Wie gewohnt, wird es ein paar Wochen oder Monate dauern, bis ich die Eindrücke und Erfahrungen sowie – zum Leidwesen mancher in der Leserschaft – das ganze angelesene Wissen über die Geschichte Estlands sowie des konkreten Eilands in einen wohlgeformten Artikel bringen werde.
Aber als Vorgeschmack hier ein paar Fotos sowie die erste Einschätzung: Diese Insel ist das Paradies!
Wirklich, ich komme oft aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und falle erschöpft vor Glückseligkeit ins saftige Gras. Letzteres kann allerdings auch daran liegen, dass ich das Fahrradfahren nicht mehr gewohnt bin.
Jedenfalls habe ich den Urlaub spontan um eine Woche verlängert.
Wenn die Menschen hier nicht so friedlich wären, weshalb es leider gar keinen Bedarf für Rechtsanwälte gibt, hätte ich mich gleich niedergelassen. Aber so freue ich mich, dass Saaremaa sehr groß und meine Radfahrermuskeln sehr schwach sind. Denn das bedeutet, dass ich noch viele Male wiederkommen muss, um die Insel wirklich rundherum zu erkunden.
Und Ihr könnt Euch schon freuen auf den ausführlichen Artikel sowie auf eine Postkarte!
Also habe ich mir aus den vermeintlichen Mittelpunkten Europas denjenigen herausgesucht, den ich unbesehen für den schönsten und traumhaftesten von allen vermute: die Insel Saaremaa vor der Küste Estlands.
Vor etlichen Jahren war ich bereits auf der kleineren Nachbarinsel Hiiumaa. Ein absoluter Geheimtipp für alle, die etwas gegen den Overtourism unternehmen wollen.
Damals war Ende Oktober, und es hatte gerade geschneit. Deshalb fahre ich dieses Mal im September, wenn noch bestes Badewetter ist, wie die folgenden Videos zeigen:
Na gut, vielleicht packe ich doch besser einen Pullover ein.
Und wenn ich es mir recht überlege, gehe ich eigentlich sowieso lieber Wandern als Schwimmen.
Am meisten gespannt bin ich auf die Ruhe. Saaremaa ist größer als das Saarland, aber es leben nur 36.000 Menschen auf der Insel. Und von denen sind wahrscheinlich gerade die Hälfte zum Studium oder zum Arbeiten auf dem Festland.
Außerdem freue ich mich darauf, dass es auf einer überwiegend menschenleeren Insel sicher kein Mobilfunknetz und kein Internet gibt. Ich habe bereits einen Rucksack voller Bücher gepackt und sehne mich nach einer analogen Auszeit von allen Problemen dieser Welt. (Wenn nicht gerade wieder irgendeine depperte Großmacht auf Saaremaa einfällt.)
Bis Ende September wird hier also Funkstille herrschen.
Aber danach gibt es hoffentlich wieder regelmäßiger etwas zu lesen. Ich habe nämlich bis Ende des Jahres einen Aufnahmestopp für neue Mandanten verhängt, um mehr Zeit zum Schreiben – und zum Studieren – zu finden. Ich dachte mir, im grauen Herbst und im kalten Winter habt Ihr die Reiseberichte aus aller Welt nötiger als jetzt im Sommer. Zumindest geht es mir so.
Bei der Ankunft in Bolivien war die Ankunftshalle des Flughafens in Cochabamba so voll, dass die Polizisten einfach laut in den Saal riefen: „Wer ist von hier?“ Wer die Hand und seinen Pass hob, konnte ohne Kontrolle durchmarschieren. Es war ein Zugeständnis an den späten Abend und an die gestressten Reisenden, die nach Flügen um die halbe Welt einfach nur ins Bett fallen wollten.
Ich hätte mich jener Menge anschließen sollen, aber damals traute ich mir noch nicht zu, als Bolivianer durchzugehen.
Also erhielt ich am Flughafen ein einmonatiges Touristenvisum. Kostenlos. Dieses konnte durch einen Besuch bei der Ausländerbehörde zweimal um je einen Monat verlängert werden. Meine bolivianischen Freunde rieten mir, ein paar Bücher und eine Flasche Wasser mit- und den Tag freizunehmen, da ich bei der Behörde mindestens einen halben Tag warten werde müssen. In Wirklichkeit geht man direkt zu dem freundlichen Mann am Schalter Nr. 6, und bevor man sich hinsetzen und seinen Wunsch nach einem weiteren Monat Aufenthalt zum Ausdruck bringen kann, hat er schon den Pass genommen und die Verlängerung hineingestempelt. „Wieviel kostet das?“ fragte ich. „Nichts. Genießen Sie Ihre Zeit in Bolivien.“
Drei Monate pro Jahr sind allerdings das Maximum, was ein Touristenvisum hergibt. Als ich länger in Bolivien bleiben wollte, wurde ich überwältigt mit Angeboten für Arbeitsverträge, Freiwilligenstellen und mit Heiratsanträgen, um mir eine Aufenthaltserlaubnis zu besorgen. Es war auch überraschend, wieviele Leute behaupten konnten „der Chef der Ausländerbehörde ist mein Freund“ oder wieviele Menschen „eine Schwägerin an der Spitze des Innenministeriums“ hatten.
Aber ich wollte nichts Zwielichtiges tun. Außerdem war ich freudig erregt von der Aussicht, verhaftet zu werden und mir die berühmten Gefängnisse Boliviens aus der Nähe anzusehen. Einmal, als mein Visum schon ausgelaufen war, geriet ich in eine Polizeikontrolle. Ich hoffte schon, in einem vergitterten Minibus abtransportiert zu werden und nähere Einblicke in ein südamerikanisches Justizsystem zu bekommen. Der Beamte untersuchte meinen Pass sorgfältig, sah mich an, sah sorgenvoll auf das Visum, sah mich wieder an und gab mir den Pass mit den Worten zurück: „Schön, dass Ihnen Bolivien so gut gefällt, Señor.“
Ich blieb vier weitere Monate im Land. Illegal. Von nun an denkt bitte daran, dass es Menschen wie ich sind, von denen Ihr sprecht, wenn Ihr mal wieder über „illegale Einwanderer“ herzieht.
Bolivien ist nicht nur freundlich zu Besuchern, sondern auch schlau. Anstatt Einwanderer einzusperren, Stacheldrahtzäune zu errichten oder Menschen abzuschieben, was alles Unmengen an Geld kostet, erhebt Bolivien einfach eine Geldstrafe.
Also arbeitete ich einige Monate fast rund um die Uhr, bis ich Tausende von Bolivianos angespart hatte. Am Tag vor meiner geplanten Ausreise ging ich zur Ausländerbehörde in La Paz, die Jackentaschen gefüllt mit dicken Geldbündeln, um meine Strafe zu bezahlen.
Ich war sehr nervös. Schließlich war ich in einem fremden Land, ich hatte eine Straftat begangen, ich war auf dem Weg in die zur Verfolgung dieser Straftaten zuständigen Behörde, und ich musste das alles auf Spanisch erklären.
Vor dem Tor der Migrationsbehörde stand ein Soldat, der mir erklärte, dass Mittwoch nachmittags leider für den Publikumsverkehr geschlossen sei.
„Oh“, entfuhr mir, „das ist traurig. Denn ich müsste noch eine Strafe bezahlen, bevor ich morgen ausreise.“ Zum hundertsten Mal im Leben nahm ich mir vor, nicht immer mit allem bis zum letzten Tag zu warten.
Egal was Tucholsky über die Soldaten gesagt hat, dieser hier war nett. Er erkannte meine selbstverschuldete Notlage und sagte: „Na, dann kommen Sie mal mit rein, und wir sehen, ob noch jemand da ist.“
Tatsächlich war an einem der Schalter noch ein einsamer Beamter, der sich darauf gefreut hatte, an einem besucherfreien Nachmittag endlich mal Akten sortieren oder die neuen Rundschreiben des Ministeriums lesen zu können.
Aber er war sehr freundlich, bot mir einen Platz und einen Tee an. Als ich begann, mich wortreich dafür zu entschuldigen, über die erlaubte Zeit in seinem Land gelebt zu haben, beruhigte er mich: „Señor, dafür müssen Sie sich doch nicht entschuldigen. Das kann jedem mal passieren.“ Immer wenn er merkte, dass ich nervös war, sagte er: „Machen Sie sich keine Sorgen“, wie wenn es darum ging, dass ich am Zebrastreifen aus Versehen nicht vom Fahrrad gestiegen wäre.
Zebrastreifen sind übrigens auch eine Erfindung aus Bolivien, aber das ist eine andere Geschichte.
Als der Beamte meinen Pass entgegennahm und sah, dass ich ganze vier Monate illegal im Land war, wurde auch er beunruhigt. Der Normalfall sind anscheinend Touristen, die ihren Flug verpassen oder sich im Urwald verlaufen, und ihr Visum deshalb um ein paar Tage überschreiten.
Sodann machte er sich an die Berechnung der fälligen Strafe. Bis dahin hatte ich überall verschiedene Zahlen gehört, von 20 bis 26 Bolivianos pro Tag.
Der Beamte nahm sich die Zeit, mir im Detail zu erklären, wie sich die Strafe berechnet. Um das zugunsten anderer Reisender ein für alle Mal klarzustellen: Die Strafe beträgt 12 UFV pro Tag. Ein UFV ist eine unidad de fomento de la vivienda, eine Rechnungseinheit, die eingeführt wurde, um die zu zahlenden Beträge inflationsunabhängig zu machen. Sie wird berechnet, indem man den Verbraucherpreisindex des gegenwärtigen Monats durch den Verbraucherpreisindex des gleichen Monats des vorangegangenen Jahres dividiert, von diesem Zwischenergebnis die 12. Wurzel nimmt, dann die n.te Wurzel berechnet, wobei n die Anzahl der Tage des gegenwärtigen Monats ist, und zuletzt multipliziert man dieses Ergebnis mit dem Wert des UFV vom Vortag.
Ich verstand nichts.
Der Beamte hatte einen Computer und einen Taschenrechner, verwendete aber lieber einen Bleistift und eine Menge Papier, um seine Berechnungen anzustellen. Nach 10 Minuten gab er bekannt, dass ich etwas mehr als 3.000 Bolivianos zu bezahlen hätte.
„Gut“, sagte ich, denn das war genau der Betrag, den ich angespart hatte. Nur ein Boliviano mehr, und ich hätte schon wieder eine Niere verkaufen müssen.
„Gar nicht gut“, sagte der Beamte, der von dem hohen Betrag sichtlich geschockt war.
„Das macht nichts. Ich wusste es ja vorher und habe entsprechend gespart.“ Jetzt musste ich ihn beruhigen, die Rollen hatten sich vertauscht.
„Aber die anderen Touristen zahlen immer nur eine ganz kleine Strafe.“ Er verwendete das Wort multita, den Diminutiv von multa. Man kann das schwer übersetzen, auch weil man sich keinen deutschen Beamten vorstellen kann, der von einem Geldsträfchen oder einem Geldbüßlein spricht. „Da wäre es doch ungerecht, wenn Sie so viel mehr bezahlen müssen.“
Mir fiel kein Argument mehr ein, außer darauf zu verweisen, dass ich das Geld schon dabei hatte und die gesamte Summe auf der Stelle bezahlen könne.
„Nein, nein“, wehrte er entsetzt ab, „lassen Sie uns erst einmal sehen, ob es nicht irgendeine Ausnahmevorschrift im Gesetz gibt. Eine Höchstgrenze vielleicht, so dass Sie nur für einen oder zwei Monate zahlen müssen.“
Er rief seinen Chef an.
Der Chef der Migrationsbehörde kam sofort herunter, begrüßte mich herzlich, sagte mir ebenfalls, dass ich mir keine Sorgen machen solle, und diskutierte den Fall dann mit seinem Beamten. Ich stand dabei, ein Gesetzesbrecher, während die beiden Gesetzeshüter darüber diskutierten, ob es nicht irgendwelche Ausnahmevorschriften im Gesetz gab, die man zu meinen Gunsten anwenden konnte. An ihren Gesichtsausdrücken merkte ich, dass es keine einfache Lösung gab.
Schließlich fragte mich der Chef, wie ich denn ausreisen werde. Mit dem Flugzeug oder mit dem Bus?
„Ich nehme den Bus nach Peru“, sagte ich.
„Sehr gut!“ rief er erleichtert aus. „Dann zahlen Sie jetzt nichts, und wenn Sie an der Grenze kontrolliert werden, dann können Sie immer noch dort bezahlen.“ Seine Hoffnung, dass ich irgendwie durchschlüpfen würde, verbarg er nur halbherzig hinter einem freundlichen Lächeln.
Ich weiß gar nicht, warum Menschen so schlecht auf Behörden zu sprechen sind. Die helfen einem da wirklich. (Auf dem Weg zur Grenze passierte dann ein ganz anderes Malheur. Das war selbst für mich ein bisschen viel für einen Tag. Aber da können die Behörden nichts dafür.)
Leider bin ich so ein Typ, der bei der Ausreise nicht einfach wortlos seinen Pass auf den Tresen legen kann, in der Hoffnung, dass niemand etwas merkt. Als ich den bolivianische Grenzposten in Kasani am Titicaca-See betrat, gab ich es gleich zu: „Ich glaube, ich muss eine Strafe bezahlen, bevor ich ausreisen darf.“
Weil alle anderen Fahrgäste des Busses weniger kriminell als ich und deshalb schnell abgefertigt waren, versammelten sich bald alle vier Schalterbeamten um mich, um meine Geschichte zu hören. „Wenn Ihnen Bolivien so gefällt, wieso haben Sie nicht einfach eine Bolivianerin geheiratet?“ schlug einer vor. Während sie mich ernsthaft interessiert über meine Reisen befragten, nahm einer von ihnen die gleiche, die selbe und die gleich komplizierte Berechnung von UFVs und Bolivianos vor.
Auch hier waren die Vertreter des Staates schockiert von der geschuldeten Summe, diskutierten untereinander und rechneten es mehrfach nach. Die Grenzbeamten hatten Smartphones mit Taschenrechner und Internet, womit sie die ganze Zeit mit ihren Frauen WhatsApp-Nachrichten austauschten, aber für die komplizierte Berechnung der 12. Wurzel von irgendwas bevorzugten sie auch hier Papier und Bleistift.
Auch hier diskutierten sie, ob es nicht irgendwelche Ausnahmen gäbe und ob man nicht etwas deichseln und drehen könne, bis einer die Idee hatte: „Lass uns doch mal bei der Zentrale in La Paz anrufen, vielleicht fällt denen was ein.“ Das war das Büro, wo ich am Tag zuvor gewesen war.
Ich weiß nicht, ob einer der beiden Männer von gestern am Telefon war, der sich noch an mich erinnern würde. Jedenfalls kam aus dem Ministerium der Befehl, keine Gnade gegenüber irgendwelchen Gringos walten zu lassen.
Die Grenzbeamten teilten mir mit, dass ich mit meiner Strafe von 3.082 Bolivianos leider nur die Silbermedaille erhalten würde. Einem anderen Reisenden hatten sie schon einmal mehr als 4.000 Bolivianos abgeknöpft. Ich war enttäuscht.
Das alles geschieht übrigens streng gemäß dem Legalitätsprinzip. Die Zahlung ist keine Bestechung. Man erhält eine Quittung, viel Händeschütteln, die besten Wünsche für die Reise. Außerdem den nützlichen Hinweis, dass man im gleichen Jahr zwar nicht mehr nach Bolivien einreisen darf, aber wie der Grenzbeamte es mit einem breiten Lächeln sagte: „Ab dem 1. Januar nächsten Jahres ist alles vergessen, und Sie sind wieder herzlich willkommen!“
Wie Ihr der Quittung entnehmen könnt, beging ich den „schwerwiegenden Verstoß“, mich „auf irreguläre Weise auf bolivianischem Territorium aufgehalten“ zu haben. Die Strafe dafür betrug 25,68 Bolivianos pro Tag. Das sind 3,34 Euro oder genau 100 Euro pro Monat. Nicht viel für das Leben im sympathischsten Land der Welt.
Im darauffolgenden Januar zog ich sofort wieder von Peru nach Bolivien. Den zweiten Aufenthalt überzog ich nur um eine Woche oder so, war aber wegen der kleinen Strafe nicht mehr im mindesten aufgeregt.
Aus dem Polizeibericht heißt diese Zeitungsparodie von Kurt Robitschek, veröffentlicht 1929. Anhand von sechs verschiedenen Meldungen über das gleiche nebensächliche Ereignis erhält man einen Überblick der Zeitungslandschaft in der Weimarer Republik:
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Telegramm 3986, aufgenommen 15.30 Uhr
Auf dem Kurfürstendamm an der Ecke Meinekestraße wurde gestern von dem Radfahrer Peter K. ein Hund unbestimmter Rasse angefahren. Nur dem Einschreiten unserer wackeren Schutzpolizei ist die Verhütung eines größeren Unfalls zu verdanken. Polizeipräsident Zörgiebel, Polizeivizepräsident Dr. Weiß und der Kommandeur der Schutzpolizei, Oberst Heimannsberg, weilten an der Unfallstelle.
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BERLINER TAGEBLATT
Der Kurfürstendamm liegt still und versonnen da. Denn die Republik ist gefestigt in ihren Grundlagen. Ein Radfahrer jubelt den Kurfürstendamm entlang. Mit weit ausgebreiteten Armen und ebensolchen Augen ruft er: „Zehn Jahre freiheitliche Verfassung!“ Da springt ein Hund aus dem fahrenden Autobus. Hund und Radfahrer jagen den Kurfürstendamm entlang, sie eilen, wenn es auch hier und da eine kleine Schramme gibt, in die glänzende Zukunft der deutschen Republik, von der schon Shakespeare so treffend sagte: „To be or not to be, singing fool, that is the question.“
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VOSSISCHE ZEITUNG
Kleine Ursachen – große Wirkungen.
Von Chefredakteur Professor Dr. h.c. G. B., MdR, Präsident des Vereins Berliner Presse, zweiter Vorsitzender des dritten Unterausschusses des Reichstages zur Aufdeckung der Brückenzölle, Vorstandsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei. Ein Hund ist gestern auf dem Kurfürstendamm angefahren worden. Von einem Radfahrer. Ein schwarzer Hund mit weißen Flecken. Der Vorfall wäre an und für sich ganz belanglos, wenn nicht ein kleiner Zwischenfall die politische Bedeutung des Ereignisses erwiesen hätte. Der schwarz-weiße Hund zeigte plötzlich auf dem überfahrenen Pfötchen einen roten Blutstropfen. Man beachte: Schwarzer Hund, weiß gefleckt, rotes Tröpfchen. Die Deutsche Demokratische Partei muss an den Herrn Reichsinnenminister einerseits schärfsten Protest richten, während sie dessen Vorgehen andererseits nur billigen kann. Die Deutsche Demokratische Partei ist sich dessen bewusst, dass es für sie nur einen Weg gibt: Einerseits – und hie und da auch andrerseits.
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BERLINER LOKAL-ANZEIGER
Radfahrer, Hunde und die deutsche Republik.
Wie viele tausend deutsche Herzmuskeln sitzen heute am sonnigen Eckfenster und gedenken des August vor fünfzehn Jahren! Wie waren damals die Straßen von jauchzenden, jubelnden, singenden Menschen erfüllt! Und heute? Radfahrer schleichen über den Asphalt der Straße. Gestern hat ein ausländischer Radfahrer den Hund eines Generals a. D. überfahren. Vor fünfzehn Jahren wäre das deutsche Volk wie ein Mann aufgestanden und hätte den ausländischen Radfahrer in hellem, männlichem Zorne hinweggefegt! Heute aber liegen unsere treuen Hündchen kraftlos am Boden, niedergeschmettert durch jene Schmachverträge, die uns immer wieder beweisen, dass an allem nur die Radfahrer schuld sind.
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DIE ROTE FAHNE
Arbeiter! Arbeiterinnen und Jugendliche! Werktätige und national Unterdrückte aller Länder! Auf dem Kurfürstendamm, jener Prunkstraße der satten Kapitalisten, auf der in kürzester Zeit die proletarische Revolution gegen die Imperialisten marschieren muss, hat ein Hund einen einfachen, proletarische Radfahrer überfallen! So fängt es an! Erst überfällt ein Hund den einzelnen Radfahrer, und dann vereinigen sich alle Hunde gegen die Sowjetunion! Es ist höchste Zeit zu handeln! Denn schon ersteht dem Hund vom Kurfürstendamm ein Helfer in der Person des Generals Tschiangkaischek, der die Ost- China Bahn den Händen der Sowjets entreißen und durch die Kantstraße auf den Alexanderplatz leiten will, wo Zörgiebel und seine Gummiknüppelgarden bereitstehen, um die proletarische Armee der Radfahrer den nationalfaschistischen Weltunterdrückern auszuliefern. Darum sei die Parole: Heraus aus den Betrieben! An die Bäume mit den Hunden! Es lebe die Diktatur der Radfahrer!
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VÖLKISCHER BEOBACHTER
Der gestrige Vorfall am Kurfürstendamm, dem ein aufrecht fahrender deutscher Radfahrer zum Opfer gefallen ist, hat gezeigt, welcher Werkzeuge sich die Weisen von Zion bedienen. Wieder ist ein Parteigenosse von einem krummbeinigen, o-füßigen Dackel bei Nacht und Nebel hinterrücks überfallen worden. Krummbeinig – das verrät die wahre Rasse dieser ostjüdischen Haustiere, die mit herabhängenden, gelockten Ohren am Rückenmark unserer Volksgenossen saugen und unserem deutschen Schäferhund den Knochen vor der Nase wegschnappen. Unser Führer Adolf Hitler spricht morgen im Sportpalast zu dieser nationalen Sache. Parteigenossen erscheinen in einfacher Feldausrüstung, mit Handgranaten und Flammenwerfern.
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ACHT-UHR-ABENDBLATT
Furchtbares Verkehrsunglück am Kurfürstendamm. Rasender Radfahrer zerfetzt das Straßenpflaster. Große Hundemassen schwer verletzt. Feuerwehr greift mit Alarmstufe zehn ein. Aus den Trümmern der Straße tragen Sanitätsleute den schwer verletzten Zwergdackel Peter von Strohlendorf, der sich jetzt mit der Niederschrift seiner Erlebnisse für die Leser des „Acht-Uhr-Abendblattes“ beschäftigen wird. Wir beginnen morgen mit der Veröffentlichung der Erinnerungen des Zwergdackels Peter von Strohlendorf unter dem Titel: „Aus den Geheimnissen der Hundehöfe – Als ich noch Ludendorffs Hund war.“
Als Rechtsanwalt bin ich ganz schlecht bei der Akquise von neuen Mandanten. Immer, wenn jemand wegen eines rechtlichen Problems anruft, ist meine erste Reaktion: „Da kenne ich mich nicht aus“, „keine Zeit“ oder „ich bin viel zu teuer“, weil ich instinktiv eine Abneigung gegen Arbeit hege. Außerdem habe ich ja auch wirklich eine Menge anderer Dinge zu tun, vom Geschichtsstudium bis zur Suche nach dem Mittelpunkt Europas.
Zum Glück bin ich nicht nur faul, sondern auch schlau. (Das wird übrigens, wenn man sich dereinst Kinder im Genlabor zusammenstellen kann, die Kombination sein, die die beste Garantie für ein glückliches Leben gewährt.) Und so bin ich auf die Idee gekommen, die häufigsten Fragen öffentlich, kostenlos und ein für alle Mal zu beantworten.
Kürzlich habe ich die wichtigsten Fragen zur Cannabis-Entkriminalisierung besprochen, aber heute wird es ernst. Ich nehme mir das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht vor, das im Juni 2024 in Kraft getreten ist. Die Kernpunkte dieser Reform sind die schnellere Einbürgerung und die Hinnahme von doppelter oder mehrfacher Staatsangehörigkeit. Das ist hoffentlich nicht nur für diejenigen von Interesse, die es persönlich betrifft (und wie sich zeigen wird, sind das nicht nur Ausländerinnen und Ausländer, sondern auch Deutsche), sondern auch für jene, die bei den regelmäßig auftretenden Debatten um den „Doppelpass“ etwas kompetenter mitreden oder zumindest den billigen Populismus einiger Politiker entlarven wollen.
Aber bevor wir in die Details einsteigen – und bevor sich alle, die schon immer den praktischen deutschen Pass haben wollten, zu früh freuen – muss ich die aktuelle Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes in den Kontext stellen:
Es gibt im Wesentlichen drei Wege zur deutschen Staatsangehörigkeit.
Der häufigste Weg ist durch Abstammung. Wenn man mindestens einen deutschen Elternteil hat, wird man automatisch Deutscher. Ohne eigenes Zutun und deshalb ohne jeglichen Grund für Nationalstolz. Wer mindestens einen deutschen Vor- oder Urahn hat, ist möglicherweise ebenfalls Deutscher. Da es im Laufe der Geschichte mehrere Wellen der Auswanderung aus Deutschland gegeben hat, gibt es Millionen von Menschen auf aller Welt, die aufgrund ihrer Abstammung bereits deutsche Staatsbürger sind. Die allermeisten davon wissen das gar nicht, zumindest bis sie mich kontaktieren und die freudige Nachricht vernehmen. (Überhaupt ist die Beauftragung eines Rechtsanwalts eine der sichersten Methoden zur Steigerung der Lebensfreude.)
Die Staatsbürgerschaft durch Abstammung wird durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts von 2024 nicht berührt.
Der zweite Weg ist die Wiedergutmachung. Das betrifft eine ganze Reihe von unterschiedlichen Fallgruppen, in denen Deutsche im Laufe des 20. Jahrhunderts die deutsche Staatsangehörigkeit verloren oder nicht erhalten haben. Diese Personen und ihre Nachkommen können mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Das ist im einzelnen wahnsinnig kompliziert, weshalb es dazu einen gesonderten Artikel gibt. Auch diese Fälle sind von der Reform aus dem Jahr 2024 nicht berührt.
Der dritte Weg ist die Einbürgerung. Das bedeutet, dass man nach Deutschland kommt (oder hier als Ausländer geboren wird), in Deutschland lebt und arbeitet, die deutsche Sprache lernt, den Einbürgerungstest besteht und dem Kaiser die ewige Treue schört. Halt, das wurde auch geändert, denn wir sind jetzt eine Republik.
Als im Staatsangehörigkeitsrecht tätiger Rechtsanwalt habe ich mit dieser letzten Gruppe am wenigsten zu tun. Denn das sind eigentlich unkomplizierte Fälle. Die Menschen erfüllen die Voraussetzungen, stellen einen Antrag und werden eingebürgert. Für die Einbürgerung bedarf es nur eines Rechtsanwalts, wenn es Probleme gibt. Das ist manchmal der Fall bei kleinen Vorstrafen (bei ernsthaften Vorstrafen scheidet die Einbürgerung sowieso aus), bei unklarer Aufenthaltsdauer in Deutschland (zählt die Entsendung ins Ausland durch den deutschen Arbeitgeber? was ist mit Erasmus-Semestern?), bei früherem oder aktuellem Bezug von Sozialleistungen und – bisher – beim Wunsch, die bisherige Staatsangehörigkeit behalten zu dürfen.
In den meisten Einbürgerungsfällen, wegen der ich kontaktiert werde, liegt das Problem gar nicht auf Seiten der Ausländer, sondern bei den deutschen Behörden. Die lassen sich nämlich sehr lange Zeit für die Bearbeitung dieser Anträge (bei Kommunen bis zu 4 Jahren, beim Bundesverwaltungsamt auch mal 6 Jahre), weigern sich dreist, Anträge entgegenzunehmen, oder sagen einfach: „In den nächsten 18 Monaten vergeben wir keine neuen Termine.“ Für den Ingenieur aus Indien, die Ärztin aus Syrien oder den Krankenpfleger aus Kolumbien, die geglaubt haben, dass Deutschland ein gut organisiertes Land sei, und die während der ganzen Zeit Steuern zahlen, ist das ein bisschen frustrierend.
Nur die Einbürgerung ist von den im Juni 2024 in Kraft getretenen Änderungen berührt. Wenn Ihr Euch für die deutsche Staatsbürgerschaft durch Abstammung oder durch Restitution interessiert und nach dem alten Recht eine negative Auskunft erhalten habt, könnt Ihr also aufhören, zu lesen. (Außer – und es tut mir leid, dass alles so kompliziert ist – wenn Ihr die negative Auskunft erhalten habt, bevor die Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts 2021 in Kraft getreten sind. In diesem Fall solltet Ihr Eure Situation unbedingt noch einmal überprüfen. Oder einen kompetenten Rechtsanwalt fragen.)
Aber jetzt steigen wir endlich ins Thema ein: Was hat sich 2024 im deutschen Staatsbürgerschaftsrecht geändert?
Doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeit:
Die wichtigste Änderung ist, dass Deutschland kein Problem mehr mit der der doppelten und mehrfachen Staatsangehörigkeit hat.
Das Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit hatte sowieso schon eine ganze Reihe von Ausnahmen, so dass zuletzt etwa 75% der Einbürgerungsbewerber ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten konnten. Außerdem entsprang es einem überkommenen Verständnis von Loyalität zu nur einem Staat, obwohl es heutzutage einfach mehr Menschen gibt, die familiär, beruflich oder mental eine Verbindung zu mehr als einem Land haben. Und wenn jemand von Geburt an mehrere Staatsangehörigkeiten hat (oft, ohne es zu wissen), kann man die Mehrstaatigkeit sowieso nicht verhindern.
Ab jetzt könnt Ihr Euch also in Deutschland einbürgern lassen, ohne Eure bisherige(n) Staatsangehörigkeit(en) aufgeben zu müssen. (Wenn Ihr wollt und wenn Euer Heimatstaat das zulässt, könnt Ihr sie natürlich immer noch freiwillig aufgeben.) Nur wenn Ihr aus einem Land kommt, das die doppelte Staatsangehörigkeit nicht zulässt, verliert Ihr Eure bisherige Staatsbürgerschaft. Aber da kann Deutschland nichts machen, denn jedes Land kann natürlich nur Regeln über seine eigene Staatsangehörigkeit aufstellen.
Was oft übersehen wird: Diese Neuregelung macht es auch viel einfacher für Deutsche, eine zweite Staatsbürgerschaft anzunehmen. Denn bisher mussten wir dazu eine vorherige Genehmigung einholen, ohne die wir die deutsche Staatsbürgerschaft verloren hätten (§ 25 StAG). Weil das kaum jemand wusste, haben Hunderttausende von Deutschen, die sich im Ausland einbürgern haben lassen, ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Die merkten das erst, wenn sie zur Verlängerung ihres deutschen Passes zum Konsulat in Miami oder in Kapstadt gingen und dort erfuhren: „Tut uns leid, Sie sind kein Deutscher mehr. Tschüss.“ Die Wiedererlangung von derart verlorenen deutschen Staatsbürgerschaften ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit.
Für mich persönlich eröffnet das ganz wunderbare Möglichkeiten. Vor allem, weil ich schon in einigen Ländern gelebt habe, zu denen ich mich emotional verbundener gefühlt habe als zu meinem zufälligen Heimatland. Hoffentlich zerstört die Episode als illegaler Immigrant in Bolivien nicht meine Träume, den Lebensabend am Titicaca-See zu verbringen.
Aufenthalt zwischen 3 und 5 Jahren:
Das Verbot der Mehrstaatigkeit war aufgrund vieler Ausnahmen in der Praxis für die meisten Einbürgerungsbewerber nicht mehr relevant, aber eine weitere Änderung wird fast jeden betreffen: Die Dauer des erforderlichen Aufenthalts in Deutschland wurde erheblich reduziert.
Bisher waren standardmäßig 8 Jahre rechtmäßigen Aufenthalts notwendig, um Deutscher werden zu können, obwohl auch das in Einzelfällen verkürzt werden konnte. Ab jetzt sind nur mehr 5 Jahre rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland notwendig (§ 10 I 1 StAG).
Das Wörtchen „rechtmäßig“ ist wichtig, um einem falschen Eindruck entgegenzuwirken, der manchmal erweckt wird. Böse Zungen suggerieren, man könne illegal nach Deutschland einreisen, einen aussichtslosen Asylantrag stellen und müsse nur 5 Jahre lang die Abschiebung verhindern/hinauszögern, um dann die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Das ist totaler Humbug. Ganz abgesehen davon, dass solche Leute meist nicht die finanziellen Voraussetzungen für die Einbürgerung erfüllen, zählt eben nur der rechtmäßige Aufenthalt. Also nur die Zeit mit einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung, einer Niederlassungserlaubnis, der Blaue Karte EU oder ähnlichem. Wer sich illegal in Deutschland aufhält oder wer immer nur Duldungen hatte, der hat keine Chance auf Einbürgerung. (Das gilt tragischerweise auch für Menschen, die in Deutschland geboren wurden und seit 20 Jahren hier leben.)
Bei besonderen Integrationsleistungen kann dieses Erfordernis auf bis zu 3 Jahre verkürzt werden. Dies wird festgestellt anhand des Sprachniveaus (erforderlich ist Deutsch auf dem Niveau C1, § 10 III Nr. 3 StAG), besonders guter Leistungen in der Schule, in der Ausbildung oder bei der Arbeit, sowie bürgerschaftlichem Engagement (§ 10 III Nr. 1 StAG).
Um eine der Fragen zu beantworten, die ich besonders oft erhalte: Wenn Dein Deutsch nicht auf dem Niveau C1 ist, hast du keine Chance, unter diese Ausnahmeregelung zu fallen. Das ist die absolute Mindestanforderung. Und dazu braucht es noch eine Promotion, vom Patentamt akzeptierte Erfindungen in der Fusionstechnologie, eine Kandidatur für den Gemeinderat (nur für EU-Bürger möglich), aktive Mitarbeit bei der Freiwilligen Feuerwehr, in anderen sozialen, politischen oder ökologischen Institutionen, die Veranstaltung mehrerer Kunstaustellungen, und am besten habt Ihr auch schon ein Buch veröffentlicht. Eine Faustregel: Wenn Ihr noch nicht im Fernsehen oder im Radio wart, dann werden Eure Integrationsleistungen wahrscheinlich nicht als „besonders“ bewertet.
Die praktische Bedeutung dieser Ausnahmeregelung ist auch deshalb gering, weil man den Antrag nach 3 Jahren einreicht, dann 2 Jahre mit der Behörde streitet, ob man unter die Ausnahme fällt, und dann sowieso die 5 Jahre Aufenthaltszeit erfüllt hat. (Schneller geht es eigentlich nur bei Fußballern.)
Das neue Gesetz hält an § 12b StAG fest, einer meiner Lieblingsregelungen im Staatsangehörigkeitsgesetz. Dieser Paragraph regelt die Unterbrechung des Aufenthalts, wonach man nicht die gesamte Zeit ununterbrochen in Deutschland anwesend sein muss. Außerdem kann man mehrere (natürlich rechtmäßige) Aufenthalte addieren, um insgesamt auf die 5 Jahre zu kommen. Ich hatte schon einige Mandanten, die freudig überrascht waren, zu hören, dass sie sich bereits für die Staatsbürgerschaft qualifizieren, weil das Studium, das sie vor grauer Vorzeit in Deutschland absolviert hatten, auch zählt. (Kompliziert ist es bei Studienaufenthalten, die damals in Deutschland stattfanden, aber der entsprechende Ort heute nicht mehr in Deutschland liegt, also z.B. ein Studium an der Universität Breslau bis 1945. Oder Einbürgerungsbewerber, die einst bei Immanuel Kant in Königsberg studiert haben.)
Die Neufassung des Gesetzes hält auch an § 9 StAG fest, wonach Eheleute von Deutschen im Normalfall bereits nach 3 Jahren Aufenthalt in Deutschland eingebürgert werden.
Deutsche Staatsbürgerschaft für Kinder von ausländischen Eltern:
Deutschland hat prinzipiell kein ius soli, wonach man automatisch die Staatsbürgerschaft des Landes erhält, in dem man geboren wird. (Die meisten Staaten in den beiden amerikanischen Kontinenten funktionieren nach diesem System, wodurch sie interessante Urlaubsziele für Hochschwangere sind.)
Aber es gibt eine Ausnahme für in Deutschland geborene Kinder zweier ausländischer Eltern, wenn mindestens ein Elternteil seit mindestens 5 Jahren seinen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland (§ 4 III 1 Nr. 1 StAG) und einen unbefristeten Aufenthaltstitel hat (§ 4 III 1 Nr. 2 StAG). Diese Kinder erhalten mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit.
Diese Kinder erhalten natürlich auch die Staatsangehörigkeit(en) ihrer Eltern, wenn das jeweilige Staatsangehörigkeitsrecht dieser Länder das so vorsieht. Sie haben also von Geburt an die doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeit. Das bisherige Erfordernis, sich mit Erreichen des 21. Lebensjahres für eine dieser Staatsangehörigkeiten zu entscheiden (§ 29 I 2 StAG) entfällt. (Für den Wehrdienst müssen sie sich möglicherweise noch entscheiden, aber da weiß ja niemand, was in 21 Jahren sein wird.)
Adoption:
Die Regelung, dass ein ausländisches Kind, das von deutschen Eltern adoptiert wird, durch die Adoption die deutsche Staatsangehörigkeit erhält (§ 6 StAG), bleibt bestehen.
Aber die Regelung, dass ein von ausländischen Eltern adoptiertes Kind die deutsche Staatsangehörigkeit verliert (§ 27 StAG), wird gestrichen. Deutsche Kinder, die von ausländischen Eltern adoptiert werden, behalten nun ihre deutsche Staatsangehörigkeit. Ob sie darüber hinaus die Staatsangehörigkeit ihrer Adoptiveltern erhalten, richtet sich natürlich nach den Gesetzen des betreffenden Staates.
Was sich nach einer obskuren Vorschrift des Staatsangehörigkeitsrechts anhört, ist in erstaunlich vielen Fällen von Bedeutung. Vor allem in Abstammungsfällen kommt man oft darauf, dass deutsche Kinder adoptiert wurden. Entweder weil die Eltern gestorben oder verschollen waren, vor allem im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, oder – was in jüngerer Zeit relevanter ist – wegen Adoptionen in Patchwork-Familien.
Ein typischer Fall sieht so aus: Eine deutsche Mutter mit einem deutschen Kind verliebt sich in einen ausländischen Mann, und alle zusammen wollen in sein Heimatland ziehen. Damit das leichter geht, heiraten sie, und der Vater adoptiert das Kind. Auch wenn niemand es beabsichtigt, verliert das Kind dadurch möglicherweise die deutsche Staatsangehörigkeit. Weil die deutsche Mutter ihre Staatsangehörigkeit durch die Eheschließung nicht (mehr) verliert, glaubt sie, ihr Kind habe diese auch noch. Weil sie im Ausland leben, ist es ihnen aber auch egal. Jahrzehnte oder Generationen später kommt dann so ein Naseweis wie ich und stellt das Schlamassel fest, vielleicht im Rahmen einer Erbstreitigkeit, wo das Testament wegen der Anwendung des falschen Rechts ungültig ist. Verkompliziert wird das Ganze dadurch, dass es verschiedene Arten der Adoption gibt, dass jede Regel Ausnahmen hat, und dass es komischerweise eine ganze Menge Mandanten gibt, die fest davon überzeugt sind, adoptiert worden zu sein, obwohl es nie eine förmliche Adoption gab.
Jetzt, wo § 27 StAG weggefallen ist, habt Ihr eine Sache weniger, wegen der Ihr Euch den Kopf zerbrechen müsst. Aber wenn man Kinder hat, bleiben immer genug Sorgen, glaube ich.
Sprachkenntnisse:
Das notwendige Sprachniveau für die Einbürgerung ist B1 (§ 10 IV 1 StAG).
Das ist ein fortgeschrittenes Niveau, aber auch nicht besonders schwer. Man kann damit Alltagskonversationen führen, einfache Zeitungsartikel lesen und E-Mails oder Briefe schreiben. Falls überhaupt noch jemand Briefe schreibt. Auf der Seite des Goethe-Instituts findet man Musterprüfungen für alle Sprachniveaus, so dass man sich selbst testen kann. Für die Einbürgerung muss man die Prüfung nur bestehen; also keine Sorge, wenn Ihr nicht die volle Punktzahl erreicht. (Wenn du diesen Text verstehst, bist du auf jeden Fall weit über dem B1-Niveau, zumindest bezüglich der Lesefähigkeit.)
Es gibt nur eine ganz kurze Liste mit Ausnahmen vom Erfordernis des B1-Tests:
Kinder unter 16 müssen nur eine „altersgemäße Sprachentwicklung“ nachweisen (§ 10 IV 2 StAG).
Gastarbeiter oder Vertragsarbeitnehmer, die vor 1974 in die BRD oder vor 1990 in die DDR gekommen waren, müssen nur mündliche Kenntnisse des Deutschen nachweisen. Hier entfällt die schriftliche Prüfung (§ 10 IV 3 StAG). Ebenso entfällt der Einbürgerungstest (§ 10 VI 2 StAG). Die Idee dahinter ist es, endlich die Leute einzubürgern, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut haben (nein, das waren nicht die Trümmerfrauen), die seit Jahrzehnten hier leben, und die hauptsächlich körperliche Tätigkeiten ausgeübt haben und deshalb nie Zeit für und Zugang zu formeller Bildung hatten.
Und zuletzt alle Bewerber, die wegen körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen den schriftlichen Test nicht absolvieren können, z.B. Blinde. Diese müssen nur mündliche Kenntnisse nachweisen, die für das Alltagsleben genügen (§ 10 IVa StAG). Analphabetismus berechtigt nicht zu dieser Ausnahme, weil es sich dabei um keine dauerhafte Beeinträchtigung handelt.
Die letzte Ausnahme bereitet mir am meisten Sorgen, denn bereits jetzt erhalte ich regelmäßig Anfragen von Ausländern, die eine Ausnahme vom Spracherfordernis beantragen wollen. Ich mache das eigentlich nie, weil das meistens vollkommen absurde Anfragen sind. Die Leute haben Universitätsabschlüsse in Mathematik und arbeiten im Vorstand eines DAX-Unternehmens, aber wenn es ums Deutschlernen geht, wollen sie plötzlich alle Dyslexie haben und lernbehindert sein.
Bitte macht das nicht. Das ist peinlich. Außerdem müsstet Ihr sowieso zuerst den Sprachkurs besuchen und die Prüfung mehrere Male erfolglos versuchen, bevor man überhaupt daran denken kann, die „Ich bin zu doof“-Ausnahme in Anspruch zu nehmen.
Ihr könnt die Zeit wirklich besser nutzen, wenn Ihr einfach ein bisschen Deutsch lernt. So schwer ist es nun auch nicht. Außerdem ist Deutsch eine wunderbar poetische Sprache.
Finanzielle Anforderungen:
In Deutschland muss man für die Einbürgerung kein Mindesteinkommen vorweisen, aber man muss darlegen, dass man sich und seine Familie ohne Rückgriff auf Bürgergeld oder Sozialhilfe versorgen kann. Alle anderen öffentlichen Subventionen wie BAföG oder Wohngeld, sowie das auf eigenen Beiträgen basierende Arbeitslosengeld oder Stipendien sind keine Ausschlusskriterien, werfen aber im Einzelfall die Frage auf, wie man langfristig seinen Lebensunterhalt finanzieren kann.
Bisher enthielt § 10 I 1 Nr. 3 StAG eine Ausnahme für Bezieher von Sozialleistungen, die diese Inanspruchnahme „nicht zu vertreten“ hatten. Das war eine wunderbar schwammige Formulierung, anhand derer ich viele verschiedene Ausnahmen durchbekommen habe. Anscheinend habe ich es damit zu weit getrieben, denn das neue Gesetz beschränkt die Ausnahmen auf wenige eng definierte Fälle:
Lediglich die gleiche Gruppe von Gastarbeitern, die wir oben (bei den Spracherfordernissen) erwähnt haben, kann sich noch immer auf das Nichtvertretenmüssen des Sozialhilfebezugs berufen (§ 10 I 1 Nr. 3 (a) StAG).
Eine weitere Ausnahme gilt für Menschen, die in Vollzeit erwerbstätig sind und innerhalb der letzten 24 Monate mindestens 20 Monate in Vollzeit erwerbstätig waren, aber dennoch Bürgergeld beziehen (§ 10 I 1 Nr. 3 (b) StAG). Das sind die sogenannten “working poor”, die so liebenswürdig sind, durch ihre schlecht bezahlte Arbeit die Grundlage für den Kapitalismus und für steigende Börsenkurse zu liefern.
Eheleute der Letztgenannten, wenn sie ein minderjähriges Kind haben (§ 10 I 1 Nr. 3 (c) StAG).
Diese Regelung ist viel strenger als bisher. Menschen mit Behinderungen oder einer Depression, alleinerziehende Eltern, pflegende Angehörige und so weiter werden es in Zukunft wesentlich schwerer haben, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Ihnen bleibt nur noch die Ermessenseinbürgerung nach § 8 II StAG. Die Fälle, bei denen ein Rechtsanwalt hilfreich wäre (der dann z.B. argumentieren würde, dass das Benachteiligungsverbot für Behinderte aus Art. 3 III 2 GG verletzt ist), sind paradoxerweise also genau diejenigen, wo das Geld knapp ist. (Womit ich nicht sagen will, dass Rechtsanwälte teuer sind.)
Politische Anforderungen:
Die Neufassung des Staatsangehörigkeitsgesetzes ist viel politischer als die bisherige Fassung.
Menschen, die aktiv gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung angehen (§ 11 S. 1 Nr. 1 StAG) oder Terroristen (§ 11 S. 1 Nr. 2 StAG in Verbindung mit § 54 II Nr. 2 oder 4 AufenthG) waren auch bisher schon von der Einbürgerung ausgeschlossen. Aber die Neufassung des Staatsangehörigkeitsrechts führt eine ganze Reihe von Fallgruppen ein, bei denen die Einbürgerung versagt wird, selbst wenn der Ausländer alle anderen Bedingungen erfüllt.
So sind fortan Ausländer, die gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet sind, von der Einbürgerung ausgeschlossen (§ 11 S. 1 Nr. 3 (a) StAG).
Als Experte im internationalen Familienrecht sehe ich da eine Menge Probleme auf uns zukommen. Denn es passiert ziemlich oft, dass Menschen „vergessen“, sich scheiden zu lassen, bevor sie eine neue Ehe eingehen. Manchmal haben sie einfach den Kontakt zu ihrem ersten Ehepartner verloren, manchmal wollen sie das Geld für einen Rechtsanwalt sparen (immer eine ganz schlechte Idee), manchmal glauben sie, eine Scheidung sei gar nicht notwendig, wenn man in einem anderen Land heirate. Und immer, wenn ich diesen Menschen erkläre, dass sie damit Probleme erzeugen, die sich vielleicht erst Jahre oder Jahrzehnte später materialisieren, dann glauben sie mir natürlich nicht. Tja, jetzt habt Ihr ein weiteres Beispiel, wie diese Nachlässigkeit Euer Leben ruinieren kann.
Außerdem wird Deutschland keine Machos mehr einbürgern. Der neue § 11 S. 1 Nr. 3 (b) StAG gibt vor, dass die Einbürgerung zu versagen ist, wenn der Ausländer (oder die Ausländerin) durch sein (oder ihr) Verhalten demonstriert, dass er (oder sie) die Gleichberechtigung von Mann und Frau missachtet.
Wow. Das ist eigentlich eine Vorschrift mit richtig Sprengkraft. Wenn man diese Regelung strikt anwendet, würden sich ziemlich viele Menschen disqualifizieren. Männer wie Frauen. Schließlich ist die Gleichberechtigung nicht nur von toxischer Männlichkeit bedroht, sondern auch von unterwürfigem Antifeminismus. Aus der praktischen Perspektive der Rechtsberatung ein paar Tipps für diejenigen, die sich in den nächsten Jahren für die deutsche Staatsbürgerschaft bewerben wollen: Mach keine dummen Witze über Geschlechterklischees. Sei nicht sexistisch. Behandle Frauen nicht als hübsche Objekte. Erwarte nicht, dass Männer im Restaurant die Rechnung bezahlen. Ändere nicht deinen Nachnamen, nur weil du geheiratet hast. Frag nicht deinen Freund, ob er die Spinne im Schlafzimmer töten kann, sondern mach es selbst.
Wenn diese Vorschrift in der Praxis angewendet werden wird, dann freue ich mich schon auf die Prozesse vor dem Verwaltungsgericht.
Der Begriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist – zumindest für Juristen – sowieso schon viel klarer, als er sich anhört. Aber sicherheitshalber werden einige seiner Elemente jetzt konkret genannt. § 10 I 3 StAG erklärt ausdrücklich, dass „antisemitisch, rassistisch oder sonstige menschenverachtend motivierte Handlungen“ gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoßen.
Auch das ist wieder eine sehr weitgefasste Vorschrift, da sie von „Handlungen“, nicht von Straftaten spricht. Verurteilungen wegen solcher Taten waren bereits nach dem bisherigen Gesetz ein Einbürgerungshindernis. Jetzt kann die Behörde aber auch den Facebook-Account von Einbürgerungsbewerbern danach durchsehen, ob diejenigen rassistischen Müll, antisemitische Stereotype oder geschmacklose Scherze über die Opfer eines Völkermords veröffentlicht haben. Die Einbürgerungsbehörden holen dazu auch Informationen von der Staatsanwaltschaft und von den Geheimdiensten ein.
Anders als bei der Vorschrift gegen Machos erwarte ich, dass diese Vorschrift ernsthaft angewendet wird. Ich erwarte auch, dass dies zu vielen Rechtsstreitigkeiten und Prozessen führen wird, was mich als Rechtsanwalt eigentlich jubilieren lassen sollte. Das Problem ist, dass ich selbst nicht so gerne mit Rassisten oder Antisemiten arbeite.
Rücknahme von Einbürgerungen:
Ich vermute, dass diese politischen Fragen den Löwenanteil an den Fällen ausmachen werden, in denen die Bundesrepublik Deutschland eine Einbürgerung nach § 35 StAG zurücknehmen wird. Wenn sich später herausstellt, dass der Eingebürgerte falsche Angaben gemacht hat, kann die deutsche Staatsbürgerschaft noch für 10 Jahre zurückgenommen werden.
Diese Rücknahme war auch bisher im Einzelfall möglich, wenn der Betroffene dadurch staatenlos wurde (§ 35 II StAG). In der Zukunft, wenn die meisten Einzubürgernden ihre bisherige Staatsangehörigkeit beibehalten, besteht die Gefahr der Staatenlosigkeit sowieso nur mehr in wenigen Fällen. Die Rücknahme der deutschen Staatsbürgerschaft wird dadurch also einfacher. (Das wird bei der Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft immer übersehen: Wenn man darauf besteht, dass die Leute alle anderen Staatsbürgerschaften aufgeben, dann bekommt man sie später umso schwerer wieder los.)
Einbürgerungsfeier:
Der neue § 16 S. 3 StAG ordnet an, dass die Einbürgerung nicht mehr still und leise auf dem Postweg, sondern im Rahmen einer großen Sause stattfinden soll.
Dagegen kann man nun wirklich nichts einwenden.
Wie gesagt, wenn Ihr einen glasklaren Fall habt, dann braucht Ihr keinen Rechtsanwalt. Aber wenn Eure Situation ein bisschen komplexer ist, vor allem in Abstammungs- und Wiedergutmachungsfällen, oder wenn Ihr andere Fragen habt, meldet Euch für eine Beratung.
Und leitet diesen Artikel auch gerne an Freunde und Bekannte weiter, von denen Ihr wisst oder ahnt, dass er ihnen helfen wird. Vielen Dank!
Immer wenn irgendein Doldi von der angeblichen Überlegenheit der europäischen Kultur schwafelt, muss ich daran denken, dass der ganze Kontinent, vom Baltikum bis zum Balkan, mit Massengräbern übersäht ist.
Als mich der Busfahrer an dieser Kreuzung in Litauen absetzt, fühle ich mich eher mitten im Nirgendwo – um keinen deftigeren Ausdruck zu verwenden – als am Mittelpunkt Europas.
Aber das Schild lässt keine Zweifel zu. Hier ist er, der geografische Mittelpunkt.
Zum Tod von Ismail Kadare empfehle ich die Lektüre seiner Bücher.
Am besten während einer Albanien-Reise, weil man damit unter Umgehung von trockenen Enzyklopädien ganz geschickt in die verschiedenen Epochen und Aspekte der albanischen Geschichte eintaucht, während die Sonne ebenso genüsslich in die Adria taucht, was viele überraschen wird, die sich bisher noch gar keine Gedanken darüber gemacht haben, wo Albanien eigentlich liegt.
Ich persönlich finde Berge ja interessanter als das Meer, aber man wird sich zwischen der Wasser- und der Gebirgsfraktion hoffentlich friedlich darauf einigen können, dass ein Land, das von beidem reichlich und schön und unberührt hat, die perfekte Kombination darstellt. (Obwohl die Länder ohne Meer auch nicht so traurig sein müssten, wie sie gerne lamentieren.)
Außerdem verweise ich auf meine Begegnung mit einem serbischen Schriftsteller auf einem Berg in Montenegro, der auf den albanischen Kollegen nicht gut zu sprechen war und dessen Erfolg – sowie seinen eigenen im Verglich dazu ausbleibenden Erfolg – einer internationalen Verschwörung zuschrieb, was insofern ironisch war, weil ich just zu diesem Moment in ein Buch von Ismail Kadare vertieft war, in dem es darum ging, dass Serben den Albanern eine eigene Kultur absprachen und jegliche derartige Versuche für eine amerikanische Verschwörung hielten.
Allerdings muss es tatsächlich an einer Verschwörung liegen, dass genau jenes Buch von Ismail Kadare, eines seiner amüsantesten und in dem er die wahre Herkunft Homers (natürlich aus Albanien) aufdeckt, noch nicht auf Deutsch übersetzt wurde. Da steckt wahrscheinlich der deutsche Philhellenismus dahinter.
Apropos Philhellenismus: Wusstet Ihr, warum es in Deutschland in jeder Gemeinde mindestens ein griechisches Restaurant gibt? Auch das habe ich für Euch recherchiert.
Und jetzt ab in die Bibliothek! Denn wenn der Autor tot ist, bringt es ihm eh nichts mehr, seine Bücher zu kaufen.
Ich hatte mich schon den ganzen Tag gewundert, warum an den Bahnhöfen im Osten Polens so viele Polizisten herumliefen. Und dann piepte das Handy und lieferte die Erklärung.
Sperrgebiet und Schießbefehl, aber immerhin – anders als in der diesbezüglich (und vielleicht allgemein) nicht ganz so freundlichen DDR – mit einer Vorwarnung per SMS.
Die Aufforderung „Turn back immediately!“ klang zwar sehr forsch und eindringlich, aber ich war zu dem Zeitpunkt seit 14 Stunden wach, saß seit 11 Stunden im Zug, und war körperlich und geistig müde. Ehrlich, Zentralpolen ist nicht gerade die spannendste Landschaft Europas. Flach und weit. Sehr weit. Ich hatte also, anders als mein unermüdliches Handy, weder Saft noch Kraft, um sofort umzukehren. Außerdem, wohin auch? Ich muss doch zum Mittelpunkt Europas!
Also stieg ich in Augustów einfach aus und tat, was ich besonders gut kann: Unschuldig wirken. Ich merkte, dass die Polizisten nur Menschen kontrollierten, die wie Ausländer aussahen. Ich bat einen Mitpassagier schnell um eine Zigarette, steckte sie an, und setzte eine fußballbedingt betrübte Miene auf. So kam ich als Anscheinspole durch die – zugegeben nicht sehr strenge – Kontrolle.
Im Park schnorrte ich mir ein paar Megabit aus dem öffentlichen WLAN, um nachzuholen, was ich vor der Reise versäumt hatte: Die Nachrichten lesen. So erfuhr ich, dass Polen an der östlichen Grenze ein Sperrgebiet eingerichtet hat, das Ausländer nicht mehr betreten dürfen. (Deshalb auch die SMS auf Englisch, und anscheinend nur an ausländische Handys, die in der verbotenen Zone unterwegs waren.)
Viele Menschen sind sich dessen nicht bewusst, aber egal, wie man über Ausländer denkt, in den meisten Ländern der Welt ist man selbst einer. In Polen könnte ich zwar notfalls argumentieren, dass wir alle Europäer sind, aber ich fürchte, wenn mich die Soldaten beim Waldspaziergang schnappen, dann geht das nicht so glimpflich aus. Außerdem will man als geschichtsbewusster Deutscher nicht unerwünscht in Polen herum- oder einmarschieren. Die Opas und Omas der jetzigen Polen haben schon genug darunter gelitten, was meine Opas hier einst veranstalteten.
Aber schade ist das schon, denn auf lange Spaziergänge entlang des Augustów-Kanals hatte ich mich am meisten gefreut. Weil der Kanal nach Belarus führt, wird daraus wohl nichts.
Zum Glück fand ich eine Unterkunft, die weder Namen noch Dokumente sehen wollte. Beziehungsweise nur die Dokumente mit dem Konterfei von König Kasimir.
Und jetzt sitze ich hier, mitten in der Suwałki-Lücke, und kann weder vor (weil ich dann erschossen werde), noch zurück (weil ich dann zugeben müsste, dass ich im Sperrgebiet war). Für einen Angestellten im Jahresurlaub wäre das die Traumsituation, weil man so „leider, leider“ den Urlaub verlängern muss und nicht zurück ins Büro oder an die Werkbank kann.
Mich wundert ehrlich, wie wenig kreativ gestresste Arbeiterinnen und Arbeiter sind. Es ist doch so leicht, beim Urlauben in einem weit entfernten Land „aus Versehen“ den Reisepass zu „verlieren“. Oder den Flug zu „verpassen“. Und schwupp, muss man zwei Wochen länger bleiben. Ich habe mal die letzte Fähre von den Azoren verpasst und musste so ganze drei Monate auf der Insel bleiben. Das war wirklich ganz großes Pech. 🙃
Wenn Ihr jetzt fragt, wie man sich diese Reisen leisten kann, dann seht Ihr die Antwort auf meinem Mobiltelefon: Mit jedem nicht gekauften I-Phone hat man eine Weltreise finanziert. Das gute alte Nokia hat mich 6 Euro gekostet und tut jetzt schon seit 15 Jahren seinen Dienst. Außerdem ist es auf Reisen praktisch, weil die Batterie so lange hält, dass man kein Ladekabel mitnehmen muss.
Und ich werde ab morgen mal sehen, was sich in einem Sperrgebiet so an Freizeitaktivitäten anbietet.
Keine Ahnung, ob das wirklich solche Wolken sind. Aber die Alliteration ist zu schön. Fast so schön wie der Anblick der beeindruckenden Jahrhunderthalle zu Breslau.