Von Radeberg nach Radeburg nach Radebeul (Teil 1)

Das Beste am Bloggen sind – auch wenn mein Freund Salman Rushdie dazu eine andere Meinung hat – die Rückmeldungen aus der Leserschaft.

Als ich über eine Wanderung von Freiberg nach Freital schrieb, die ich unternommen hatte, um diese beiden Orte endlich nicht mehr zu verwechseln, meldete sich ein geographie- und alliterationskundiger Leser mit dem Vorschlag, ich könne doch von Radeberg nach Radeburg nach Radebeul laufen.

Die Idee hat mir sofort gefallen. Radeberg – Radeburg – Radebeul, das hört sich mystisch-märchenhaft an. Wie Rapunzel – Rhabarber – Radieschen. Rattenfänger – Rabensuppe – Rasenmäher. Rabauke – Rachitis – Ragnarök. Wie ein Dreiklang aus den Merseburger Zaubersprüchen. Die wollen jetzt übrigens UNESCO-Weltdokumentenerbe werden, was unweigerlich die Frage aufwirft: „Wenn Ihr echte Zaubersprüche seid, wieso zaubert Ihr Euch nicht einfach auf die UNESCO-Liste?“

Die UNESCO ist aber auch sehr streng, das muss man zugestehen. Dresden zum Beispiel wurde wieder von der Liste genommen und verödet seither.

Als ich am Hauptbahnhof in Dresden umsteige, befeuern sie gerade die Dampfloks. Hier ist das Leben echt noch wie vor 100 Jahren, was, wenn man die Geschichte von damals kennt, etwas beunruhigend sein könnte.

Eigentlich ignoriere ich so kulturlose Orte. Aber wer nach Radeberg, Radeburg oder Radebeul will, muss notgedrungen durch Dresden, um das herum sich das zu erwandernde Triptychon auffächert.

Der Karte kann man nicht nur die Etappenziele entnehmen, sondern auch, dass ich es auf einen Tag nicht schaffen werde. Die Kilometer- und Stundenangaben bei Onlinekarten unterschätzen immer die Umwege, Ausflüge und Exkursionen, die ich – absichtlich und unabsichtlich – einbaue. Also fahre ich mit dem Zug nach Radeberg, obwohl der Wanderweg von Dresden nach dorthin fast gänzlich durch die Dresdner Heide führen würde.

Wenn ich Pech habe, ist dieser Abschnitt, den ich auslasse und überspringe, der schönste Teil der ganzen Strecke. Aber ich habe selten Pech, das ist das Schöne an meinem Leben.

Radeberg also. Das kennt man eigentlich nur vom Bier. So wie Kulmbach oder Pilsen.

Sehr beliebt scheint die Stadt nicht zu sein, zumindest nicht an einem Samstagmorgen um 8 Uhr. Ich bin der einzige, der in Radeberg aussteigt. Aber gut, der Zug fährt ja auch weiter nach Görlitz, der angeblich schönsten Stadt Deutschlands. (Ich war schon mal da und kann das bestätigen, aber weil ich den Artikel darüber noch nicht geschrieben habe, muss ich so tun, wie wenn ich es noch nicht wüsste. Mit dieser ständigen Prokrastination wird man noch ganz kirre im Kopf.)

Der erste Eindruck von Radeberg ist, nun ja.

Die Lebensmittelausgabe der Tafel wirbt mit dem Slogan „das Original“. Es muss also noch weitere Armenspeisungen in der Stadt geben, die sich um die verhungernde Klientel balgen.

Aber dann, ums Eck, entfaltet sich die ganze Pracht und Existenzberechtigung Radebergs: Brauereien, Biergaststätten, Bierkneipen, Bierbars, ein Biertheater, ein Bierkino, Schnapsbrennereien, Likörläden, Spirituosenhandlungen.

Die ganze Stadt ist vom Alkohol geprägt. Ich gehe in die gerade erst geöffnete Elefanten-Apotheke, um sicherheitshalber Tabletten gegen Heuschnupfen zu erwerben, aber die Apothekerin empfiehlt: „Jetzt trinken Sie erst einmal einen Schnaps.“ Die Bierstadt Radeberg wirbt mit dem Slogan: „Entfliehen Sie bei uns dem Alltag.“

Im Fenster der Stadtbibliothek stehen „König Alkohol“ von Jack London, „Weinprobe“ von Dick Francis und „Der Trinker“ von Hans Fallada. Bierkästen dienen als Sitzgelegenheit, Dekorationselemente, Blumenkästen und als Poller in der Fußgängerzone.

Vor dem Rathaus hängt ein Aushang, der informiert, welche Fundsachen in der vergangenen Woche abgeliefert wurden. Es sind mehrere Seiten, die von Handschuhen bis zu Fahrrädern alles aufzählen, was halt so verloren geht, wenn man ständig alkoholisiert ist. Und am Ende der Hinweis: „Die Fundsachen können im Rathaus abgeholt werden. Kraftfahrzeuge können bei der Polizei abgeholt werden. Kinder können in der Ausnüchterungszelle des Jugendamtes abgeholt werden.“

In normalen Städten hat man in der ersten Reihe die Prunk-, Repräsentations- und religiösen Bauten, und die Destillerien sind irgendwo im Industriegebiet versteckt. In Radeberg ist es umgekehrt. Hier sind die Prachtstraßen und Fußgängerzonen gesäumt von Biertempeln, und die evangelische Stadtkirche ist versteckt auf einem Hinterhof in einer Seitenstraße.

Schon 1714 hatte dort ein Pfarrer die Stadt Radeberg mit Sodom und Gomorrha verglichen, woraufhin die erzürnten Radeberger die Kirche in Brand steckten. Schon ein paar Jahre später tat ihnen das allerdings leid, und sie wollten die Kirche wieder aufbauen. Um an die nötigen Finanzmittel zu kommen, veranstalteten sie ein Bierfest mit einer Lotterie. Denn mit nichts tritt man dem Sodom-und-Gomorrha-Vorwurf so entschieden entgegen wie mit Saufen und Glücksspiel.

In der Innenstadt ist Radeberg dann doch ganz hübsch. Die anfänglichen Fotos waren zugegebenermaßen etwas unfair, denn welche Stadt wirkt in unmittelbarer Bahnhofsumgebung schon ansehnlich? (Na gut, vielleicht Palermo. Und in der Nähe des Hauptbahnhofs in Wien gibt es wenigstens den Schweizergarten, wo ich immer gerne ein paar Stunden Pause einlege, meine Füße in den Teich stecke und eine Zigarre qualme.)

Auf dem Marktplatz steht, wie eigentlich überall in Sachsen, eine Postmeilensäule, die angibt, wie weit und lange es in die nächsten Orte dauert. Leider befindet sich Radeburg nicht auf der Liste der beliebten Destinationen, so dass ich mich vollkommen uninformiert und desorientiert auf die Wanderschaft machen muss.

Ach ja, Radeberg hat natürlich auch ein Schloss: Schloss Klippenstein.

Hier wurde 1757 August Friedrich Ernst Langbein geboren, der Jurist und Advokat war, aber lieber Schriftsteller sein wollte. Weil er davon nicht leben konnte, nahm er schließlich eine Stelle als staatlicher Zensor an. Diese Position nutzte er, um seine eigenen Werke auf den Index zu setzen, damit sie aus den Leihbüchereien entfernt wurden und er sie selbst zu Höchstpreisen verkaufen konnte.

Das Volk öffnet seine Börse jedoch lieber für Bier als für Bücher, und so verstarb Langbein enttäuscht und verarmt. Ein grausiges Schicksal, das all jenen droht, die sich zwischen Jura und Schreiben nicht entscheiden können.

Von Schloss Klippenstein führt ein Drei-Schlösser-Wanderweg über Schloss Wachau zu Schloss Seifersdorf. Das klingt verlockend, aber ich habe ein festes Ziel für diesen Tag: Radeburg. Da muss es ja auch eine Burg geben, sonst dürfte die Stadt nicht so heißen.

Außerdem, wenn man im Schlösserland Sachsen wohnt, dann sind Schlösser gar nichts Besonderes mehr. Die stehen hier an jeder Ecke. Man geht da nur vorbei und denkt sich: „Ach, sieh an, noch ein Schloss.“ Wahrscheinlich so wie Leute in Texas über Tankstellen denken. Die machen ja auch nicht an jeder davon Halt und Fotos und großes Getöse.

Der Weg von Radeberg nach Radeburg führt, wie es der Stabreim verlangt, durch raffiniert raschelnde Rapsfelder. Und tatsächlich kommt mir ein rasender Radfahrer entgegen, der sich schon auf das Radler in Radeberg und auf einen radikalen Rausch freut.

Diese Felder sehen zwar schön aus, wenn man mit dem Zug daran vorbei fährt. Aber wenn man mittendurch wandert, dann merkt man erst, wie die stinken. Wenn Ihr es schön gelb haben wollt, baut doch lieber Sonnenblumen an. Wie in Transnistrien.

Transnistrien ist eigentlich wie Sachsen. Ein Landstrich im fernen, ja allerfernsten Osten Europas bzw. Deutschlands, über den jeder eine Meinung hat, obwohl die wenigsten je selbst dort gewesen sind. In der Vorstellung gefährlich und unwirtlich, voller Separatisten, die eine unverständliche Sprache sprechen. Wenn man sich dann endlich dorthin wagt, wird man positiv überrascht. Aber auch ein latenter Konfliktherd, an dem irgendwann wieder das Fass der Geschichte überlaufen wird, wenn niemand darauf achtet, wie es sich Tropfen für Tropfen füllt.

Auch architektonisch ist es manchmal schwer zu sagen, ob man gerade in Sachsen oder in Transnistrien ist. Ihr könnt ja mal raten:

Nördlich von Radeberg beginnt der Wald. Ein solider deutscher Wald, ohne willkürliche Vergleiche, ohne schiefe Metaphern, ohne weitere Ausflüge auf Nebengleise. Nur gesunde Eichen, Buchen und Ahornbäume. Zwitschernde Vögel, hüpfende Eichhörnchen, grunzende Wildschweine.

Und ein Schild: „Vorsicht: freilaufender Hund!“

Der Sinn solcher Schilder erschließt sich mir nicht. Was soll man mit solch einer Warnung anfangen? Wenn irgendwo im Wald ein Schild vor Landminen warnt, dann bleibe ich auf dem Weg. Wenn vor Zügen oder Straßenbahnen gewarnt wird, dann blicke ich nach links und rechts, bevor ich den Schienenstrang überquere. Wenn vor herabfallendem Eis gewarnt wird, dann spaziere ich im Winter nicht unter dem Eiffelturm durch.

Aber was soll ich gegen den Hund unternehmen? Die Eigentümer können ja kaum wollen, dass ich ihn erschieße.

Außerdem, wenn jemand Geld für so ein überflüssiges Schild hat, dann hat er auch Geld für eine Kette. Oder für eine Hundehütte, damit das arme Wuzerl nicht frei herumlaufen und einsame Wanderer in Wirrnis und Wahnsinn versetzen muss.

Zusätzlich zu den herumstreunenden Killerhunden höre ich jetzt das Kreischen von Kettensägen. Verlassene Häuser tauchen auf. Es raschelt im Gebüsch. Eine Glasscheibe birst. Die Amseln, Finken und Meisen verstummen unter dem drohenden Gekrächze eines pechschwarzen Raben.

In den Fenstern hängen Dosen und stehen Kerzen. In einem Horrorfilm wären das Warnsignale, bei denen das Publikum entsetzt ausruft: „Geh da nicht rein!“ Aber ich habe kein Publikum, und wenn, dann erfreut es sich gewöhnlich an meinen Kalamitäten.

Was ist hier los? Wer lebt da mitten im Wald? Warum machen Menschen so grausame Dinge? Gibt es noch immer Hexen? Was hat die Stasi damit zu tun? Soll ich meiner Neugier folgen und nachsehen?

All dies und vieles mehr beantworte ich in Teil 2 dieses Wanderberichts, demnächst auf diesem Blog. Und dann, weil ich ziemlich langsam wandere und langsam schreibe, folgen wahrscheinlich noch Teil 3 und Teil 4.

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Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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12 Antworten zu Von Radeberg nach Radeburg nach Radebeul (Teil 1)

  1. Anonymous schreibt:

    Hallo!

    Na sowas ! Da wären wir uns ja fast begegnet. Ich wohne nämlich in Feldschlößchen ( bei Wachau )!

    Witzig! Witzig, über Radeberg zu lesen!

    Herzliche Grüße!

    Sabine

    • Andreas Moser schreibt:

      Ah, als ich den Wegweiser nach Feldschlößchen gesehen habe, wäre ich fast abgebogen. Einfach nur, weil der Name so schön ist.
      Aber ich hatte eine Mission und musste weiter ins Seifersdorfer Tal. (Das kommt dann in Teil 2. Falls ich die Spukhäuser im Wald überlebt haben werde.)

  2. Anonymous schreibt:

    Du solltest dem Wuzerl das goennen was Du Dir goennst : absolute Freiheit und SDF ( sans domicile fixe , eine sehr positive Bezeichnung in Frankreich für Tramper oder Weltenbummler) . Vielleicht bist Du ein wenig neidig , da es kein Schild gibt : « Achtung frei herumlaufender Blogger, kann bissig sein wenn dann auch noch Jurist… »

    • Andreas Moser schreibt:

      Aber der Unterschied ist, dass ich niemanden beiße! Ja, nicht einmal belle.

      „SDF / sans domicile fixe“ ist eine schöne Bezeichnung, und gut zu hören, dass sie positiv konnotiert ist.
      In Deutschland kann man „ofW“ (ohne festen Wohnsitz) in den Ausweis eintragen lassen, wenn man obdachlos ist, aber das ist sehr negativ besetzt und führt ständig zu Verdächtigungen, Verhaftungen und – je nachdem, welches politische System wir gerade haben – zu Zwangsarbeit und Schlimmerem.

  3. Dirk Festerling schreibt:

    Bin mir ziemlich sicher: Transnistrien ist das Bild mit den Klimaanlagen.

  4. Anke schreibt:

    Die Radeberger Brauerei ist doch die am Theaterplatz in Dresden, die aus der Werbung. Du hättest dir die weite Reise sparen können.

    • Andreas Moser schreibt:

      Ich habe mich gefragt, ob die Radeberger nicht sauer sind, dass ihre Brauerei mit Motiven aus benachbarten Städten wirbt.

      Das ist wie diese Beratungsbuden oder Anwaltsfuzzis, die anstatt eines Bildes ihrer Kanzlei irgendwelche Fotos von willkürlichen Bürogebäuden, oft erkennbar aus ganz anderen Ländern, auf der Website haben.

  5. danysobeida schreibt:

    Interesante y divertido, esos fierros en la terminal de Dresde son preciosos. Las ovejas están aprovechando la ciudad.

    Recuerdo que habías prometido algo sobre Eiffel.

    • Andreas Moser schreibt:

      Y todavía usan esos fierros!
      (Lo vamos a descubrir en el parte 2.)

      Yo también recuerdo haber prometido algo sobre el senor Eiffel. Era un plan para el centenario de su muerte en 1923, pero no tenía tiempo. 😦

  6. T. schreibt:

    Vielen Dank für die Eindrücke, ich glaube ich prokrastiniere das auch noch ein wenig vor mich her

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