Die Grenze zwischen Europa und dem Orient

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Wo genau liegen die Grenzen Europas? Eine Frage, mit der man ganze Grillabende unterhalten kann, insbesondere wenn man Ćevapčići und Döner serviert.

Die Europäische Union allein kann es nicht sein, denn wieso sollten San Marino, Norwegen und bald Großbritannien nicht dazu gehören? Außerdem wären dann Mayotte und Französisch-Guyana auch Teil Europas. Meere sind eine schöne natürliche Grenze, wobei Island europäisch sein will und Karthago viel mehr mit Europa zu tun hatte als der barbarische Teil Germaniens. Außerdem gibt es im Osten kein durchgehendes Meer. Das Uralgebirge ist doch eine ziemlich arbiträre Wahl. Unüberwindbar hoch ist es ja nicht gerade. Die Pyrenäen oder die Alpen sind höher, doch dadurch lässt sich niemand von Europa abschneiden. Und dann dieser dämliche Bosporus, ein nicht gerade beeindruckender Wasserlauf, über den sogar Brücken führen. Warum dann nicht die Wolga oder die Donau, an der entlang man tagelang gehen kann, ohne eine Brücke zu finden? Manche griechischen Inseln liegen nur ein paar Kilometer vor der türkischen Grenze. Und was ist mit Zypern?

Wie gesagt, ein endlos ergiebiges Thema für einen Grillabend. Und vielleicht kann man dabei sogar mal wieder den alten Atlas aus dem Kinderzimmer holen.

Für mich ist seit einer Reise durch den Kaukasus klar, wo die Grenze zwischen Europa und dem Orient liegt: Zwischen Georgien und Aserbaidschan, genau auf der Roten Brücke. An diesem Grenzübergang, je nach Sprache Krasny Most, Tsiteli Khidi oder Qirmizi Körpü gennant, was Ihr Euch alles merken müsst, weil Ihr nicht wisst, in welcher Sprache der Bufahrer das Schild ins Fenster stellt (und es außerdem Красный мост oder წითელი ხიდი schreibt), überschreitet Ihr die Schwelle von der einen in die andere Welt.

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In Georgien ist alles ruhig und entspannt, aber sobald man in das Grenzgebäude auf der aserbaidschanischen Seite tritt, herrschen Chaos, Lärm und Hitzigkeit. Eine ungeordnete Traube von Menschen drängt sich vor den Abfertigungsschaltern, ohne dass einzeln zugeordnete Schlangen zu erkennen sind. Dazwischen schleppen und zerren die Einreisewilligen Säcke mit Kartoffeln, Brot und Sonnenblumenöl sowie zwei Kinderfahrräder. Die Leute beschimpfen sich, schreien sich an oder schlagen sich fast die Köpfe ein. Den aserbaidschanischen Grenzschützern scheint das egal zu sein. Ich kann keine der in den Streitgesprächen verwendeten Sprachen, und hoffe, dass alle Umstehenden merken, dass ich neutral bin. So fühlen sich also die Blauhelme zwischen den Fronten.

Etwas schieben und schubsen muss ich aber leider auch, denn sonst stünde ich nach einer Woche noch im Wartesaal. Mit meinem in Großbritannien erlernten zivilisierten Schlangenanstehstil mache ich hier keinen Meter gut.

Die eigentliche Grenzabfertigung geht zügig voran, schließlich habe ich vorher schon ein Visum beantragt und erhalten. Aber unmittelbar nach der Grenze, auf festem aserbaidschanischen Boden, wird es noch schlimmer.

Horden von Geldwechslern und Taxifahrern stürzen sich auf mich. Alle bestreiten, dass es einen Bus nach Ganja gibt. Der Bus nach Baku bestreitet, dass er durch Ganja fährt. (Gibt es überhaupt einen anderen Weg?)

Vor einem Laden streiten sich zwei Männer, weil beide behaupten, der Besitzer des Ladens zu sein, und mich auffordern, meine Flasche Cola beim einen anstatt beim anderen zu bezahlen.

Ich weiß, dass es einen Bus nach Ganja gibt. Es ist die zweitgrößte Stadt Aserbaidschans, und es gibt immer Busse, aber ich kann ihn nicht in Ruhe suchen, weil mir ständig vier oder fünf bärtige Männer hautnah auf der Pelle kleben und auf Aseri-Türkisch auf mich einschreien. Nur um wegzukommen, willige ich schließlich ein, dass mich einer von ihnen wenigstens nach Qazax fährt, den nächsten Ort, von wo ich hoffe, die Weiterfahrt nach Ganja in mehr Ruhe organisieren zu können.

Die Landstraße verläuft ziemlich gerade. Auf beiden Seiten heben und senken sich die Hügel, etwas ausgetrocknet (es ist Juli), aber dafür goldgrau. Der blaue Himmel ist durchsetzt von fotogenen kleinen Wolken. Traktoren fahren Heuballen nach Hause. Feldarbeiter reiten auf Pferden zur Kneipe. Eine Schafherde, die von einer Ziege angeführt wird, überquert die Straße und lässt sich vom heranbrausenden Taxi nicht aus der Ruhe bringen.

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Es könnte schön sein, wenn ich nur nicht im Auto eine Lügners und Betrügers säße, der noch immer davon redet, nach Ganja zu fahren, und vorgibt, mich nicht zu verstehen. Notfalls muss ich in Qazax an einer Ampel rausspringen oder den Fahrer überwältigen. Allerdings sieht er gewalterfahrener aus als ich.

Wir passieren einen Armeetruck, sowjetisches Modell, der mit Brennholz beladen wird. Die Soldaten haben dafür einen der Bäume am Straßenrand gefällt. Vielleicht ist das Holz aber auch für eine nahe Möbelfabrik, deren Namen als Einziges noch an Europa erinnert: Avropa Mebel.

Als wir uns Qazax nähern, bitte ich den Taxisten, mich am Busterminal abzusetzen. Wie nicht anders zu erwarten, behauptet er, es gäbe keins. Jetzt reicht’s mir. „Klar gibt es ein Busterminal“, sage ich mit einem überlegen lächelnd und besserwissendem Gesicht. Es ist ein Bluff, aber die Stadt hat etwa 20.000 Einwohner und ist der erste größere Ort nach der Grenze. Da wird es schon einen Busbahnhof geben. „Habe ich noch nie davon gehört“, entgegnet der Fahrer, schulterzuckend wie ein Pokerspieler, dem dein Blatt egal ist, weil er dich am Ende sowieso abknallt.

Ich erhöhe den Einsatz: „Ich zeige Ihnen den Weg“, sage ich, weiterhin so lässig, wie wenn ich in dieser Kleinstadt in Westaserbaidschan aufgewachsen wäre. Aus dem Rucksack hole ich mein Tablet mit GPS und Maps.me, inständig hoffend, dass jemand den Busbahnhof eingezeichnet hat. Erfolg! Nicht nur zeigt es den Avtovağzalı an, sondern auch das Taxi als einen sich rasant auf die Stadt zubewegenden Pfeil.

Ent- und begeistert kann der Piratenfahrer kaum mehr seine Augen von dem fast in Echtzeit seine Position anzeigenden Pfeil nehmen. Ich packe es lieber wieder weg. Die Route habe ich mir gemerkt. Und siehe da, jetzt fällt auch dem Fahrer der Weg zum Busbahnhof wieder ein, wo er mich – das Zaubergerät hat ihm sichtlich Respekt eingeflößt – sogar direkt vor dem Bus zur Weiterfahrt nach Ganja absetzt, auf den er jetzt überraschend höflich und hilfsbereit hinweist.

10 Euro haben mich die 30 km unnützerweise gekostet. Einen schlechten ersten Eindruck von Aserbaidschan gibt es gratis dazu. Der hier gedrehte James-Bond-Film hieß „Die Welt ist nicht genug“, aber ich habe jetzt schon genug.

Natürlich darf man kein Land nach seinen Taxifahrern beurteilen, versuche ich mich zu beruhigen. Aber dann passiert in Ganja das Gleiche: Am Busbahnhof weit außerhalb der Stadt umringen mich wieder Taxifahrer, die sich gegenseitig anschreien. Der, in dessen Lada ich einsteige, kennt die Tebriz-Straße nicht (sie liegt im Zentrum) und muss die Herbergsmutter zweimal anrufen und einen Passanten nach dem Weg fragen. Weil es so länger als geplant dauert (wie auch immer man planen kann, ohne das Ziel zu kennen), erhöht er unterwegs den Fahrpreis von den vereinbarten 10 auf 20 Manat (= 10 Euro). Wenn man hier kein Türkisch oder Russisch kann, ist man echt der Depp.

Drei Tage später komme ich erschöpft, ausgelaugt und etwas verstört (danke an die Aliyev-Familie!) zurück an die gleiche Grenze. Dieses Mal kenne ich mich aus und lasse mir keine überflüssigen Transportdienstleistungen aufschwatzen. Nur meine verbliebenen Manat werde ich noch bei einem Geldwechsler los. Hier funktioniert die Konkurrenz. Die Kurse sind fair.

Auf der georgischen Seite der Roten Brücke decke ich mich in einem begehbaren Humidor mit reichlich Zigarren ein, werde beim Bezahlvorgang aber mit der Frage konfrontiert, in welche Richtung ich reise. Wie es meine Gewohnheit ist, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ich bedauere, aber wir dürfen die Zigarren nur verkaufen, wenn Sie aus-, nicht wenn Sie einreisen“, bringt der junge Mann meine Tabakträume zum Platzen. Nicht einmal der Hinweis auf meinen Geburtstag erweicht ihn. Ich bin wirklich wieder in Europa. Regeln sind Regeln.

EU Flagge in Georgien

Praktische Tipps:

  • Nehmt zwischen Georgien und Aserbaidschan lieber den Zug.
  • Und es gibt fast immer einen Bus, egal was die Taxifahrer erzählen. Außer in Deutschland, aber da gibt es nicht einmal genügend Taxis.
  • Falls mal wirklich kein Bus mehr geht, zum Beispiel spätnachts, sind andere Leute in der gleichen Lage, so dass man sich ein Taxi teilen kann. Ich habe das mal an der Grenze von Ecuador nach Peru gemacht, was zur Bekanntschaft mit Benzinschmugglern führte.
  • Wahrscheinlich hätte ich einfach nur einen Kilometer gehen und dann per Anhalter weiterfahren sollen. Wobei ich in Aserbaidschan auch als Anhalter eine schlechte Erfahrung hatte, aber dazu mehr im Bericht über Göygöl.

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Dreiviertel-NATO

Als ich im Sommer 2017 in Kutaisi in Georgien dieses Wandbild fotografierte, sollte es wohl die georgischen Aspirationen und Hoffnungen auf einen NATO-Beitritt symbolisieren. Einer muss ja den ganzen Wein für das Manöver mitbringen.

Heutzutage fragt man sich eher, ob die Zeit für die NATO abläuft. Und für Georgien.

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Kulturkampf

„Was zählt, ist die Eheschließung beim Standesamt. Ihre Zeremonie in der Kirche hat rechtlich den gleichen Status wie eine Feier in Disneyland.“

(Ich, etwas vereinfachend, zur katholischen Mandantin, die möchte, dass ich die Scheidung nicht nur beim Familiengericht, sondern auch beim Erzbistum zur Heiligen Jungfrau von Guadalupe einreiche.)

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Leicht zu verwechseln (42) Friedenskonferenzen

München, 1938: Sogenannte Friedenskonferenz, auf der dem Aggressor alle von ihm gewünschten Zugeständnisse gemacht werden, das Opfer der Aggression nicht repräsentiert ist, und die Beteiligten sowie die Beobachter in unglaublich naiver Weise davon ausgehen, dass auf derlei Weise der Weltfrieden hergestellt werden könne. Der Diktator nutzt die Verschnaufpause zur weiteren Aufrüstung, annektiert sechs Monate später entgegen seinen Versprechen den von der Völkergemeinschaft im Stich gelassenen demokratischen Staat und beginnt weniger als ein Jahr später einen erneuten Weltkrieg.

Riad, 2025: Ebenso.

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Ein realistischer Anwaltsfilm: „Maîtres“

To the English version.

Die meisten Justizfilme und -serien vermitteln ein vollkommen falsches Bild von Rechtsanwälten und Gerichten.

Weil die Menschen aber leider mehr Zeit vor dem Fernseher als vor dem Bundesverwaltungsgericht verbringen, prägen diese Fehlvorstellungen ihre Erwartungen. Und dann sind die Leute enttäuscht, wenn sich nicht die ganze Kanzlei mit fünf Anwälten allein und ausschließlich um ihren einen Fall dreht, wenn das Gericht zwei Tage nach Einreichung der Klage noch immer nicht entschieden hat, wenn im Gerichtssaal weder Zuschauer noch Geschworene warten, und wenn der Richter nicht ständig mit einem Hammer auf den Tisch haut. Ach ja, und regelmäßig merke ich die Enttäuschung, wenn ich nicht wie der „Lincoln Lawyer“ mit Chauffeur und Limousine zum Gericht komme, sondern mit der Straßenbahn. Oder zu Fuß.

Ganz besonders dämlich ist „Suits“.

Überraschend wirklichkeitsnah fand ich hingegen „Better call Saul“.

Gut, man wird jetzt nicht jede Woche von der Drogenmafia in die Wüste von Arizona verschleppt und angeschossen. Das liegt aber vielleicht daran, dass die Jungs vom Sinaloa-Kartell gelesen haben, dass ich mich ganz allein in der Wüste verfranzen und fast verdursten kann. Da muss also niemand nachhelfen.

Abseits dieser vordergründigen Theatralik stellt „Better call Saul“ das harte Leben eines Einzelanwalts mit all seinen Höhen und Tiefen dar: Das anstrengende Werben um Mandanten, aber dann kommen plötzlich viel zu viele gleichzeitig. Man muss sich um alles selbst kümmern, weil man keine Mitarbeiter hat. Und wenn man ein paar Tage nicht dazu kommt, auf E-Mails zu antworten, tauchen die Mandanten unvermittelt zuhause auf.

Aber jetzt habe ich auf Filmfriend, dem Netflix für Intellektuelle, das ich kürzlich schon empfohlen habe und das Ihr über Eure Stadtbibliothek kostenlos nutzen könnt, einen wirklich realistischen Anwaltsfilm gefunden: „Maîtres“ ist eine Dokumentation über drei französischen Anwältinnen, die in einer gemeinsamen Kanzlei in Straßburg hauptsächlich im Migrationsrecht tätig sind.

Nicht nur weil ich ebenfalls Migrationsrecht mache, habe ich hier ganz viel wiedererkannt: Natürlich Äußerlichkeiten wie die dicken Gesetzeskommentare, die nur als Unterlage für Laptops und Lampen dienen, oder den Raucherbalkon (bei mir allerdings mit genüsslichen Zigarren anstatt einer schnellen Gauloise).

Aber vor allem die Mandanten und die Geschichten. Da gibt es Mandanten, die mit einem dicken Ordner kommen, alles bestens organisiert und sortiert. Und andere, denen man jede Information aus der Nase ziehen muss. Mandanten, die ihre Kinder zum Dolmetschen mitbringen. Mandanten, die denken, alles richtig gemacht zu haben, weil sie immer gearbeitet und nie Sozialhilfe bezogen haben, weil sie Französisch sprechen und all ihre Kinder auf die Schule gehen, aber aus Sicht des Staates wiegt es schwerer, dass sie vor 16 Jahren eine falsche Identität angegeben haben. (Bitte macht so etwas nicht. Das führt nur zu ewigen Komplikationen.) Chaotische Mandanten, die einen Sekretär für ihre Termine, für die Post und vor allem für die Bezahlung der Rechnung benötigen würden. Mandanten mit dramatischen Lebensgeschichten. Mandanten, deren Fall eigentlich nur halbgare Erfolgsaussichten hat, denen man aber unbedingt helfen möchte, weil sie sympathisch sind. Und sogar das Gespräch zur Vorbereitung auf den Einbürgerungstest kam mir bekannt vor.

Der Trailer gibt einen kleinen Einblick. Und keine Sorge, auf Filmfriend gibt es englische Untertitel dazu.

Anfangs dachte ich: „Gut gespielt, chapeau!“ Bis ich merkte, dass die Rechtsanwältinnen echt sind. Und die Mitarbeiterinnern und Mandanten ebenfalls. Die haben einfach eine Kamera in die Kanzlei gestellt und mitlaufen lassen. Natürlich nur bei den Mandanten, die zustimmen.

Vielleicht sollten sich Drehbuchautoren und Regisseurinnen ein Beispiel daran nehmen. Mehr Realität wagen. Wie Egon Erwin Kisch schrieb: „Nichts ist erregender als die Wahrheit.“

Ich will übrigens gar nicht so jammern, wie sich das oben angehört hat. Eigentlich ist es ja doch ein ziemlich lockerer Beruf. Man sitzt rum, hört zu, denkt nach, schreibt ein paar Briefe, liest viel und raucht dazwischen.

Wie privilegiert das ist, wurde mir bewusst, als ich – ebenfalls auf Filmfriend und im Rahmen des noch bis zum 17. Februar 2025 laufenden Festivals des französischen Films – einen Kurzfilm über die Arbeit auf einer Baustelle gesehen habe. Das ist schon ein anderes Kaliber von Stress.

Wie ist das bei Eurem Beruf? Gibt es da realistische Filme/Serien/Bücher?

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„Kongo“ von David van Reybrouck

Gerade ist der Kongo wieder in den Nachrichten. Wer zwischen Goma und M23, zwischen Kinshasa und dem Kiwusee ein ganz klein wenig mehr durchblicken möchte, der ist hier falsch. Denn ich weiß eigentlich gar nichts über Afrika. Das ist traurig, aber auf die Schnelle nicht zu ändern.

Allerdings kann ich Euch ein Buch empfehlen, nämlich Kongo – Eine Geschichte des belgischen Autors David van Reybrouck. Schon nach der Einleitung hat es mich gefesselt wie ein Roman. In jedem Kapitel haben sich neue Welten aufgetan, aber auch ungeahnte Zusammenhänge eröffnet.

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David van Reybrouck geht chronologisch vor, im Wesentlichen beginnend 1870, aber das Buch ist keines jener Geschichtsbücher, die Zahlen, Namen, Orte von Schlachten und Wahlergebnisse aneinanderreihen und die einen ratlos zurücklassen. Stattdessen verwebt er historische Fakten mit persönlich Erlebtem oder geführten Gesprächen und bettet alles in einen größeren Kontext ein.

Immer wieder war der Autor selbst im Kongo, hat auf Reisen nicht nur Politiker, Popstars und Akademiker getroffen, sondern auch mit ehemaligen Regimegegnern, vergewaltigten Frauen, Kindersoldaten und Zeitungsverkäufern gesprochen. Er flog durchs ganze Land, ging in die Slums, in die Villen, wagte sich in die Rebellengebiete und hörte Rentnern zu, die noch von der Kolonialzeit erzählen können.

So umfassend wie die Recherche, so umfassend ist der Anspruch. Nicht nur um große Ereignisse wie Krieg, Unabhängigkeit, Putsch geht es. Die Wirtschaft spielt natürlich eine Rolle, zuerst der Kautschuk, dann Kupfer, jetzt Coltan. Der Kongo produzierte immer, was die Welt benötigte. Aber auch die Kulturgeschichte, von Musik zum Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman, von der Zairisierung unter Mobutu bis zu den unterschiedlichen Kirchen, Sekten und Predigern, nimmt einen breiten Raum ein.

Das alles wird in globale Zusammenhänge eingebettet, natürlich angefangen mit Sklavenhandel und Kolonisierung. Aber auch im Ersten und im Zweiten Weltkrieg spielte Belgisch-Kongo eine entscheidende Rolle, nicht nur als Lieferant des Urans für die amerikanischen Atombomben. Im Ersten Weltkrieg wehrte der Kongo deutsche Eroberungsversuche ab. Im Zweiten Weltkrieg befreiten kongolesische Truppen Äthiopien und durchquerten die Sahara bis nach Ägypten, wo sie die Briten verstärken sollten. Unmittelbar mit der Unabhängigkeit 1960 fiel der Kongo dann in den Strudel des Kalten Kriegs. Und Mobutu bemerkte erst, dass seine Zeit um war, als er im Fernsehen die Exekution seines rumänischen Freundes Ceaușescu sah. Ohne die Geschichte von Ruanda und Burundi ist die jüngere Vergangenheit des Kongo nicht zu verstehen. Und am Ende fliegt van Reybrouck nach China, um dort arbeitende und lebende Kongolesen zu besuchen. Von der Kongo-Konferenz in Berlin zur Globalisierung in Guangzhou wird hier ein ganz großer Bogen geschlagen, und man versteht nicht nur mehr über ein Land, sondern über die Welt.

Dazwischen stößt man immer wieder auf Kuriositäten, die die traurige Geschichte des Landes, das mehrfach umbenannt aber immer ausgeplündert wurde, auflockern. Ich führe hier nur zwei auf, die überraschende Bezüge zu Deutschland bieten. So hatte das Deutsche Kaiserreich ein Schiff in den Tanganjika-See gebracht, das im Ersten Weltkrieg den Kongo angriff und 100 Jahre später noch als Fähre Dienst tut.

Oder wusstet Ihr, dass seit 1977 ein deutsches Unternehmen etwa 5% des kongolesischen Staatsgebiets gepachtet hatte, um von dort Weltraumraketen ins All zu schießen? Unterstützt vom Bundesforschungsministerium konnte die OTRAG walten wie ein Kolonialherr: Zoll- und Steuerfreiheit, juristische Immunität, und das Unternehmen durfte sogar Einheimische umsiedeln, wenn sie im Weg waren.

Aber der dritte Teststart schlug fehl – vor den Augen des Diktators.

Alles in allem bietet das Buch die brillante Darstellung eines widersprüchlichen Landes, das weder auf die gebotene Komplexität verzichtet, noch den Kongo als reinen Katastrophenschauplatz abtut. Spannend, lehrreich und gut geschrieben, eine absolute Empfehlung! Und die Fortbildung lässt sich von zuhause aus genießen, ganz ohne tropische Regenfälle, giftige Schlangen und Flugscham.

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Die Zwerge von Breslau

Breslau ist eine coole Stadt.

Das einzige was nervt, sind die Zwerge. Man sitzt gemütlich im Park oder genießt den Blick auf die Oder, und schont taucht aus dem Unterholz so ein Radaubruder auf und macht sich wichtig.

Überall sind die kleinen Racker. Nicht einmal in den Kirchen ist man vor ihnen sicher.

Aber manche Leute mögen die Zwerge. Viele Touristen kommen sogar absichtlich, bewusst und überwiegend wegen der Heinzelmännchen nach Breslau und versuchen, so viele wie möglich von den über 800 Gnomen aufzuspüren.

Ich selbst stehe bekanntlich eher auf Beton als auf Blech. Aber auch für diesen Geschmack gibt es Kunst im öffentlichen Raum.

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Was hat die Völkerschlacht mit dem Leipziger Stollen zu tun?

Ich bin zur Zeit in Markkleeberg. Hier gibt es einige Seen, am schönsten und am größten den Cospudener See. An dessen Westufer fühlt man sich wie am Baikalsee, am Ostufer wie in den Hamptons, alles in einem etwa zweistündigen Seeumrundungsspaziergang zu erkunden, der, ob man will oder nicht, immer an einer Eis- und an einer Pommesbude vorbeiführt. Der verbleibende freie Wille des Menschen beschränkt sich auf die Frage, welche der Köstlichkeiten man als erste einnimmt.

Außerdem hat man die Aussicht auf überraschend viele Türme. Kirchtürme, Eiffeltürme, Fabriktürme, Bürotürme, Aussichtstürme, Burgtürme, Windräder und sogar Pyramiden.

Auf der Bistumshöhe gibt es einen, den zu erklimmen, um Euch die beste Aussicht zu präsentieren, ich mir vornehme.

Aber mir wird bald so mulmig zumute, dass ich von den 35 Metern maximal die Hälfte schaffe, zitternd ein paar Fotos knipse, und ohne längeren Aufenthalt wieder zur Erde zurückkehre, wo mein Herz noch immer gegen den vertikalen Ausflug protestiert. Der Job als Ausguck hoch auf einem Segelschiffmast, das wäre eindeutig nichts für mich. Ich würde ständig vor Angst die Augen schließen, und dann wäre Kolumbus doch glatt an Amerika vorbeigefahren.

Unter all den Türmen ragt in der Ferne einer heraus, der ziemlich dominierend, klotzig und fett erscheint. Das muss etwas ganz Besonderes sein. Mein Interesse ist geweckt.

Wie viele meiner ständig geweckten Interessen wäre dieses wahrscheinlich im Strudel der alltäglichen Ablenkungen und Banalitäten untergegangen, wenn nicht Ina, eine in Leipzig lebende Leserin dieses Blogs, mich angerufen und zu einem Besuch des Völkerschlachtdenkmals eingeladen hätte. Das ist schön, denn es zeigt, dass sie eine wirklich aufmerksame Leserin ist und meine Interessen richtig einschätzt. Manchmal laden mich Leute nämlich zu so Dingen ein, von denen jeder Mitlesende wissen müsste, dass ich davon nichts halte, wie Golftourniere, Hochzeiten oder Treibjagden.

Das Völkerschlachtdenkmal heißt im Volksmund „Völki“, aber kleiner oder niedlicher wird es dadurch nicht. Je näher man kommt, umso bombastischer wirkt es.

Wenn man es mir nicht anders gesagt hätte, so würde ich denken, hier wird der gefallen Sowjetsoldaten gedacht. Ansonsten baute ja nur die UdSSR so gewaltige Monumente in gewaltigen Parks.

Man kann die Größe gar nicht ermessen, wenn nicht ein paar andere Besucher zufällig ins Bild laufen, um die Proportionen zu illustrieren. Die mutigen Jugendlichen, die auf den riesigen Stufen herumturnen, erkenne ich nur durch den Einsatz eines Zooms, so hoch oben im Himmel befinden sie sich. Mit bloßem Auge sehen sie aus wie bunte Vögel, die in einer Reihe sitzen, um den Sonnenuntergang zu begutachten und Pläne für die nächste Zugvogelreise zu schmieden.

Aber Ihr wollt nicht nur staunen, sondern etwas lernen. Also will ich etwas zum Hintergrund erklären:

Im Jahr 1813 dachte man, dass Napoleon erledigt war. Gerade war sein Russlandfeldzug krachend gescheitert. Der Rückzug war schmerzlich und schmählich gewesen. Der einstige Kaiser musste sich als Autor von langweiligen Büchern wie dem „Code civil“ durchschlagen.

Dem armen Mann war langweilig. Also wollte er nach Leipzig fahren. Da war die Buchmesse und auch sonst allerhand los. Leider gab es damals noch keine Zugverbindung, weil die Leipziger den schönsten Bahnhof Europas bauen wollten, was halt ein bisschen dauert. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen.

„Noch keinen Bahnhof, aber den Fußballverein nach einer Lokomotive benennen? Das ist frech“, erregte sich Napoleon, der sich auf einem seiner Feldzüge die Cholerika eingefangen hatte.

Ab einem bestimmten Alter ist es schwer, alte Gewohnheiten abzulegen, also sammelte Napoleon eine Armee von 190.000 buchmessebegeisterten Soldaten ein und zog Richtung Leipzig.

Die anderen Staaten, allen voran Preußen, Russland, Österreich, Schweden und Großbritannien, hatten mittlerweile genug von Napoleon und verbündeten sich. Endlich. Das war praktisch die Geburtsstunde der NATO – und erklärt die spätere NATO-Skepsis in Frankreich. Ich habe jetzt leider kein Bild davon gefunden, aber in meiner Kindheit in den 1970er und 1980er Jahren war in der Tagesschau, wenn die NATO-Karte eingeblendet wurde, Frankreich immer schraffiert, weil es eben nur halbherzig dabei war. Damals konnte mir das niemand erklären, weshalb ich jetzt Geschichte studiere.

Aber zurück zu eben jener Geschichte: Man traf sich also vom 16. bis zum 19. Oktober 1813 in Leipzig, um die Sache auszufechten. Vier Tage mussten reichen, ein langes Wochenende, denn mehr Zeit würden die späteren Reenactment-Fritzen nicht aufbringen können. (Oder habt Ihr schon mal gehört, dass jemand die 162 Tage von Stalingrad nachspielt? Na gut, russische Schulkinder vielleicht, aber die haben ja eh einen Knall dort.)

Außerdem konnten sich die beteiligten Armeen mehr als vier Tage nicht leisten.

Damals wurde nur bei Tageslicht gekämpft, mangels Flutlicht und wegen den – insbesondere bei den Franzosen – starken Gewerkschaften. Abends mussten die Soldaten einquartiert und verköstigt werden. Für die Mannschaften genügte womöglich ein Zelt, die Niederländer (bis zu jener Vielvölkerschlacht von Frankreich besetzt) hatten sogar Campingwagen mitgebracht. Aber die Offiziere wollten ein Bett, ein Bad, einen Braten und eine Bouteille. (Daraus entwickelte sich das B&B-Business.)

Wer schon mal zu Kriegs- oder Messezeiten in Leipzig war, weiß, wie schnell die Betten knapp werden.

Damals war Leipzig noch ein wenig kleiner, so dass auf 40.000 Einwohner 555.000 Soldaten kamen. Nach vier Tagen waren einfach keine Lebensmittel – und vor allem keine Spirituosen – mehr da.

Außerdem hatten die vereinigten europäischen Alliierten gewonnen.

Napoleon war geschlagen und wurde nach Elba verbannt. Wobei sich „Verbannung“ schlimmer anhört, als es wirklich war. Napoleon durfte als Fürst über die ganze Insel herrschen und erhielt dafür jährlich zwei Millionen Francs. Ich will mich jetzt nicht vordrängen, aber dafür würde ich mich auch auf eine Insel im Mittelmeer setzen.

Aber zurück nach Leipzig, wo in jenen Oktobertagen im Jahr 1813 die bis dahin größte Schlacht der Weltgeschichte stattgefunden hatte. Ja, sogar bis heute – trotz zwischenzeitlichen zwei Weltkriegen – bleibt die Völkerschlacht das tödlichste Einzelereignis auf deutschem Boden, mit geschätzt bis zu 100.000 Toten. Nur in Dresden, der ewig zweiten Stadt hinter Leipzig, gibt es ein paar unverbesserliche Lokalpatrioten, die geschichtsverfälschend den Pokal des Massensterbens für sich beanspruchen.

Jedenfalls konnte man für so eine Riesensause keinen einfachen Gedenkstein aufstellen. Da musste schon etwas Bombastisches her!

Dabei gab es nur ein Problem: Leipzig liegt in Sachsen.

Und das Königreich Sachsen hatte, mit dem sicheren Gespür für historische Fettnäpfchen, zwar an der Schlacht von Leipzig teilgenommen – allerdings auf Seiten Napoleons. Der sächsische Ministerpräsident wich Fragen von Journalisten dazu zeitlebens aus, indem er auf „die Gefahren des Linksextremismus“ verwies.

Jahrzehntelang passierte nichts. Das ist eigentlich Standard in Deutschland, wenn man die Geschichte aufarbeiten müsste. Man lässt Gras über die Sache wachsen, wartet ein paar Generationen und konzentriert sich aufs Wirtschaftswachstum.

Und dann kam wieder ein Krieg, nämlich der von 1870/71. Deutschland gegen Frankreich, nur dass Deutschland erst entstehen musste, aber das war schließlich das Ergebnis jenes Krieges. Und diesmal gehörte sogar Sachsen zu Deutschland. „Das ist praktisch, das können wir später mal den Russen geben“, dachten sich die Hohenzollern und Wittelsbacher und wer sonst noch etwas im neuen Deutschen Reich zu sagen hatte.

Jedenfalls war es jetzt an der Zeit, große, stolze, monumentale Denkmäler im national-patriotischen Stil zu erbauen, und 1898 wurde der Grundstein für das Völkerschlachtdenkmal gelegt. 1913, zum hundertjährigen Jubiläum der Schlacht, wurde es eröffnet und versetzte ganz Deutschland in solch nationalen Taumel, dass die Nation wenige Monate später den Ersten Weltkrieg vom Zaun brach. Danke, Völki!

„Wir können auch hochgehen“, sagt Ina.

Ich suche noch nach einer Ausrede, die mich nicht vollkommen uncool aussehen lässt, aber da hat sie schon zwei Eintrittskarten erworben.

„Der Eingang ist beim Erzengel Michael“, sagt der Museumsmann, und ich muss zugeben, ich hätte den Türsteher nicht erkannt. Für mich sieht er eher aus wie Siegfried der Drachentöter oder sonst irgendein Mustergermane.

Überhaupt ist es ein interessanter Stilmix. Die Figuren sehr martialisch, kantig, muskulös. Viel mittelalterliche Symbolik mit Schwertern und Schildern und Ritterrüstungen. Aber die Reliefs in einer Mischung aus Jugendstil und sozialistischem Realismus avant la lettre.

Von außen sieht es so aus, wie wenn das ganze Denkmal aus vulkanischem Porphyrstein gemauert ist, der in der Abendsonne wunderbar rostbraun schimmert. Das wäre aber eine Riesenarbeit gewesen. Deshalb sind das Fundament und die tragenden Wände in Wirklichkeit aus schnödem Beton. Wie so ein Militärbunker, aber das passt ja zum deutschen Charakter, der hier gefeiert werden soll.

Trotzdem wurde so viel Granitporphyr ausgebuddelt, dass anderswo ganze Dörfer im Boden versanken.

Die Wände sind so dick, dass keine Handystrahlen durchdringen. Hier könnte man Abiturprüfungen durchführen, ohne dass die Kinder heimlich auf Wikipedia recherchieren. Denn dass die Abiturnoten immer besser werden, ist ja schon sehr verdächtig. (Außer für die jeweiligen Eltern natürlich, die alle überzeugt sind, dass ihre kleinen Racker Genies sind. Was die Frage aufwirft, wieso Genies nicht selbständig den Bus nehmen können, sondern von den Eltern in die Schule gefahren werden müssen.)

Die Statuen im Inneren stellen eine kuriose Kombination aus den Rittern der Tafelrunde, den zwölf Aposteln und Rübezahl dar.

Und immer höher geht es.

Insgesamt 500 Stufen. Die Wendeltreppe wird so eng, dass wir gerade noch durchpassen. Wenn man sich hier einen Döner mitbringt, um ihn ganz oben auf dem Monument zu verspeisen, würde man sich durch die Gewichts- und vor allem die Umfangszunahme den Rückweg versperren. So fordert die Völkerschlacht auch 200 Jahre später noch immer jährlich ein paar Tote.

Dafür hat man eine wirklich famose Aussicht. Auf der einen Seite über den „See der Tränen“ hinweg nach Leipzig, eine, wie einem aus der Vogelperspektive bitter bewusst wird, erschreckend ebene Stadt. Wie Las Vegas. Nur dass man in Leipzig zum Glücksspielen ins Bundesverwaltungsgericht geht.

Dafür gibt es auf der anderen Seite viel Grün, und das hebt die Stimmung gleich wieder.

Ganz in der Ferne das Kraftwerk Lippendorf, das die letzte Braunkohle verfeuert. In der Halbferne gemütliche Mehrfamilienhäuser. Und direkt zu Füßen des Völkerschlachtdenkmals ein Schloss in einem Wald.

„Was ist das?“ frage ich, total begeistert von dem An- und Ausblick.

„Das ist das Krematorium“, sagt Ina.

„Nein, ich meine nicht die rauchenden Schornsteine am Horizont, sondern das Schloss im Wald“, präzisiere ich.

„Ja, das ist das Krematorium“, erklärt Ina geduldig. Es gehöre zum Südfriedhof, dem größten Friedhof Leipzigs und gleichzeitig einem wunderschönen Park. Das merke ich mir, denn wie Ihr wisst, bin ich ein großer Fan von Friedhöfen, obwohl ich mir um das eigene Verscharren explizit kein Bohei wünsche.

Ganz viel Bohei gibt es hingegen im nahegelegenen Bruno-Plache-Stadion, woher der Wind den Schlachtenlärm, die Schmerzensschreie und die Jubelrufe einer Partie aus der Regionalliga Nordost trägt. Die Fans vom FC Lokomotive Leipzig haben einen Ruf als rechtsradikale Rowdys, aber 100.000 Tote an einem langen Wochenende, das schaffen sie dann doch nicht.

„Ist ja auch praktisch, dass der Friedhof gleich neben dem Schlachtfeld liegt“, kombiniere ich.

„Ich glaube nicht, dass das zusammenhängt“, sagt Ina. „Der Friedhof wurde erst 70 Jahre nach der Schlacht eröffnet.“

„Und wo sind dann die Gräber der 100.000 Soldaten?“

„Das weiß ich gar nicht“, wundert sich Ina selbst.

Wenn Leute, die sonst alles wissen, plötzlich Nichtwissen vorschützen, dann ist das verdächtig. Weil wir noch immer hoch oben auf dem schwindelerregenden Turm stehen, sage ich erst einmal nichts, nehme mir aber vor, der Sache gewohnt gründlich nachzugehen.

Die örtliche Presse meldet alle paar Jahre den Fund eines „Massengrabs“, wobei bisher insgesamt nur 200 Skelette gefunden wurden. 200 Tote, das sind nun wirklich keine Massen, insbesondere nicht bei so einer Jahrhundertschlacht. So viele Menschen sterben im impfskeptischen Sachsen ja schon allein jeden Tag aus Angst vor der Spritze. Und wo sind die anderen 999.800 Toten? Ganz offensichtlich soll hier etwas vertuscht werden.

Dabei zeigen historische Aufnahmen, dass die toten Soldaten, Pferde und Militärkatzen in Leipzig liegen gelassen wurden. Das war damals normal, weil die Armeeführung oft gar nicht wusste, wie die einzelnen Soldaten hießen oder woher sie kamen. Es gab noch keine Wehrpflicht, die Jungs waren einfach in irgendwelchen Spelunken (zwangs)rekrutiert worden. Mit dem Ende der Schlacht wurden sie entlassen und gingen nach Hause. Oder nach Südamerika, um für Simon Bolívar zu kämpfen.

Außerdem gab es noch kein Wahlrecht, so dass sich die Kaiser und Generäle für das gemeine Volk sowieso nicht interessierten. Und Kühltransporter für den Abtransport der Leichen waren auch noch nicht erfunden worden.

Stattdessen war es Brauch, dass die örtliche Bevölkerung die Toten vergrub. Teils aus Pietät, teils weil sie dazu gezwungen wurde, und natürlich zur Prävention von Seuchen. Einen guten Dünger gaben die Soldaten auch ab. Weil die Leipziger sie vorher durchgefüttert hatten, musste deshalb niemand ein schlechtes Gewissen haben. Und wenn man beim Leichenverbuddeln noch einen Säbel, ein paar Stiefel oder eine Schnupftabakdose abstauben konnte, umso besser. Schließlich war Leipzig Messestadt, da konnte man den Touristen allerhand echte und gefälschte Schlachtensouvenirs verkaufen.

Einmal im Monat könnt Ihr auf dem Agra-Flohmarkt in Markkleeberg auch heute noch Orden, Stahlhelme, Fahnen, Soldbücher, Wehrmachtsdolche u.s.w. erwerben. Überhaupt ist das ein fantastischer Trödelmarkt, sehr zu empfehlen! Ich weiß gar nicht, wieso Leute zum moralisch sehr fragwürdigen IKEA laufen, wenn sie hier stilvolle Möbel aus dem VEB Möbelkombinat kaufen können, für die keine Bäume mehr abgeholzt werden müssen. (Die IKEA-Möbel kamen ja sowieso aus der DDR.)

Aber ich will hier nicht abschweifen, insbesondere nicht nach Schweden, denn dorthin bin ich schon einmal abgeschweift oder abgeschwiffen, was zwar zum Schreiben lustig, aber zum Lesen mühsam ist, und uns außerdem weit weg vom eigentlichen Thema brächte, das da wäre – jetzt muss ich selbst kurz nachsehen -, ach ja, die Gefallenen der Völkerschlacht.

Ab 1819, also sechs Jahre nach der Schlacht, tauchten in den Zeitungen des europäischen Kontinents plötzlich massenweise Annoncen britischer Händler auf, die händeringend nach Knochen suchten. Sie verkündeten, dass sie alles Knochenmaterial aufkaufen würden, ohne Mengenbeschränkung und zu guten Preisen. Wegen der Nähe zu den Seehäfen wurden diese Anzeigen hauptsächlich in Norddeutschland, in den Niederlanden und in Frankreich geschaltet. Leipzig liegt bekanntlich nicht am Meer, aber der Knochenhandel schien so vielversprechend, dass die Leipziger begannen, einen Kanal zum Meer zu graben. (Wie mir das bei meiner eigentlich umfassenden Geschichte des Kanalbaus entgehen konnte, ist ein unverzeihliches Rätsel.)

Das tolle am Knochenhandel war, dass er unreguliert war. Es gab keine Ausfuhrsteuern, keine Einfuhrsteuern, keine Zölle. Es gab nicht einmal EU-Richtlinien oder -Verordnungen, die den Handel mit Knochen regulierten. (Deshalb waren die Briten damals noch glücklich.) Insbesondere für die Armen auf dem Kontinent war das eine lukrative Einnahmequelle. (Mitlesende FDP-Politiker ärgern sich jetzt, diese Information zu spät für die Verhandlungen über die Reform des Bürgergeldes erhalten zu haben.)

Die Bauern um Leipzig fanden es zudem nur fair, die Knochenberge wieder auszugraben und zu Geld zu machen. Schließlich hatten ihnen diese verfluchten Armeen 1813 die ganze Ernte zertrampelt und den Wein weggesoffen, so wie später alljährlich die Reenactment-Veranstaltungen.

Zu DDR-Zeiten hieß es natürlich nicht „Reenactment“, sondern „historische Darstellung in originalgetreuen Uniformen zum Zwecke der Traditionspflege“. Dass es so etwas während der deutschen Teilung im Osten gab, hat mich als Wessi überrascht. Aber insofern ist das Völkerschlachtdenkmal ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man an einem Bauwerk im Laufe der Zeit die unterschiedlichsten, teils konträren Geschichtsbilder festmachen kann.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wollte der neue antifaschistische Staat das Völkerschlachtdenkmal natürlich sprengen, wie so vieles andere in Leipzig und anderswo. Aber der 300.000 Tonnen schweren Klotz ließ sich nicht sprengen, zumindest nicht mit konventionellen Mitteln. Also entwickelte die DDR eine Atombombe. (Das war vor dem Atomausstieg und zu einer Zeit, als man die Gefahren der Kernkraft gerne verniedlichte.) Es war schon alles in die Wege geleitet, die Evakuierung der Stadt geplant, die Fernsehkameras bereit, als – praktisch in letzter Minute – 1954 der Film „Godzilla“ in die Kinos kam und sehr plastisch vor den Gefahren des Atommissbrauchs warnte.

Auf der Suche nach einem Ausweg, der ohne ein zerstörerisches Krümelmonster auskäme, meldete sich ein kreativer Historiker im Politbüro mit der Lösung: Man würde das Völkerschlachtdenkmal stehenlassen, aber einfach anders interpretieren. Der preußisch-russische Sieg von 1813 war plötzlich das Vorbild für die deutsch-sowjetische Waffenbrüderschaft (die ja doch eher eine Pipeline-Brüderschaft war). Die germanischen Ritter waren sozialistische Helden. Napoleon war ein westlicher Imperialist, den man gemeinsam besiegt hatte.

DDR-Briefmarken würdigten nicht nur das eigentlich deutsch-nationale Völkerschlachtdenkmal, sondern auch den preußischen Generalfeldmarschall Fürst Blücher von Wahlstatt, den preußischen Feldmarschall Graf Neidhardt von Gneisenau, den preußischen General von Scharnhorst und das Lützowsche Freikorps – in den Reihen „Nationaler Befreiungskampf 1813“ und „Deutsche Patrioten“.

Vielleicht war die DDR das deutschere, ja das preußischere Deutschland?

Ich habe mich schon immer gefragt, wieso die Züge in der DDR unter der Marke „Deutsche Reichsbahn“ fuhren. Und Besucher aus aller Welt berichteten nach einem Besuch in der DDR sehr verstört von mit Stechschritt zur Schau gestelltem Militarismus, absurderweise vor dem „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus.“

Halt, das war das falsche Video.

Hier das richtige, aber die Ähnlichkeit ist verblüffend, oder? Ebenfalls verblüffend ist die Ähnlichkeit zu dieser bolivianischen Schulband, aber das ist jetzt wirklich ein anderes Thema.

Im Westen gab es so etwas nicht. Da waren ja alle Hippies und in Woodstock. Und wenn einer zur Bundeswehr ging, dann eigentlich nur, um einen gefütterten Parka für die damals noch kalten Winter abzustauben.

Das war so gang und gäbe, dass man mit der Ausstattung am ersten Tag schon Formularvordrucke für Verlustmeldungen in die Hand gedrückt bekam. Den Parka „verlor“ eigentlich jeder mindestens einmal in seiner Soldatenlaufbahn, dazu gerne die langen Unterhosen und das Kochgeschirr aus stabilem Blech. Ehrlich, mich wundert gar nicht, dass es jetzt bei der Bundeswehr enormen Materialmangel gibt.

Ich selbst habe nichts mitgehen lassen. Ich bin gar nicht erst hingegangen. Das war allerdings nicht mehr in Westdeutschland, sondern schon im wiedervereinigten Deutschland. Apropos Wiedervereinigung: Vielleicht ist am höheren Nazi-Anteil in Ostdeutschland doch nicht die Treuhand schuld, sondern der „unverkrampfte“ Umgang mit Nation und Deutschtum, den die DDR pflegte?

Am jährlichen Nachspielen der Völkerschlacht störte die Stasi auch nicht das Waffenklirren oder der Pulverdampf, sondern dass dazu Teilnehmer aus Westeuropa anreisten. Ein Franzose wollte für das Reenactment 1983 sogar ein „historisches Schussgerät“ einschmuggeln. Und die Belgier zerstörten „nach größerem Alkoholkonsum“ die Einrichtung einer Gastwirtschaft, wo übrigens, das immerhin sei zur Ehrenrettung der DDR gesagt, der Bismarckhering als „Delikatesshering“ verkauft und verzehrt wurde.

Aber zurück zum Thema: Was zum Teufel wollten die Briten mit all den Knochen?

Dazu muss man wissen: Knochen enthalten Phosphat. Und Phosphat ist ein guter Dünger.

Jahrhundertelang hatten die Briten (und viele andere Völker) die Felder dadurch gedüngt, dass sie ihre Nachttöpfe auf dem Acker ausleerten, um das möglichst wenig unappetitlich zu beschreiben. Wer auf dem Land wohnt, kennt das ja, Gülle, Jauche, das ganze eklige Zeug. Nun ergab es sich aber zu jener Zeit, dass die Industrielle Revolution die Menschen in die Städte lockte. Die Landflucht führte nicht nur dazu, dass es teilweise an Arbeitern für die Bewirtschaftung der Felder mangelte, sondern eben auch an menschlichem Dünger.

Deshalb die panische Suche nach Knochenmaterial.

Natürlich wollten die Händler eigentlich Pferde-, Rinder- und Walfischknochen. Aber zur Not tut’s auch ein Preuße oder ein Franzose. So genau sieht niemand hin, und es wird ja sowieso alles zu Knochenmehl zermalmt.

Das ging ein paar Jahre gut. Aber wie das immer so ist bei neuen Geschäftsfeldern, bald kommt die Regulierung. Es wurden Ausfuhrzölle erlassen. Es wurden Gesundheitsschutzvorschriften erlassen, nach denen die Zwischenlagerung von Knochen in der Wohnung verboten war. Und schließlich wurde das Öffnen von Gräbern verboten. (Zumindest von europäischen Gräbern. In Ägypten durfte man natürlich weiter graben, was das Zeug hielt. Deshalb leiden wir noch immer unter dem Fluch des alten Tutanchamun.)

Zu allem Überfluss wurde auch noch ein besserer Dünger entdeckt, nämlich Salpeter. Der kam aus der Wüste in Chile, aus der Stadt Humberstone, die ich bereits für Euch besucht habe.

An dem Tag wäre ich übrigens fast verdurstet. Die Atacama-Wüste ist wirklich so trocken, wie man immer hört. Irgendwann bringt mich das noch um, dass ich immer alles selbst überprüfen will. So wie damals in Bolivien, als ich testen wollte, wie sich Höhenkrankheit anfühlt. Oder wie in Montenegro, wo ich in dunkle Schächte kletterte und in einem geheimen U-Boot-Hafen herauskam. Mal sehen, was mir als Nächstes einfällt.

Aber zurück zu den Knochen. An die Stelle der britischen Landwirtschaft trat ab den 1830er Jahren die Zuckerindustrie als Großabnehmer für Skelette aller Art. Und jetzt wird es wirklich fantastisch, wie Politik, Kriege, Wirtschaft, Landwirtschaft, Wissenschaft und überhaupt alles zusammenhängt. Deshalb macht Geschichte so Spaß!

In Europa wurde ursprünglich kein Zucker produziert. Aller Zucker kam von den Zuckerrohrplantagen in der Karibik und aus anderen Kolonien, weswegen Zucker nicht nur schlecht für die Zähne, sondern auch verantwortlich für die Sklaverei ist. Im Rahmen der kleinen Auseinandersetzung, an deren Ende die Völkerschlacht stand, verhängte Napoleon 1806 die sogenannte Kontinentalsperre, eine Wirtschaftsblockade gegen Großbritannien und dessen Kolonien. Importierter Rohrzucker wurde unerschwinglich teuer.

Dummerweise hatten sich die Menschen in Europa schon an Zucker gewöhnt. (Macht ja schließlich süchtig, dieses Teufelszeug.) Also gingen findige Forscher daran, ein Substitut zu finden. Die deutschen Lebensmittelchemiker Andreas Sigismund Marggraf, Franz Carl Achard und Carl Scheibler experimentierten mit verschiedenen Rüben und veredelten die Runkel- schließlich zur Zuckerrübe. So profane Themen schleckten wir in der BRD ab, wenn wir eine Postkarte verschicken wollten. Da war nichts mit Patriotismus und nationalem Befreiungskampf.

Also wurden überall, wo es der gute Boden erlaubt, Zuckerrüben angebaut und zu Sirup gepresst. Um daraus den raffinierten weißen Zucker zu generieren, auf dem die verwöhnte Kundschaft besteht, muss man diesen jedoch filtern. Und diese Filterung geschieht mit – Ihr habt es schon geahnt – Knochenkohle. Die Zuckerindustrie benötigte massen- und tonnenweise Knochen, damit der Zucker rein und weiß aussieht.

Dass die Fabrik der Südzucker AG in Zeitz errichtet wurde, nur 40 km vom Ort der Völkerschlacht entfernt, war also kein Zufall. Überhaupt deckt sich die Karte der Zuckerrübenanbaugebiete und der Zuckerfabriken verdächtig mit den Orten großer Schlachten. (Das ganz im Westen ist wohl der Hürtgenwald, daran traf Napoleon ausnahmsweise keine Schuld.)

Wie Horaz schon sagte: „Süß ist es, fürs Vaterland zu sterben.“

Und jetzt wisst Ihr, warum der Puderzucker auf dem Leipziger Stollen immer so schön fein und weiß ist. Darüber, welche Knochen der Kinderschokolade ihren Namen gegeben haben, denkt man besser gar nicht nach.

Tut mir leid, falls ich Euch jetzt den Appetit verdorben habe. Ich selbst bin durch die lange Befassung mit diesem Thema abgehärtet und nehme etwaige Restbestände an Stollen und Schokolade gerne entgegen!

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„For Eyes Only“, der erste James-Bond-Film der DDR

Weil James Bond in „No Time to Die“ 2021 bekanntlich gestorben ist – sorry, falls Ihr das noch nicht wusstet -, und es deshalb keine neuen James-Bond-Filme mehr geben wird, muss ich mich anderweitig nach Spionagefilmen umsehen.

„Endlich Rente!“ – „Hoppla.“

Leider gibt es da gar nicht so viel Gutes. Der letzte OSS 117 („Liebesgrüße aus Afrika“) war schlecht. Die ganzen „Mission Impossible“-Filme haben spektakuläre Stunts, aber immer eine sehr seichte Story. Unter den Serien fand ich nur „Kleo“ herausragend. „Argylle“ hat großen Spaß gemacht, aber ich bin mir nicht sicher, ob das ein seriöser Agentenfilm sein wollte.

Da ich jetzt in Ostdeutschland wohne und der Vormieter den Fernseher zurückgelassen hat, habe ich mittlerweile aber ganz andere Filme zur Auswahl.

Gestern war wieder so ein Abend, an dem ich nicht arbeiten, sondern mir einfach einen Drink mixen, die Füße hochlegen und einen Agentenfilm reinziehen wollte. Beim Zappen durch die vielen DDR-Kanäle blieb ich bei „For Eyes Only“ aus dem Jahr 1963 hängen.

Zum Inhalt, so knapp wie möglich: Hansen ist ein DDR-Spion, der in der BRD für eine Tarnfirma des US-Militärgeheimdienstes arbeitet. (Natürlich ohne ihnen zu sagen, dass er bei der Stasi ist. Logisch.) Die USA und die BRD arbeiten an einem geheimen und teuflischen Plan, die friedliebende DDR hinterrücks anzugreifen. Nur Hansen, der körperlich, geistig aber auch moralisch überlegene Held, kann das stoppen, indem er die Pläne für die westliche Militäroperation aus dem Safe seines Chefs stibitzt und in die DDR bringt, wo sie dann rechtzeitig der Weltöffentlichkeit vorgestellt werden sollen, um die Invasion noch abzuwenden.

Das erinnert stark an einen anderen Geheimagenten, und spätestens bei den Casino-Szenen wird einem klar, dass hier schamlos von „James Bond jagt Dr. No“ (1962) abgekupfert wurde. Nur ohne Farbe, denn in der DDR verlief bekanntlich das gesamte Leben in schwarz-weiß.

James Bond hat ein paar Jahre später wiederum abgekupfert, nämlich den Filmtitel. 1982 erschien „For Your Eyes Only“, eine Hommage des britischen Geheimdienstes an die Kollegen von der DEFA.

Bei einer Sache blieb die DDR-Kinoindustrie jedoch unübertroffen: beim Marketing.

Um die Menschen in Scharen in die Kinos zu locken, heckte das Ministerium für Staatssicherheit und Filmförderung einen genialen Plan aus. Bereits ein Jahrzehnt vor der Premiere wurde ein echter ostdeutscher Doppelagent, Horst Hesse, in den US-amerikanischen Militärgeheimdienst in Westdeutschland eingeschleust. 1956 gelang es ihm, zwei ganze Panzerschränke zu entwenden und mit diesen in die DDR zu entkommen – ähnlich wie im Film.

Bei dem Material handelte es sich zwar hauptsächlich um Agentenkarteien (schlimm genug, wenn die in die falschen Hände fallen). Aber um die Spannung für den Film so richtig anzuheizen, verlautbarte die DDR-Führung auf mehreren Pressekonferenzen, dass ihre Agenten geheime NATO-Pläne, nicht nur für einen Angriff auf die DDR, sondern „zur Vorbereitung eines dritten Weltkriegs“, entwendet hatten.

Die Pläne waren natürlich eine Fälschung.

Weil die DDR-Bevölkerung nach diesen Enthüllungen jedoch aus Angst vor einer Invasion kaum mehr ruhig schlafen konnte, musste die DDR-Führung im Sommer 1961 zum Schutz eine Mauer bauen. Und das alles nur wegen einen Kinofilms!

Obwohl sich das mit der Mauer, soweit ich weiß, mittlerweile erledigt hat, ist „For Eyes Only“ auch heute noch spannend anzusehen. Nach 102 aufregenden Minuten, von denen keine einzige langweilig oder langatmig war, merke ich, dass ich den Drink, den ich mir für den Kinoabend gemixt habe, noch gar nicht angerührt habe.

Der Systemkonflikt der Agentenfilme ging unerschrocken weiter. „Das unsichtbare Visier“ war die Antwort auf James Bond, Armin Mueller-Stahl die Antwort auf Sean Connery.

„Was soll das heißen: Mein Auto wird erst in 12 Jahren geliefert?“

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Die Erfindung des Plattenbaus

Vielen wissen das nicht, aber die praktischen Plattenbauten wurden deshalb erfunden, weil man in der DDR beim Umzug die eigenen vier Wände mitnehmen musste. Die Inneneinrichtung hingegen konnte in der Wohnung verbleiben, weil landesweit sowieso jeder das gleiche Sofa und die gleiche Küche hatte.

Beweisfoto aus Karl-Marx-Stadt

Aber die Wände mussten jedes Mal mit in die Umzugskartons, weil darin die personalisierte Überwachungseinrichtung („Wanzen“) installiert war.

In diesem Zusammenhang kamen viele DDR-Bürger unschuldig in den Knast, wenn sie ihre Wohnungen über AirBnB an Touristen vermieteten. Die von den Ausländern durchgeführten Konspirationen wurden dann nämlich den unwissenden Wohnungseigentümern zugerechnet. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum auch heute noch im Beitrittsgebiet eine leicht erhöhte Skepsis gegenüber Fremden besteht.

Solche Missverständnisse hätten sich mit einem guten Rechtsanwalt leicht aufklären lassen, aber in der gesamten DDR gab es nur etwa 600 Anwälte. Viel zu wenige!

Immerhin, letzteres Problem ist mittlerweile behoben.

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