auf dem Weg zum Familiengericht, weil sich zwei Eltern seit Monaten um die Umgangszeiten mit ihrem Sohn streiten. Eigentlich sollten heirats- und vor allem paarungswillige Menschen verpflichtet werden, sich anzusehen, wie schnell Liebe in Hass umschlägt, bevor sie „ja, ich will“ sagen dürfen. Wahrscheinlich sind deshalb die Verfahren beim Familiengericht dem Zugang der Öffentlichkeit entzogen, wie sonst nur Spionageprozesse. Der um die Bevölkerungspyramide besorgte Staat will nicht, dass die Menschen die Wahrheit sehen.

Wilhelmshorst.

Potsdam-Rehbrücke.

Potsdam-Babelsberg.

„Unser nächster Halt ist Berlin-Wannsee. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“

Das Mädchen neben mir zuckt zusammen: „? ואנזה בגרמניה“ (Wannsee ist in Deutschland?)

Da wird mir klar, dass Wannsee für sie nur einer der vielen Orte des Holocausts ist, über die sie in der Schule gelernt hat. Und weil einige der bekanntesten davon – Auschwitz, Sobibor, Treblinka, Babi Jar, Majdanek – weit im Osten liegen, entsteht manchmal der Eindruck, dass Morden sei weit weg vom Land der Mörder geschehen.

Vielleicht mögen deshalb die Deutschen diese Gedenkstätten in Osteuropa so gerne. Da kann man einmal im Leben pflichtschuldig hinfahren, und sich dann einreden, dass zuhause in Münster oder Bremen oder Fulda niemand etwas vom Holocaust hätte ahnen, geschweige denn wissen können.

Deswegen halte ich nichts davon, alle deutschen Schulklassen nach Auschwitz zu karren, wie es regelmäßig von Bildungspolitikern und Busunternehmern gefordert wird. Die sollen nach Sachsenhausen fahren, wenn sie aus Berlin sind. Nach Dachau, wenn sie aus München sind. Nach Neuengamme, wenn sie aus Hamburg sind. Nach Grafeneck, wenn sie von der Schwäbischen Alb sind. Nach Flossenbürg, wenn sie aus der Oberpfalz sind. Mit Tausenden von Konzentrationslagern, Gestapo-Gefängnissen, Zwangsarbeiterlagern, Euthanasie- und anderen Mordstätten muss man in Deutschland wirklich nicht weit schauen, um zu erkennen, wie allgegenwärtig der Völkermord und andere Verbrechen waren.

Am Bahnhof in Wannsee haben sie seit damals nicht einmal die Schilder ausgetauscht. Es wird mir immer noch unheimlich, jedes Mal wenn ich daran vorbeifahre.

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About Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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6 Responses to Wannsee

  1. Avatar von hanselmar hanselmar sagt:

    Ich liebe sie diese alten Berliner S-Bahn Schilder. Leider sind nur noch wenige vorhanden. Die meisten S-Bahnhofe in Berlin wurden umgestaltet. Es hat sich schon einiges verandert seit 1966 als ich das erste Mal in Berlin war. Im Juli war ich mal wieder in Berlin. Ich bin mit dem Flixtrain gefahren. Der war punktlich und zuverlassig. Zuvor hatte ich sogar eine SMS auf englisch auf mein maltesiches Handy bekommen welches besagte der Zug habe leider keine Klimaanlage. Das stimmte auch, aber er war sauber, preiswert und fur den Sitzplatz brauchte man nicht extra zu bezahlen wie das bei der deutschen Staatsbahn leider der Fall ist. Angekommen bin ich ubrigens am Bahnhof Gesundbrunnen. Der hat sich total verandert und war nicht wieder zu erkennen. Ich glaube auch dass ich dort schon seit 30 Jahren nicht mehr gewesen war. Wie sang doch Bully Buhlan:“Ich hab noch einen Koffer in Berlin.“ Auch das ist lang schon hin, aber wer in Berlin ist sollte tatsachlich nicht vergessen das ehemalige KZ Sachsenhausen zu besuchen. Ich war ubrigens 1967 dort zum ersten Mal als man mir beim Touristenburo der Hauptstadt der DDR empfahl nach Sachsenhausen zu fahren um zu wissen was der Kapitalismus alles verursachen kann.

    • Für den nächsten Berlin-Besuch: Auf der Strecke der S3 nach Köpenick und Erkner sind auch noch einige wunderschöne alte Bahnhöfe.

      Und bei der Deutschen Bahn muss man für Sitzplätze auch nichts extra bezahlen. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum Leute immer kostenpflichtig Plätze reservieren. Schließlich ist eigentlich fast immer ein Platz frei. Notfalls muss man halt einen von den Schofeln ansprechen, die glauben, ihre Handtasche benötige auch einen Sitzplatz.

      Am Bahnhof Gesundbrunnen habe ich mal Zigarren gekauft, schon aus Protest dagegen, dass man so vehement an die Gesundheit erinnert wird.

      Dass das Tourismusbüro einen Besuch in der KZ-Gedenkstätte empfiehlt, überrascht mich. Ansonsten wollen die einem ja nur die hübschen Schlösschen und Museen und Parks unterjubeln.
      Aber gut, wenn es in die antiwestliche Propaganda passt… Ganz wie wenn es in sozialistischen Diktaturen keine Lager und keine Menschenrechtsverletzungen gäbe. :/

  2. Pingback: Wannsee | The Happy Hermit

  3. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    In Bayern ist für jeden Schüler verbindlich ein Besuch in einer KZ-Gedenkstätte vorgesehen. Im Norden fährt man entweder nach Buchenwald oder Flossenbürg oder im Süden nach Dachau bzw. Mauthausen.

    Mein Vater hat mich als Schülerin Anfang/Mitte der 90er mal in einen Bus gesetzt, den der örtliche Kreisjugendring organisiert hatte. Der fuhr in einem Radius von 25 km um meinen damaligen Wohnort herum an Orte, die im Zusammenhang mit NS-Verbrechen standen. Wir landeten an einem KZ-Außenlager, einer „Säuglingspflegestätte“ für die Kinder von Zwangsarbeiterinnen und vollzogen den Hessentaler Todesmarsch nach, der gegen Ende des Krieges nach Dachau führen sollte. Damals gab es noch Augenzeugen, die die Perspektive der Anwohner auf die Orte vermittelten. Ich kann sagen, dass mich dieser Ausflug mehr erschüttert hat als jeder KZ-Besuch in einer der KZ-Gedenkstätten. Im Geschichtsunterricht hatte ich von diesen Orten nichts gehört.

    Gerade lese ich, dass erst vor kurzem eine Stele für die Opfer des KZ-Außenlagers errichtet wurde: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/ulm/warum-das-kz-wasseralfingen-totgeschwiegen-wurde-100.html

    • Mir geht es genauso wie dir!

      Ich finde das viel erschütternder und einprägsamer, wenn ich in unmittelbarer Umgebung, an Orten, die man zu kennen glaubt, auf NS-Verbrechen stoße.
      Oder wenn es beim Spazierengehen unerwartet kommt. Wie die Hinweise auf die Todesmärsche oder die Stolpersteine.

      Diese Mahnmale in der Fläche führen auch unweigerlich zu der Erkenntnis, dass die Verbrechen eben nicht im Verborgenen stattfanden.

  4. Pingback: Juhu, ich bin in Timbuktu! | Der reisende Reporter

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