Der Antagonismus zwischen Arbeitsamt und Auslandsaufenthalt

Aufmerksamen Lesern wird nicht entgangen sein, dass ich trotz meiner Weltreisen knapp bei Kasse bin. Zu zeigen, dass Reisen nicht viel kosten muss, ist ja gerade eines der Hauptanliegen dieses Blogs. Das kann ich nur glaubwürdig vertreten, wenn ich selbst unterhalb der Armutsgrenze lebe.

Bei mir ist die Situation so prekär, dass ich mir jahrelang nicht einmal eine Krankenversicherung leisten konnte. Das ist blöd, wenn sich die Weisheitszähne entzünden oder Nierenkoliken bemerkbar machen (alles er- und überlebt). Endgültig zu blöd wurde es mir im Januar 2020, als Vorausschauende schon erkannten, dass Covid-19 die Welt für ein paar Jahre in Atem halten würde.

Also bemühte ich mich um Wiederaufnahme in die hochgeschätzte gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, was gar nicht so einfach ist, wenn man die letzten zehn Jahre im Ausland gewohnt hat. Aber dafür ist es sehr aufschlussreich: Bei einem Monatseinkommen von 250 € muss man davon 185 € Krankenkassenbeitrag zahlen. (Bei einem Einkommen von 150 € oder auch 0 € kostet es absurderweise ebenfalls 185 €.) Kann man das nicht bezahlen, fallen zusätzlich Säumnisgebühren, Rückstandzuschläge u.s.w. an. Da eine Krankenversicherung bei Wohnsitz in Deutschland verpflichtend ist (§ 193 III 1 VVG), befindet man sich ein einem unauflösbaren Zwiespalt zwischen juristischen und mathematischen Gesetzen.

Mit Mathematik kenne ich mich nicht aus, mit Jura schon, also wälzte ich ein paar Nächte lang Gesetze, während der Rest der Bevölkerung sich mit Toilettenpapier und Nudeln eindeckte. Ich fand zwei Lösungen:

  • Zum einen gibt es die Künstersozialkasse, die eine günstigere Krankenversicherung anbietet, wenn man Künstler ist. Nun ja, Lebenskünstler bin ich, aber das meinen die nicht. Schreiben kann ich, aber die Künstlersozialkasse verlangt, dass ich damit Geld verdiene, weshalb ich seither regelmäßig um Spenden betteln muss. Das ist nervig, aber so verlangt es das Gesetz.
  • Während das Aufnahmeverfahren bei der Künstlersozialkasse lief, blieb mir keine andere Möglichkeit, als Arbeitslosengeld II zu beantragen. Das ist das, was die älteren von Euch als Sozialhilfe, die jüngeren als Hartz IV kennen.

Also ging ich zum Arbeitsamt, das in Amberg, vielleicht weil Bayern einst unter US-amerikanischer Besatzung stand, „Jobcenter“ heißt. Die Leute dort waren überwiegend nett und hilfsbereit, aber etwas verdutzt, dass jemand kein Geld, sondern nur eine Krankenversicherung wollte.

„Das geht nicht.“

„Ich brauche aber nicht mehr Geld. Ich komme mit ein paar hundert Euro im Monat ganz gut über die Runden.“

„Wenn Sie keine Leistungen beziehen, bekommen Sie keine Krankenversicherung.“

„Kann ich einfach ein höheres Einkommen angeben, so dass ich nur ganz geringe Leistungen erhalte?“

Verdutzte Blicke bei den Sachbearbeitern.

Ich hab es dann einfach so gemacht, denn Eigeninitiative war, so glaube ich mich zu erinnern, eines der Ziele der Hartz-Reformen.

Wie gesagt, die Leute bei der Arbeitsagentur sind eigentlich ganz nett. Aber eine schreckliche Obsession haben sie: Sie wollen, dass man sich nicht unerlaubt vom Wohnort entfernt, erlauben es aber auch nicht, wenn man um Erlaubnis bittet. Ehrlich, man kann mit den Leuten vom Jobcenter über alles diskutieren, aber wenn man mal eine Nacht außer Haus verbringen will, dann reagieren sie, wie wenn sie einem Klosterinternat vorstünden.

Das Ganze ist, wie so vieles im heutigen Kapitalismus, eine nur wenig verbrämte Fortschreibung des Mittelalters. Wer arm war, sollte abhängig und auf der ihm zugewiesenen Scholle bleiben. Der Rest der Welt war ihm versperrt, außer der Grundherr stimmte zu, was eigentlich nur zum Verheizen im Krieg geschah. – Für Arme ist der Unterschied zwischen Mittelalter und heute gar nicht so gravierend, nur dass mittlerweile auch Paketdienste, Schlachthöfe und Pflegeheime die Menschen verheizen.

Nun bin ich bekanntlich kein Freund von Nationalismus, Patriotismus, Heimatliebe oder anderer Beschränktheit auf ein Stück Boden. Die Welt ist groß und interessant, und ich bin frei und neugierig. Als sich im März 2020 die Corona-Pandemie unaufhaltsam nach Mitteleuropa vorarbeitete, floh und flog ich deshalb auf die Azoren.

Meine Offenheit, dies dem Arbeitsamt durch regelmäßige Blogberichte (und die Übersendung meiner Kontoauszüge) mitzuteilen, wurde dort nicht geschätzt, sondern zum Anlass genommen, mir für die drei Monate nachträglich alle Leistungen – und damit den Krankenversicherungsschutz – zu streichen.

Gegen diese Bescheide legte ich am 29. Oktober 2020 Widerspruch ein, dem am 12. Mai 2021 – mithin nur ein bisschen mehr als ein halbes Jahr später – „in vollem Umfang entsprochen“ wurde.

Weil juristische Themen bei einer kleinen Teilmenge meiner Fangruppe auf reges Interesse stoßen, und weil ich finde, dass die Mühe, die ich liebevoll in den Schriftsatz investiert habe, nicht umsonst gewesen sein soll, veröffentliche ich nachfolgend mein Widerspruchsschreiben.

Zwar sind meine Situation und die Corona-Lage nicht verallgemeinerungsfähig, aber vielleicht hilft es dem einen oder anderen, der das Joch der ständigen und sinnlosen Ortsanwesenheitspflicht im SGB II abwerfen will. Außerdem will ich aufzeigen, wie schwierig es für Nichtjuristen ist, sich gegen Kürzungsbescheide des Arbeitsamtes erfolgreich zur Wehr zu setzen, egal wie falsch oder gar rechtswidrig die Bescheide sind.


An das

Jobcenter Amberg

29. Oktober 2020

Widerspruch gegen Bescheide vom 6. Oktober 2020

Sehr geehrte Frau U.,

sehr geehrter Herr H.,

gegen die drei Bescheide vom 6. Oktober 2020, namentlich

  • den Ablehnungsbescheid mit Ihrem Az. 709,
  • die abschließende Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Ihrem Az. 709, und
  • die Erstattung von Leistungen bei endgültiger Festsetzung des Leistungsanspruches, Ihr Az. 709.3-743D190600,

die mir am 10. Oktober 2020 zugingen, lege ich innerhalb der Monatsfrist des § 84 I 1 SGG Widerspruch ein, den ich wie folgt beschränke und begründe:

I. Beschränkung und Ziel des Widerspruchs

1.

Mein Widerspruch beschränkt sich auf die Ablehnung von Leistungen ab dem 6. März 2020 wegen der angeblichen Verlegung meines gewöhnlichen Aufenthalts außerhalb der Bundesrepublik Deutschland (so die Formulierung im Ablehnungsbescheid und in dem Schreiben über die Erstattung von Leistungen) bzw. weil ich mich vom 6. März 2020 nicht im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe (so die nicht auf den gewöhnlichen Aufenthalt rekurrierende Formulierung in dem Schreiben über die abschließende Bewilligung von Leistungen).

2.

Der Widerspruch richtet sich ausdrücklich nicht gegen die Kürzung von Leistungen, weil meine Einnahmen höher als erwartet ausfielen, und nicht gegen die Aufrechnung des Erstattungsbetrages mit zukünftigen Leistungen.

3.

Wie ich schon bei der Antragstellung im Februar 2020 erläutert hatte, geht es mir weniger um die Gewährung von ALG 2 als vielmehr um die Übernahme der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, die meine eigenen finanziellen Mittel in den meisten Monaten übersteigen. Ausweislich S. 2 des Ablehnungsbescheids verliere ich durch die Versagung von ALG 2 nachträglich die Krankenversicherung, was in mir nicht nur die Angst vor Rückforderungen der Krankenkasse, sondern auch vor damit zusammenhängender weiterer Bürokratie weckt.

Dass es mir nicht um höhere direkte Zahlungen an mich geht, vermögen Sie daraus zu ersehen, dass ich in dem von Ihnen aus der Berechnung herausgenommenen Monat April 2020 weit überdurchschnittlich und jenseits jeder Bedarfsgrenze verdient habe, so dass die Einbeziehung der von Ihnen herausgerechneten Monate bzw. Wochen vom 6. März 2020 bis zum 17. Juni 2020 sich womöglich, was ich nicht vorab zu berechnen imstande war, finanziell zu meinen Lasten auswirken könnte, wobei dies nicht nur diesen schon langsam an die Grenzen der Verständlichkeit geratenden Satz, sondern auch das Widerspruchsverfahren durch die zusätzlich Pflicht der Berücksichtigung des Verbots der reformatio in peius, an das hier – ohne auf die ins Uferlose führenden Einzelheiten dieses Rechtsgrundsatzes einzugehen – erinnert sei, verkomplizieren würde.

4.

Zweites Ziel dieses Widerspruchs ist, klarzustellen, ob mein Antrag auf ALG 2 nur für den Zeitraum vom 6. März 2020 bis zum 17. Juni 2020 abgelehnt wurde (wie es im Schreiben zur abschließenden Bewilligung steht) oder ob ab dem 6. März 2020 ohne weitere zeitliche Beschränkung alle Leistungen versagt werden (wie es im Ablehnungsbescheid sowie im Schreiben über die Erstattung von Leistungen steht). Die in den beiden letztgenannten Bescheiden verwendete Formulierung “weil Sie ab dem 06.03.2020 Ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik Deutschland haben” ließ mich diesbezüglich stutzig werden, insbesondere weil die Bescheide vom 6. Oktober 2020 stammen, obwohl ich bereits Mitte Juni 2020 nach Deutschland zurückgekehrt bin.

5.

Zuletzt erhoffe ich mir von dem Widerspruchsverfahren klare Kriterien, was wann warum einen “gewöhnlichen Aufenthalt” darstellt, da sich aufgrund meiner Tätigkeit als (unter anderem) Reiseblogger Reisen und Auslandsaufenthalte nicht vermeiden lassen und auch in Zukunft vorkommen werden. 

II. Begründung des Widerspruchs

1.

Nach Nr. 1.1 (1) der Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II ist “grundsätzlich […] davon auszugehen, dass am angemeldeten Wohnsitz auch der gewöhnliche Aufenthalt begründet wird”. Auch § 30 I SGB I, auf den § 7 I 1 Nr. 4 SGB II Bezug nimmt (so ausdrücklich Nr. 1.1 (1) der Fachlichen Weisungen zu § 7 SGB II) legt durch die Formulierung “Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt” nahe, dass ein Wohnsitz für die Anwendung der deutschen Sozialgesetzbücher ausreicht.

2.

Ich hatte während meines temporären und von Anfang an temporär angelegten Aufenthalts auf den Azoren meinen Wohnsitz in Ammerthal rechtlich und faktisch beibehalten.

a) Ich bin während der gesamten Reise in Ammerthal gemeldet geblieben.

b) Ich habe das Zimmer, das ich in Ammerthal bewohne, behalten, und zwar samt der kompletten Einrichtung, inklusive Bücher, Unterlagen, Dokumente, Kleidung. Ich habe nichts eingelagert oder nach Portugal verschifft. Ich habe nichts verkauft. Es blieb bei meiner Abreise einfach alles so, wie wenn ich kurz auf einen Ausflug gehen würde.

c) Ich habe keinen Nachsendeauftrag gestellt, mein deutsches Konto nicht gekündigt, mich bei niemandem verabschiedet und auch sonstwie weder objektiv noch subjektiv zu erkennen gegeben, dass ich etwas anderes als eine kurze Reise vorhabe.

d) Ich habe weiterhin für deutsche Kunden als Übersetzer gearbeitet, habe Rechnungen auf mein deutsches Konto ausgestellt und gehe davon aus, für die fraglichen Monate in Deutschland steuerpflichtig zu sein.

3.

Ab Februar 2020 war klar, dass das Coronavirus eine ernsthafte Bedrohung darstellte, die spätestens am 5. März 2020 den Landkreis Amberg-Sulzbach erreichte. Von einem Ehepaar auf der Insel Faial hatte ich die Einladung erhalten, dort als unbezahlter Housesitter auf ihr Haus und auf die Katzen aufzupassen. Eine weit entfernte und nicht allzu bevölkerte Insel kam mir angesichts der bedrohlich heranrollenden Pandemie wie gerufen.

Da ich meinen Computer mitnehmen und auf Faial meine Arbeit als Übersetzer und Blogger wie in Ammerthal verrichten konnte und da das Jobcenter für persönliche Vorsprache auf absehbare Zeit geschlossen wurde, erschien mir das kein Problem.

4.

Die Reise auf die Azoren diente gleichzeitig der Recherche für Reisegeschichten, die ich bereits teilweise auf meinem Blog veröffentlicht habe.

5.

Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 7 I 1 Nr. 4 SGB II erfordert ein zeitliches Element, den Willen als subjektives Element und die objektiven Gegebenheiten. Entscheidend ist dabei eine vorausschauende Betrachtung künftiger Entwicklungen (Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Auflage 2015, § 7 SGB II Rn. 4). Deshalb führen Auslandsreisen und andere Auslandsaufenthalte nicht automatisch zum Ausschluss von der Leistungsberechtigung (Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann a.a.O.). Bei vorausschauender Betrachtung kann auch während eines Auslandsaufenthalts das Inland weiterhin Lebensmittelpunkt bleiben (Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann a.a.O.). Dies kann sogar bei mehrjähriger Abwesenheit aus der Bundesrepublik Deutschland gelten (Mrozynski, SGB I, 2. Auflage 1995, § 30 Rn. 19). 

Entscheidend ist die Prognose, ob ich – aus damaliger Sicht – nicht nur vorübergehend auf den Azoren verweilen wollte, wobei alle subjektiven und objektiven Umstände zu würdigen sind (Mrozynski § 30 Rn. 20).

Eine Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts fand nur statt, wenn die Prognose aus damaliger Sicht ergibt, dass mein Aufenthalt auf Faial von Dauer sein würde (Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, § 30 SGB I Rn. 6). “Dauerhaft ist ein Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt und daher ‘zukunftsoffen’ ist”, meint das Bundessozialgericht (zitiert nach Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann a.a.O.).

6.

Unter Anwendung dieser Maßstäbe und unter Berücksichtigung der nachfolgend aufgeführten Details zu meiner Reise dürfte sich herausstellen, dass mein Aufenthalt auf Faial keinen gewöhnlichen Aufenthalt auf jener Insel begründete, sondern, ganz im Gegentum, ein höchst ungewöhnlicher Aufenthalt war.

7.

Sowohl subjektive als auch objektive Elemente sprechen dagegen, dass ich für unbestimmte Zeit, dauerhaft oder, wie es das Bundessozialgericht ausdrückt, “zukunftsoffen” auf Faial bleiben wollte:

a) Ich verreiste mit nur einem Rucksack und ließ den allergrößten Teil meines Besitzes, inklusive meiner Bibliothek sowie aller wichtiger Unterlagen (bis auf den Personalausweis) in Ammerthal zurück. Ich nahm nicht einmal meinen Reisepass mit, weil ich wusste, dass ich bald wieder nach Deutschland zurückkehren würde. Wenn ich die Azoren zu meinem Lebensmittelpunkt auserkoren hätte, so hätte ich ganz bestimmt meinen Reisepass mitgenommen, um von dort, wenn man schon auf halber Strecke ist, mal wieder nach Nord- oder Südamerika zu reisen. Wenn ich einen längeren Aufenthalt geplant hätte, so hätte ich auch viel mehr als nur drei oder vier Bücher mitgenommen.

b) Ich nahm in Portugal keine Anmeldung vor, bemühte mich nicht um eine portugiesische Krankenversicherung, bemühte mich um keine Arbeit vor Ort, besorgte mir keine portugiesische Telefonnummer, eröffnete kein portugiesisches Bankkonto.

c) Ich lernte nicht einmal Portugiesisch, weil immer klar war, dass ich bald wieder nach Deutschland zurückkehren würde.

d) Auch während der Zeit in Portugal arbeitete ich weiter für bestehende Kunden in Deutschland und betrieb meinen Blog auf Deutsch und auf Englisch. Ich entfaltete keinerlei wirtschaftliche Tätigkeiten in Portugal, für portugiesische Kunden oder auf Portugiesisch.

e) Außerdem wäre es unmöglich gewesen, länger oder gar zukunftsoffen auf Faial zu bleiben, weil ich dort keine eigene Unterkunft hatte. Ich lebte in dem Haus einer befreundeten Familie als temporärer Gast, um während deren Abwesenheit auf die Katzen aufzupassen. Bei der Rückkehr der Hauseigentümer musste ich abreisen. Das ist Besuch, kein gewöhnlicher Aufenthalt.

8.

Nun geschah es aber zu jener Zeit, noch im März 2020, dass die Regierung der Azoren eine ganz strenge Quarantäne verhängte. Jeglicher Flug- und Fährverkehr von den Inseln, auf die Inseln und sogar zwischen den Inseln wurde unterbunden. Die Azoren waren von der Außenwelt abgeschnitten (was sich in einem relativ kontrollierten Infektionsgeschehen niederschlug).

So kam ich nicht mehr wie geplant nach Deutschland.

Es war im März, im April, im Mai und bis Mitte Juni 2020 einfach physisch unmöglich, die Insel Faial zu verlassen. Das war von mir weder so geplant, noch vorhersehbar gewesen. Ja, ich würde sogar sagen, dass es überhaupt niemand vorhersehen konnte. So eine Ausnahmesituation, die es seit Menschengedenken nicht mehr gab, auf einer kleinen Insel 1500 km vom Festland entfernt festzusitzen, das ist doch kein “gewöhnlicher” Aufenthalt. Ganz im Gegentum: Viel ungewöhnlicher ist kaum vorstellbar.

Ich traue mich wetten, dass dies unter all den Kundinnen und Kunden Ihrer geschätzten Einrichtung eine der ungewöhnlichsten Geschichten ist.

Die Lage war so un- und außergewöhnlich, dass andere Leute daraus einen Roman wie “Robinson Crusoe” oder einen Film wie “Cast Away” gemacht hätten. Auch meine Verzweiflung und mein Schiffbrüchigenbart wuchsen von Tag zu Tag, wie bei den bekannteren auf einer Insel gestrandeten Kollegen, bei denen ich mir gar nicht ausmalen möchte, wie jene reagieren würden, wenn ihnen eine Behörde vorwürfe, ihr Aufenthalt sei ein “gewöhnlicher” gewesen.

9.

Aber ich war mir, und das ist ein weiterer Beleg für meine fortgesetzten Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland, meiner Verpflichtung und Obliegenheit gegenüber der Agentur für Arbeit stets bewusst.

Deshalb habe ich am 18. März 2020 die Deutsche Botschaft in Lissabon kontaktiert, um für den Fall von Evakuierungsflügen berücksichtigt zu werden.

Anlage: Bestätigung der Deutschen Botschaft Lissabon vom 18. März 2020

Wie Sie dieser E-Mail entnehmen können, wurde ich von der Deutschen Botschaft als Urlauber (“Kurzzeitaufenthalt”) in die Liste aufgenommen, nicht als Auslandsdeutscher mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Portugal.

Das Auswärtige Amt organisierte aus Portugal jedoch keine Flüge. Private Reiseveranstalter führten nur Evakuierungen aus Madeira, nicht jedoch aus den Azoren (und erst recht nicht von einer der kleineren Inseln wie Faial) durch.

Anlage: E-Mail der Deutschen Botschaft vom 19. März 2020

Der kommerzielle portugiesische Flugverkehr und die Fährschiffe (die sowieso nur zwischen den Inseln und nicht bis nach Europa fahren) waren, wie erwähnt, eingestellt. Nach Faial kam lediglich einmal in der Woche ein Frachtschiff, das Lebensmittel, Bier und Toilettenpapier brachte. Die Insulaner melkten Kühe, machten Käse und fingen Fische und teilten die so gewonnene Nahrung großzügig mit mir, dem mit zwei für derartige Unternehmungen viel zu linken Händen ausgestatteten Besucher. 

Ich weiß nicht, wer sich willentlich und auf Dauer auf so eine Situation einließe, wie es die Definition des gewöhnlichen Aufenthalts erfordern würde. Naturgemäß gibt es seit dem Ende der Pestepidemien keine Rechtsprechung des Bundessozialgerichts mehr zu ähnlich gelagerten Fällen, doch kann ich mir nicht vorstellen, dass wegen weltweiter Seuchengefahr unfreiwillig und mit ungewissem Ausgang verlängerte Reisen, die man, so sehr man es auch möchte, nicht abbrechen kann, als “gewöhnlicher Aufenthalt” angesehen würden. 

10.

Ich verfolgte die Nachrichten und insbesondere die Mitteilungen auf der Website der Fluglinie SATA, die immer auf den jeweils folgenden Monat vertröstete. Ich e-mailte hin und her, Flüge wurden gebucht, storniert umgebucht, ausgesetzt, geändert, aber eigentlich waren alles Luftbuchungen, denn die Flugzeuge blieben auf dem Boden. 

Ich hatte SATA mehrfach mitgeteilt, dass ich gerne den erstmöglichen Flug nach Lissabon nehmen würde. (Von dort würde ich schon irgendwie nach Deutschland kommen, dachte ich mir damals noch, reichlich naiv und die auf dem Kontinent bestehenden Reisebeschränkungen nicht berücksichtigend.)

Auch dadurch wird deutlich, dass mein Aufenthalt auf Faial nicht auf Dauer angelegt war, in dieser Länge nicht freiwillig war, und dass ich dort weder Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen wollte.

Aber der erste mögliche Flug ging erst am 9. Juni 2020.

Ich hatte in jener Zeit unzähligen Schriftverkehr mit SATA, den ich nicht allen aufgehoben habe. Aber ich lege in Anlage einen E-Mail-Verkehr vom 24. Mai 2020 bis zum 11. Juni 2020 bei, aus dem das damalige Chaos sowie mein konsistenter Wunsch auf baldmöglichste Rückkehr auf den Kontinent deutlich werden.

11.

Aber das Chaos war noch nicht zu Ende, als ich am 9. Juni 2020 im Flugzeug saß: Schon während wir in der Luft waren, erfolgte eine Durchsage, dass die Regierung Portugals dem Flugzeug keine Landeerlaubnis erteilen würde. Anscheinend gab es damals Kompetenzkonflikte zwischen der Zentralregierung in Lissabon und der Regierung der Autonomen Region der Azoren. Das Flugzeug musste auf São Miguel, einer anderen Azoreninsel, notlanden, wo ich eine weitere Woche gefangen war und langsam aber sicher den Spaß an dieser Odyssee verlor, nicht zuletzt wegen der ständig steigenden Kosten für Umbuchungen und Stornierungen für die Weiterreise von Lissabon nach Deutschland.

12.

Der erste Flug von São Miguel nach Lissabon ging am 15. Juni 2020. Dort musste ich noch bis zum 18. Juni 2020 warten, bis ein leider sehr teurer Flug nach München ging. Aber ich hatte dann echt keine Nerven mehr, per Anhalter über etliche gesperrte Grenzen zu reisen. Auch der internationale Zugverkehr war in Portugal und Spanien komplett deaktiviert.

13.

Wenn Sie diese gesamte Reise als gewöhnlichen Aufenthalt ansehen, so ergeben sich daraus einige Fragen:

a) War der Aufenthalt in Lissabon für wenige Tage (sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückreise) Teil des gewöhnlichen Aufenthalts? Ich denke, das ist offensichtlich nicht der Fall, weil ich dort nur wenige Tage festhing, bis die Weiterreise stattfinden konnte. 

b) Vor der Ankunft auf Faial war ich eine Woche auf Pico unterwegs, wieder zur Recherche für Reisegeschichten. Dort hatte ich von Anfang an nur ein Bett in der Jugendherberge für eine Woche gebucht. Ein von Anfang an auf eine Woche begrenzter Aufenthalt kann eigentlich keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen und müsste daher herausgerechnet werden.

c) Falls Sie trotz allem davon ausgehen, dass ich auf Faial einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatte, stellt sich die Frage, wann dieser endete: Als ich die Deutsche Botschaft mit der Bitte um Aufnahme im Falle einer Evakuierung kontaktierte? Als ich den Rückflug bei SATA buchte? (Wobei ich schon gerne viel früher gebucht hätte, aber nicht konnte.) Begründet eine Notlandung mit einwöchigem Zwangsaufenthalt einen gewöhnlichen Aufenthalt? Oder beendet spätestens diese den gewöhnlichen Aufenthalt auf Faial? Können mehrere Aufenthalte in verschiedenen Orten unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen zu einem gewöhnlichen Aufenthalt zusammengerechnet werden? Ich denke nicht. Dass in Ihren Bescheiden einmal auf den “gewöhnlichen Aufenthalt” und einmal auf den “Aufenthalt” rekurriert wird, legt nahe, dass eine intensive Beschäftigung mit diesen Begriffen nicht stattgefunden hat.

14.

Letzteres hätte sich vielleicht vermeiden lassen, wenn ich in der telefonischen Anhörung durch Herrn H. am 17. September 2020 darauf hingewiesen worden wäre, dass Sie meine kleine Abenteuerreise als Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts ansehen, und dementsprechend reagieren hätte können.

Aber Herr H. äußerte in diesem Telefonat ausschließlich Bedenken anderer Art:

a) Er erinnerte daran, dass ich gemäß der Eingliederungsvereinbarung vom 4. Februar 2020 eine Ortsabwesenheit genehmigen zu lassen habe.

Das habe ich nicht gemacht, und zwar aus den oben unter II. 3. angeführten Gründen.

Dieser Vorhalt lässt in mir den Verdacht reifen, dass der Bescheid in Wirklichkeit eine Sanktion wegen eines Verstoßes gegen die Eingliederungsvereinbarung ist, der sich, weil Sanktionen während der Corona-Pandemie ausgesetzt wurden und Kürzungen um 100% nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt sind, im Gewand einer Entscheidung aufgrund meines angeblich verlagerten gewöhnlichen Aufenthalts kleidet.

b) Der zweite Vorhalt bezog sich auf meine Erreichbarkeit. Konkret fragte Herr H., was ich gemacht hätte, wenn ich während meiner Zeit auf Faial eine Vorladung ins Jobcenter bekommen hätte.

Das ist zum einen eine hypothetische Frage, also irrelevant. 

Zum anderen war schon zum Zeitpunkt meiner Reise bekannt, dass es auf absehbare Zeit keine persönliche Vorsprache bei der Agentur für Arbeit mehr geben würde. Da dies wohl noch für einige Monate so bleiben wird, könnte ich eigentlich schon wieder den Rucksack packen, wenn nicht epidemiologische Vorsicht und Vernunft mich davon abhielten.

15.

Die Rechtsprechung zum Zivilrecht hat, insbesondere wegen der Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts für das Internationale Privatrecht, diesen Begriff noch weiter konkretisiert als die sozialgerichtliche Rechtsprechung.

Dort wird für die Begründung eines neuen gewöhnlichen Aufenthalts verlangt, dass der Aufenthalt am neuen Ort auf eine längere Dauer angelegt ist und dass der neue Aufenthaltsort künftig anstelle des bisherigen Daseinsmittelpunkt sein soll (Bamberger/Roth, BGB, Band 3, Art. 5 EGBGB Rn. 14 m.w.N. in Fn. 43). Beides war bei mir weder subjektiv noch objektiv der Fall. Der Rückkehrwille nach Deutschland und konkret nach Ammerthal stand nie außer Frage. Ich hatte auf Faial keinerlei soziale oder wirtschaftliche Integration, sondern blieb während des gesamten Aufenthalts Gast.

Als zeitliche Faustregel für die Eingliederung in eine neue Umwelt werden 6 Monate angesehen (Bamberger/Roth Art. 5 EGBGB Rn. 14 m.w.N. in Fn. 44). Solch eine lange Abwesenheit habe ich nicht einmal annähernd geplant, und selbst die unfreiwillige Dauer meiner Reise betrug nur die Hälfte davon.

Wie im Sozialrecht ist auch im Zivilrecht geklärt, dass selbst längere Auslandsaufenthalte, die von vornherein zeitlich begrenzt sind, nicht notwendig einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen (Bamberger/Roth Art. 5 EGBGB Rn. 14). Das gleiche gilt für Zwangsaufenthalte (Bamberger/Roth, BGB, Band 1, § 7 BGB Rn. 13).

16.

Ich halte es nicht für hilfreich, wenn sozialrechtlich mein gewöhnlicher Aufenthalt in Portugal festgestellt wird, während das Finanzamt sicher nicht davon ausgeht, dass ich durch Auslandsreisen in dieser Zeit nicht in Deutschland steuerpflichtig wäre (das wäre allzu einfach). So ergäben sich sozialrechtlich und steuerrechtlich vollkommen unterschiedliche Einkommen. Und würde sich die Krankenkasse an Ihre Entscheidung gebunden fühlen und von mir für diese Zeit keine Beiträge verlangen bzw. diese an die Agentur für Arbeit zurückerstatten? Was ist mit den Stimmen, die ich bei der Kommunalwahl in Bayern abgegeben habe, die am 15. März 2020 und mithin während meines Aufenthalts in Portugal stattfand? Muss die Wahl wiederholt werden? 

Solch eine Entscheidung ist wie das Öffnen der Büchse der Pandora. Und das ist das letzte, was die Menschheit in diesem Jahr braucht, denn aus jener Büchse kommt selten etwas Gutes. Im konkreten Fall fürchte ich, dass daraus ein Bürokratiemonster herauskriecht, das gleich der Hydra für jeden abgeschlagenen zwei neue paragraphenspeiende Köpfe bildet.

Meine fortgesetzte Hochachtung versichernd, verbleibe ich mit den freundlichsten Grüßen,

Andreas Moser


Na, das liest sich doch gar nicht so trocken wie befürchtet, oder? Und erfolgreich war es auch. Für die drei Monate bekam ich 43,20 € zurückerstattet. Mittlerweile hat mich übrigens die Künstlersozialkasse nach einem ähnlich kreativen Schriftwechsel als Lebenskünstler anerkannt und aufgenommen. Dafür muss ich aber jedes Jahr ein Buch schreiben und veröffentlichen. Schade eigentlich, dass ich der Hilfe durch das Arbeitsamt jetzt nicht mehr bedarf, denn spätestens wenn sie mich zu den berüchtigten Fortbildungsmaßnahmen schicken würden, ergäben sich die absurden Geschichten ganz von selbst. So ein System muss von Zeit zu Zeit mit Menschen konfrontiert werden, die es nicht allzu ernst nehmen.

Falls jemand hier ist, um sich eine Anleitung zu einem erfolgreichen Widerspruch gegen das Arbeitsamt oder andere Behörden zu holen, gebe ich gerne ein paar Tipps:

  • Studiert Jura. Aber richtig, mit zwei Staatsexamen. Nicht so Fachhochschule oder Aufbaukurs im Völkerrecht. Das ist ein Unterschied wie zwischen Navy SEALs und THW.
  • Bleibt höflich.
  • Eine klare Gliederung im Schriftsatz zwingt zum strukturierten Denken. Wer nicht strukturiert denkt, soll andere nicht mit den halbgaren Ergebnissen behelligen.
  • Macht es dem Leser so einfach wie möglich. Dokumente, auf die Ihr Euch bezieht, werden beigefügt. Paragraphen oder Urteile werden konkret zitiert.
  • Ihr habt gemerkt, dass ich kein einziges Mal auf das Grundgesetz, Grund- oder Menschenrechte rekurriert habe. Vielleicht verstößt die Ortsanwesenheitspflicht im SGB II gegen Art. 11 I GG, aber das wird der Sachbearbeiter nicht entscheiden. Hebt Euch das fürs Bundesverfassungsgericht auf.
  • Humor! Die armen Leute bei den Behörden lesen manchmal jahrelang nichts Lustiges, keine einzige Seite. Mit ein bisschen Humor stecht Ihr aus der Menge der Antragsteller hervor. (Mit Humor bin ich sogar an einen frühen Impftermin gekommen.)
  • Argumentiert so konkret wie möglich. Nicht „das ganze Gesetz ist ein ungerechter Scheiß“, sondern „das Gesetz findet in diesem konkreten Fall keine Anwendung, weil erstens, zweitens, drittens.“ Kein Sachbearbeiter wird ein Gesetz für nichtig erklären. (Außer dieser eine blöde Richter in Weimar.) Zeigt den Weg auf, die Nichtanwendung des Gesetzes aus dem Gesetz selbst abzuleiten.

Und nein, ich habe nicht vor, wieder als Rechtsanwalt zu arbeiten. Tut mir leid. Vielleicht wenn ich 60 oder 65 bin, aber vorher gibt es noch Wichtigeres als Arbeit.

Übrigens: Wenn Euch sauer aufgestoßen ist, dass Eure Steuergelder meine Krankenversicherung finanzieren, Ihr Euch aber nicht im geringsten daran stört, dass Ihr ebenso mein Gymnasium, mein Jura-Studium, mein Referendariat und über Prozesskostenhilfe einen erheblichen Teil meiner Anwaltskarriere finanziert habt, dann liegt das wahrscheinlich am Klassismus. Diese tief verwurzelte Diskriminierung führt dazu, dass man Reichen durchgehen lässt, was man Armen vorwirft. So regen sich die Leute z.B. über den Armen auf, der für 60 € auf die Azoren fliegt, aber nicht über die Milliardensubventionen für Flughäfen, Fluglinien und Flugzeughersteller.

Um in der Künstlersozialkasse zu verbleiben, muss ich durch den Blog oder andere publizistische Tätigkeiten monatlich mindestens 325 € verdienen. Deshalb freue ich mich weiterhin um jede Unterstützung. Vielen Dank! Allerdings gibt es selbst in unserem reichen Land Millionen von Menschen, die es viel dringender benötigen. (Eine interessante Beobachtung, die ich machte: Ab dem Moment, in dem ich selbst ALG II bezog, wurde ich gegenüber Bettlern und Obdachlosen spürbar freigiebiger.)

Über Andreas Moser

Travelling the world and writing about it. I have degrees in law and philosophy, but I'd much rather be a writer, a spy or a hobo.
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24 Antworten zu Der Antagonismus zwischen Arbeitsamt und Auslandsaufenthalt

  1. Xeniana schreibt:

    Diesen Antagonismus war ich auch Mal ausgesetzt. Furchtbar…

    • Andreas Moser schreibt:

      Und ich kann mir vorstellen, dass das jenseits von Corona-Zeiten und wenn man nicht selbständig tätig (und nur „Aufstocker“ ist), noch viel schlimmer ist.

      Aber selbst dieser Mini-Einblick hat mich davon überzeugt: Die Sanktionen müssen weg. Das ist so eine überflüssige Gängelei, nur um für ein paar Wochen/Monate den Bezug streichen zu können.

      Ja, ohne Sanktionen wäre ALG II praktisch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Aber wer mit 446 € im Monat leben kann, der soll das tun.
      Als lebenslange Lösung werden das die wenigsten anstreben.

  2. Mano schreibt:

    Respekt, wie lange hast Du als Volljurist für den Widerspruch gebraucht? Und währenddessen: ein schelmisches Lächeln oder eher latente Gereiztheit? 🙂

    • Andreas Moser schreibt:

      Daran habe ich einen vollen Arbeitstag gearbeitet, ich hatte allerdings auch vorher nie mit Sozialrecht zu tun.

      Wenn ich mal anfange zu schreiben und nebenbei Schostakowitsch läuft, um in den nötigen Schwung zu kommen, dann macht das Schreiben durchaus Spaß. Also sicher öfter gelächelt (und wahrscheinlich schon damals an eine mögliche Veröffentlichung gedacht).

  3. Unter diesen Umständen kann ich mich sogar für Jura erwärmen. Und die Umständlichkeit des ganzen Procedere bestärkt mich in meiner Haltung zum bedingungslosen Grundeinkommen.

    • Andreas Moser schreibt:

      Schade, dass ich gar nicht querulatorisch veranlagt bin, sonst könnte ich öfter solche Schriftsätze bieten.

      Ein Teil von mir hat schon darauf gewartet, vom Arbeitsamt zu 20 Bewerbungen pro Monat verdonnert zu werden. Da hätte ich mich auch richtig ausgetobt. 🙂

      Und natürlich bei den berüchtigten Fortbildungen des Arbeitsamtes.
      Also, wenn hier jemand mitliest, der/die zu so einem Kurs muss und keine Lust hat: Gebt Bescheid, ich gehe gerne an Eurer Stelle hin.

      Ich finde das ganze Verfahren vor allem hart, wenn man bedenkt, dass die meisten Antragsteller/Kunden nicht über meine Erfahrung im Lesen von Behördenschreiben, geschweige denn im Recherchieren von Gesetzen und Verfassen eines Widerspruchs verfügen. Ich bin mir sicher, viele andere hätten sich die Kürzung gefallen lassen oder wären im Widerspruchsverfahren nicht erfolgreich gewesen.
      Die Erfolgsquote bei Widerspruchsverfahren (33%) und bei Klagen (40%, Quelle jeweils: https://www.hartziv.org/news/20200113-hartz-iv-wahnsinn-100-000-klagen-gegen-jobcenter.html ) zeigt, dass da einiges schief läuft. Oder absichtlich nicht ganz korrekt läuft.

      Und dass nicht alle Kunden so nett behandelt werden wie ein mehrfach studierter, sich gut artikulierender weißer Mann, kann man sich auch vorstellen.

      Ich finde auch, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen (meinetwegen auch relativ niedrig, so dass fast jeder noch Anreize zum Hinzuverdienst hat und dass hoffentlich die Mieten mal wieder sinken) angebracht wäre. Ich glaube, die Leute, die beim Jobcenter arbeiten, würden ja auch gerne etwas anderes machen. (Vielleicht haben sie mir deshalb das Housesitting auf den Azoren nicht gegönnt.)

  4. tinderness schreibt:

    Ein wunderbar langes, stringentes und interessantes Stück Blog. Langsam werde ich zum Fan!

    • Andreas Moser schreibt:

      Oh, vielen Dank!

      Ich habe länger mit mir gerungen, ob ich es veröffentlichen soll. Zum einen, weil sich die Idee von Behördenkorrespondenz auf den ersten Blick ja nicht gerade spannend anhört.
      Aber ich hoffe, es ist gelungen, zu zeigen, dass Jura auch interessant und sogar amüsant sein kann.

      Zum anderen ist der Bezug von Sozialleistungen mit so einem Stigma verbunden, dass die wenigsten von sich aus darüber sprechen. Obwohl es gerade während der Corona-Pandemie viele Solo-Selbständige getroffen hat.

      Aber ich habe gemerkt, dass ich – obwohl ich vorher auch nicht finanziell auf Rosen gebettet war – mit dem Bezug von ALG II plötzlich anders über Klassenunterschiede nachdachte. Wie schon geschrieben, ich habe plötzlich viel bereitwilliger an Bettler gegeben.

      Und weil sich meine Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt mit der Corona-Pandemie überschnitten hat, habe ich noch einmal einen anderen Blick auf tiefe ökonomische Gräben bekommen.
      Wenn zB die Frage von Impfpriviligien anhand von Kreuzfahrten, Konzerten oder Restaurantbesuchen diskutiert wird, dann wird vollkommen übersehen, dass all das sowieso schon Privilegien sind, die einem erheblichen Teil der Bevölkerung immer versagt waren.

      Oder das Gefühl des „Eingesperrtseins“, weil man nicht Reisen kann. Wie beschrieben, wer dem SGB II unterliegt, muss jede Ortsabwesenheit (selbst wenn es dabei nicht ins Ausland geht) vorher genehmigen lassen. Was das bringen soll, wo man doch per Handy überall erreichbar bleibt, ist mir unklar.

      Aber die Zeit der pandemiebedingten Einschränkungen war auch eine entspannende Zeit, fand ich. Man war nicht mehr unter Druck, ständig aktiv und produktiv und erfolgreich zu sein, ständig Spaß zu haben und zu konsumieren.

      Ein Beispiel: Für Arme ist die Öffnung der Gastronomie eine zweischneidige Sache. Jetzt beginnt wieder das Sich-Erklären-Müssen bzw. die Ausreden:
      – Du, ich hab schon gegessen.
      – Ich bin zur Zeit auf Diät.
      – Ich bin jetzt Vegetarier.
      – Wollen wir uns eine Pizza teilen?
      – Ein Glas Wasser reicht auch.

      Und über solche Dinge, habe ich gemerkt, muss man schreiben, weil das niemand von selbst merkt. Ich hab’s ausprobiert. Aber viele können sich gar nicht vorstellen, dass jemand weniger Geld hat als sie selbst.

  5. Kasia schreibt:

    Waren diese Totalkürzungen nicht mal für rechtswidrig bzw. verfassungswidrig erklärt worden? Mir war so als ob…

    • Andreas Moser schreibt:

      Ja, da hast du absolut recht!
      So entschieden vom Bundesverfassungsgericht im November 2019: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html

      Und genau deshalb hatte ich auch den in Punkt II. 14. a. geäußerten Verdacht, dass das Argument mit dem angeblich verlagerten Wohnsitz dazu dienen sollte, das Verbot der Totalstreichung von Leistungen zu umgehen.

      Aber während der Corona-Pandemie waren die Sanktionen eigentlich sowieso ausgesetzt. Für die Empfänger von ALG II war das also mal eine kleine Verschnaufpause.

    • Kasia schreibt:

      Vieles von den Anforderungen der Ämter ist mir gar nicht mehr bewusst, auch wenn wir selber mal vor Jahren in der „Verlegenheit“ waren, Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Ich weiß nur, dass meine Mutter lieber drei Jobs hatte anstatt noch einmal zum Amt zu gehen. Das wird wohl die hintergründige Absicht hinter solchen „Maßnahmen“ sein.

    • Andreas Moser schreibt:

      Das kann ich verstehen, obwohl ich das Amt nur in der Zeit kennengelernt habe, in der es noch relativ locker zuging (wegen Corona keine Sanktionen, keine persönlichen Vorladungen nach der Erstberatung, keine Maßnahmen wie Schulungen oder so).

      Wenn mir mal extrem langweilig ist, schaue ich mir das vielleicht mal wieder an – nur, um einen Artikel darüber zu schreiben. 🙂

    • Kasia schreibt:

      Nimm vor allem die Schulungen unter die Lupe, eine Freundin hatte mir mal erzählt, die bieten da solche Sachen wie Alpaka-Wanderungen, kein Witz… ob da was dran ist? 🙂

    • Andreas Moser schreibt:

      Kurze Recherche…
      Ja, das gab’s:

  6. Anne Sirk schreibt:

    Hallo Andreas, sehr interessant zu lesen, deine Kämpfe mit dem Arbeitsamt. Auch bei mir war das Corona-Jahr das Premierenjahr für ALG I (hatte zuvor einen befristeten Job, der geplant und gewollt Ende April 2020 zu Ende ging). Was ich anfangs für dämliches Timing hielt, hat sich dann eigentlich als Glück rausgestellt, weil ich mich so anders als geplant nicht in Tschechien sondern wieder in Deutschland selbstständig gemeldet hab und dafür bis heute einen sogenannten „Gründerzuschuss“ erhalte. Für mich, die ich 1000 Euro pro Monat als Großverdienst erachte, war und ist das eine ziemliche Finanzdusche. Und die Aufnahme in die Künstlerkasse hat (nach ebenfalls viel Nachweiserei und Geschreibe) dann auch funktioniert.
    Was ich ein wenig schwierig fand in deinem Text, war der Umgang mit dem Begriff „arm“. Klar, du scheinst mit einem geringen Monatsverdienst zurechtzukommen und bist beim deutschen Median-Einkommen sicher ganz unten anzusiedeln. Aber wenn ich das richtig erschließe, hast du doch einen Wohnort in Deutschland, zu dem du immer und jederzeit zurückkehren kannst, und der dich keine Miete kostet. Und wahrscheinlich, wenn du dir Zahnbehandlungen mal so selbst finanzieren kannst, hast du auch einen kleinen Notgroschen, der dich überhaupt erst in die Lage bringt, so unabhängig zu reisen und das Risiko ohne Krankenversicherung auf dich zu nehmen. Das ist etwas, was dich meiner Meinung nach schon von einem „armen“ Menschen unterscheidet, der wegen des fehlenden Notgroschens und des fehlenden Rückzugsorts dann einfach gezwungen ist, irgendeinen Job anzunehmen, um halt die Krankenkasse sicher zu stellen.
    – Beim nochmaligen Überfliegen bin ich mir jetzt aber gar nicht mehr sicher, ob du dich selbst als „Arm“ bezeichnest, oder nur auf „Arme“ hinweist. Wie war’s gemeint?

    • Andreas Moser schreibt:

      Glückwunsch zur Aufnahme in die KSK!
      Und ja, man lebt wirklich entspannter, wenn man gar nicht so viel braucht. Ich wundere mich immer über Leute, die 3500 € netto verdienen und denken, sie seien akut armutsbedroht.

      Zu mir persönlich: Ja, ich bin da zugegeben privilegiert, weil ich keine Miete zahle, sondern übers Housesitting umsonst wohne und zwischen den Reisen bei meinen Eltern unterkomme. Mietfrei natürlich.
      Notgroschen habe ich ehrlich gesagt keinen wesentlichen. Für die Zahnbehandlung (die in Litauen zum Glück nicht so teuer war), musste ich damals einen schrecklichen Übersetzungsauftrag annehmen und ein selbstverlegtes Buch für 3 Cent pro Wort ins Englische übersetzen, was hoffentlich nie irgend jemand gelesen hat, weder auf Deutsch noch auf Englisch.
      Aber auch die Möglichkeit, solche Aufträge zu bekommen, ist eigentlich ein Privileg.

      Wenn ich den Begriff „arm“ oder „Armut“ verwende, geht es mir mehr darum, ihn in der Diskussion zu halten.
      Aber wenn ich merke, dass meine ganzen Mittelschichtsfreunde sich gar nicht vorstellen können, dass jemand nicht jeden Tag Essen bestellen kann, oder sich nicht spontan ein Flugticket leisten kann, dann bezeichne ich mich manchmal selbst als „arm“, um die Leute darauf hinzuweisen, dass es so etwas überhaupt gibt. Das führt dann allerdings meist dazu, dass die Leute nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. :/

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  9. bekitschig schreibt:

    Das war wirklich beeindruckend. Ich musste mal zurückzahlen … Ein Hoch auf die KSK! Ich würde lieber Regale einräumen, als jemals wieder zum Amt zu gehen.
    Schön, dass es noch Lebenskünstler gibt!

    • Andreas Moser schreibt:

      Und gerade kam ein Brief von der KSK, dass die monatlichen Beiträge für dieses Jahr um 8 € sinken. Wo gibt es denn sowas, dass man plötzlich weniger zahlen muss?
      Ist echt ein toller Verein! (Von dem ich viel zu spät erfahren habe, interessanterweise von ausländischen Künstlern, die die deutsche KSK lobten.)

      Meine Erfahrung mit dem Arbeitsamt war gar nicht sooo schlimm, aber ich hatte das Glück, diese Behörde nur während der Corona-Pandemie kennenzulernen, wo sie vergleichsweise locker waren.

      Wenn ich wo wohnen würde, wo es Arbeit gibt, würde ich aber auch lieber im Hafen Kisten schleppen oder so. Die wenigen Monate im Jahr, in denen ich sesshaft bin, verbringe ich aber leider in einem ganz kleinen Dorf, wo es nur Arbeit für Bagger- und LKW-Fahrer gibt. Solche Maschinen vertraut mir niemand an, und ich kann es ihnen nicht einmal übel nehmen.

      Und bei der Fremdenlegion hat es auch nicht geklappt:
      https://andreas-moser.blog/2020/04/25/fremdenlegion/

      Vielleicht sollte ich mich mal nach so Erdbeerfarmen umsehen, wo man auf der Plantage wohnen kann.

  10. bekitschig schreibt:

    Ui, da würde ich dir von abraten. Da wohnst du dann mit lauter veganen Australiern und wenn du Pech hast, nimmst du die mit zurück und die wohnen dann für Monate auf deiner Couch. Die halten sich für Aussteiger und rufen Papa an, wenn das Geld knapp wird …

    Klassiker wie Glühwein verkaufen, Flaschen sammeln, Nachhilfe auf die Hand oder (neu) Essen auf dem Fahrrad ausfahren fallen auf dem Dorf wahrscheinlich auch alle weg?!? Vielleicht einen Platz für hippe Wohnmobile aus dem Boden stampfen? Oder Lokalpolitik? Dann vielleicht doch alles so lassen, wie es ist.

    • Andreas Moser schreibt:

      Oje, wenn da lauter Hippies sind, dann wandere ich doch lieber in einen richtigen Kibbuz aus.

      Das Dorf ist so weit weg von der nächsten Pizzeria, da wäre die Pizza schon lange kalt, wenn sie mit dem Fahrrad kommt. Und wenn ich Platz für Wohnmobile hätte, würde ich den ja einfach verkaufen und mich aus dem Staub machen. 😉
      Lokalpolitik habe ich sogar mal versucht, wurde aber nie gewählt. Kommt auch nicht so gut, wenn man immer schreibt, dass es einem überall anders besser gefällt als in dem Kaff, in dem man zufällig geboren wurde. Und außerdem wäre ich ja nie da zu den Sitzungen, weil ich gerade nach Kirgistan trampe oder mit dem Zug durch die Anden fahre oder so.

      Ich fürchte, am Ende bleibt nur, Bücher zu schreiben. Oder Bundeswehr.

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