Eigentlich wollte ich meine Reise nach Podlachien nur für eine Stunde oder so unterbrechen, um mir die Beine zu vertreten und ein paar gesunde Kalorien zu mir zu nehmen.
Aber als ich in Breslau aus dem Bahnhofsgebäude trat, dachte ich: „Wow. Wenn der Bahnhof schon wie ein Prunkschloss aussieht, dann ist diese Stadt vielleicht doch einen intensiveren Blick wert.“
Also habe ich mich entschieden, für zwei Tage zu bleiben.
Weil ich den Aufenthalt in Breslau nicht vorbereitet hatte, streune ich relativ ziellos umher. Aber das ist ja manchmal besser, als eine Sehenswürdigkeit nach der anderen abzuhaken. Und was ich bisher gesehen habe, gefällt mir prima! (Bald gibt es mehr Fotos.)
Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dahin auszulegen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, zu beurteilen, ob eine Bestimmung des nationalen Rechts, die einen außerordentlichen Rechtsbehelf vorsieht, der es einer Partei ermöglicht, die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil beendeten Verfahrens zu beantragen, wenn sie infolge der Verletzung von Rechtsvorschriften an der Mitwirkung gehindert war, erweiternd dahin ausgelegt werden kann, dass ihr Anwendungsbereich den Fall erfasst, in dem erstens das Gericht, das einem auf einen Verbrauchervertrag gestützten Antrag eines Gewerbetreibenden mit einem rechtskräftigen Versäumnisurteil stattgegeben hat, unter Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen davon abgesehen hat, diesen Vertrag von Amts wegen im Hinblick auf das etwaige Vorliegen missbräuchlicher Klauseln zu prüfen, und in dem sich zweitens herausstellt, dass die Verfahrensmodalitäten für die Ausübung des Rechts auf Einlegung eines Einspruchs gegen dieses Versäumnisurteil durch den Verbraucher das nicht zu vernachlässigende Risiko in sich bergen, dass der Verbraucher darauf verzichtet, und sie folglich nicht ermöglichen, die Wahrung der dem Verbraucher nach dieser Richtlinie zustehenden Rechte zu gewährleisten.
Finde ich gut, dass das mal so knapp und bündig auf den Punkt gebracht wurde.
Vergangenes Jahr koinzidierte mein Geburtstag mit der – letztlich erfolgreichen – Wohnungssuche, so dass 2023 keine der klassischen Geburtstagsreisen stattfand. Stattdessen nur eine kleine Tageswanderung, die aber immerhin zu drei Artikeln verwurstet wurde (Teil 1, Teil 2, Teil 3).
Seither arbeite ich wieder als Rechtsanwalt und unterliege damit der erdrückenden Urlaubshöchstgrenze von zwei Wochen nach § 53 I Nr. 2 BRAO. Aber diese zwei Wochen will ich voll und bis zur letzten Stunde nutzen, um die Tradition der allsommerlichen Geburtstagsreise zu reaktivieren.
Dieses Projekt wird sich wahrscheinlich noch einige Jahre hinziehen, aber Ihr habt ja Zeit, oder? Ende Juni geht es nach Polen, wo in Suchowola, ganz im Nordosten des Landes, nach den ältesten diesbezüglichen Berechnungen von 1775 der geografische Mittelpunkt Europas liegt oder lag.
Suchowola ist eine kleine Ortschaft mit nur 2200 Einwohnern, aber das ist ja gerade das Schöne an dieser Reihe: Dass man vom Zufall bzw. von Mathematikern, Astronomen und Geodäten irgendwelchen Punkten zugewürfelt wird, die man ansonsten nie besucht hätte. Und dann muss man sehen, was man daraus macht.
Außerdem kann ich mir gar nicht vorstellen, dass es in Polen irgendwo langweilig ist. Wenigstens nicht für einen historisch interessierten Reisenden. Notfalls expandiere ich den Radius um ein paar Kilometer, dann bin ich in Augustów. Das liegt am Augustów-Kanal, der, weil dieser Blog sowohl auf schreibender als auch auf lesender Seite Kanalfetischisten aus aller Welt vereinigt, eine lohnende Wanderung abgäbe.
Einer der Mittelpunkte liegt im Europa-Park, einem wirklich wunderbaren Freiluftmuseum.
Aber Litauen hat – anscheinend gehen die Berechnungen ein bisschen auseinander – noch einen zweiten Ort, der die geografische Mitte Europas für sich beansprucht: Purnuškės.
Ich weiß nicht, wie ich diesen zweiten Punkt damals, als ich in Litauen lebte, übersehen konnte.
Jedenfalls freue ich mich darauf, wieder in dieses sympathische Land zu kommen. Das eine Jahr in Vilniuswar wirklich paradiesisch. Wenn Litauisch nicht absichtlich die komplizierteste Sprache der Welt wäre, dann wäre ich möglicherweise sogar geblieben.
Litauen passt auch perfekt zu meiner Geburtstagsreise, denn am 6. Juli feiern die Litauer ihren Nationalfeiertag. Wenn man an dem Tag durch die Wälder streift, stößt man überall auf Menschen in Trachtenkostümen und mit Blumen im Haar, die durch die Natur tanzen. Und am Abend versammelt sich das ganze Land zum gemeinsamen Singen. Mit Gesang haben die baltischen Völker ja einst sogar die Sowjetunion bezwungen.
Im Baltikum fehlt dann nur noch der europäische Mittelpunkt auf der Insel Saaremaa. Aber bei meinem gemächlich-gemütlichen Tempo wäre das alles zu viel für eine zweiwöchige Reise. (Meine Reiserichtschnur: Bei zwei Wochen Urlaub nur eine Woche verplanen. Der Rest ergibt sich spontan.) Außerdem sind diese estnischen Inseln so bezaubernd, dass ich gerne einmal zwei Wochen nur auf Saareema verbringe.
Mal sehen, ob das noch immer so kompliziert ist, wie 2012, als ich in Litauen lebte. Damals ging man auf dem Postamt an den ersten Schalter, wo der Brief gewogen und der Tarif ausgerechnet wurde. Mit dieser Information ging man an den zweiten Schalter. Dort bezahlte man den Betrag und erhielt eine Quittung. Mit der Quittung ging man an den dritten Schalter, wo man die Briefmarke bekam. Dann musste man zurück an den ersten Schalter, wo die strenge Postinspektorin kontrollierte, dass man die Briefmarke auch auf den richtigen Brief klebte. Wenn ich dann den Brief abgeben wollte, erhielt ich die Auskunft: „Das ist ein internationaler Brief, den können Sie hier nicht aufgeben. Da müssen Sie zur internationalen Abteilung des Zentralpostamtes gehen.“ Dort musste ich für jeden Brief ein Formular ausfüllen und vom internationalen Postversandkommissar kontrollieren und abstempeln lassen. Als ich den Brief endlich aufgeben wollte, wurde ich angeblafft: „Einwerfen müssen Sie schon selbst. Draußen sind die Kästen.“ Es war eigentlich alles noch so wie in der Sowjetunion.
Es ist wieder Sommerloch. Man erkennt das an der Debatte um die Reaktivierung der Wehrpflicht. Nur Krokodile in Badeseen sind noch sommerlochiger. Aber gegen Krokodile könnte man ja dann die neu aufgestockte Wehrpflichtarmee einsetzen.
Ich verstehe durchaus die Idee, in jungen Leuten einen Sinn für Gemeinschaft und Verantwortung zu entfachen, indem sie ein Jahr etwas für die Gesellschaft tun, sei es mit Panzern durch die Heide zu fahren, alten Damen über die Straße zu helfen oder Tunnels für Kröten zu buddeln. (Wenn man die Tunnels größer bauen würde, könnten die Senioren alleine durchspazieren.) Auch ist es eine schöne Vorstellung, dass sich junge Menschen näher kommen und Verständnis füreinander entwickeln, wenn der adelige Professorensohn mit dem Arbeiterkind, der Ostdeutsche mit dem Syrer und der Katholik mit dem Atheisten ein Jahr lang die Stube teilt.
Nur, so funktionierte die Wehrpflicht in den letzten Jahren vor der Aussetzung nicht mehr, vielleicht hat sie nie so funktioniert. Ganz abgesehen vom Ausschluss von Frauen war die Wehrgerechtigkeit nicht mehr gewährleistet, weil durch Ausmusterung und Ausnahmetatbestände mehr als die Hälfte eines männlichen Jahrgangs weder Wehr- noch Zivildienst leisten mussten.
Vollkommen unempirisch vorgehend, möchte ich dies an meiner eigenen Geschichte darstellen, die ab dem Jahr 1995 spielt:
Die Verweigerung aus Gewissensgründen nach Art. 4 III 1 GG wollte ich nie in Anspruch nehmen, weil (a) ich keine wirklichen Gewissensgründe gegen das Töten in bestimmten Situationen habe und dies nicht vortäuschen wollte, und weil (b) der Zivildienst auch nicht unbedingt mehr Spaß gemacht hätte. Mein Hauptanliegen war es, kein Jahr zu verlieren, sondern unmittelbar nach dem Abitur mit dem Studium beginnen zu können.
Um zu versuchen, in der Musterung als körperlich untauglich eingestuft zu werden, war ich zu stolz. Und obwohl nach Auskunft einiger meiner Altersgenossen weit weniger Schauspielkunst als einstmals bei Felix Krull gefordert war, um überzeugend zu hypochondrieren, traute ich mir dieses Talent nicht zu.
Als angehender Jura-Student wälzte ich stattdessen das Wehrpflichtgesetz (WPflG) und stieß auf § 13a I 1 WPflG, der die Zurückstellung vom Wehrdienst vorsah, wenn man sich zur Mitwirkung im Katastrophenschutz (z.B. THW oder Rotes Kreuz) verpflichtete und dieser Verpflichtung (damals) sieben Jahre nachging. Der Vorteil bestand darin, dass diese Mitarbeit im Katastrophenschutz – abgesehen von tatsächlichen Katastrophen natürlich – nur am Wochenende stattfand und somit dem sofortigen Studienbeginn nicht im Wege stand. Da Erdbeben und Tornados in Deutschland selten sind und es damals noch nicht alle paar Wochen Überschwemmungen gab, hielt ich dies für eine im Vergleich zur täglichen Anwesenheitspflicht in der Kaserne zeitsparende Variante.
So bewarb ich mich also beim Roten Kreuz und wurde tatsächlich in den Katastrophenschutzdienst aufgenommen. Mein Studium konnte ich ohne Verzug beginnen. Jedes zweite Wochenende musste ich für ein paar Stunden zu einem Kurs oder einer Fortbildung. Die Katastrophen blieben wie gewünscht aus.
So ging dies das erste Jahr; das erste von vorgesehenen sieben. Zwei Semester meines Jura-Studiums hatte ich schon absolviert, während ich als normaler Wehrdienstleistender zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt erst mit dem ersehnten Studium beginnen hätte können.
Nach Ende dieses ersten Jahres wartete ich geduldig auf Zusendung des Zeitplans für Kurse und Fortbildungen des zweiten Jahres. Diese Zusendung erfolgte nicht. Sie erfolgte nie. So ging ich das Risiko ein, passiv gegenüber meiner staatlich auferlegten Dienstpflicht zu bleiben, wobei ich nicht versäumte, dies mir gegenüber selbst durch gesteigerte Aktivität im Studium zu rechtfertigen.
Trotz meines Fernbleibens erging weiterhin keine Einladung, weder durch Brief, noch durch einen Anruf, oder gar einen Besuch. Langsam aber sicher geriet diese Art des Ersatzdienstes in Vergessenheit, wie anscheinend auch ich in Vergessenheit beim Roten Kreuz geraten war. So ging das zweite Jahr ins Lande, und ich wurde kein einziges Wochenende aus meinem Studentenleben gerissen.
Mit zunehmender freudiger Überraschung konnte ich die folgenden Jahre feststellen, daß sich dies auch in den Jahren 3, 4, 5, 6 und 7 fortsetzte. So hatte ich also tatsächlich nur an ca. 25 Wochenenden einen Art Erste-Hilfe-Kurs besucht und war damit einem Jahr in der Kaserne entkommen.
Bis ich eines Tages, im siebten Jahr, ich hatte nicht nur schon lange mein Studium sowie mein anschließendes Refendariat (ironischerweise zu einem erheblichen Teil beim Juristenkorps der US-Armee) vollendet, sondern war mittlerweile als Rechtsanwalt selbständig, einen Brief der Wehrbehörde erhielt. Schlagartig wurde mir mein negativer Saldo der dem Staat gegenüber erbrachten Dienstzeit bewusst, und ich sah mich schon im fortgeschrittenen Alter von 27 Jahren in die Kaserne einrücken.
Ich öffnete diesen Brief mit dem fatalistischen Gefühl desjenigen, den die gerechte Strafe einholt, und las: “Mit Vollendung Ihrer siebenjährigen Dienstzeit beim Katastrophenschutzdienst des Deutschen Roten Kreuzes ist Ihre Verpflichtung zum Wehrdienst erloschen. Wir bedanken uns für den von Ihnen geleisteten Dienst.”
Das war also meine Wehrpflicht. Nur ein Einzelfall, klar, aber Ihr könnt das gerne mit Euren eigenen Erfahrungen bereichern.
All diejenigen, die jetzt die Rückkehr zur Wehrpflicht oder gar die Schaffung einer allgemeinen Dienstpflicht fordern, sollten erklären müssen, wie sie diese Gerechtigkeitslücke schließen wollen. Denn wenn am Ende wieder nur die einrücken, die das gerne machen, kann man es sich sparen. Einen Bundesfreiwilligendienst gibt es schon. Außerdem ist eine allgemeine Dienstpflicht nach Art. 12 II GG nur zulässig, wenn sie „für alle gleich“ ist.
Ich selbst habe meine damalige Entscheidung übrigens bereut, denn im Nachhinein ist ein Jahr wirklich nicht viel Zeit, und ob ich mit 24 oder 25 Jahren das Studium abschloss, würde mein Leben nicht verändert haben. Dafür fehlen mir jetzt praktische Fertigkeiten wie Bombenentschärfen, aus Fugzeugen springen, U-Boote steuern und Kampfjets fliegen, die ich schon oft praktisch einsetzen und als Söldner sogar monetarisieren hätte können. Später, als ich vagabundierend durch die Welt zog, waren die juristischen Staatsexamina so nutzlos wie eine Kevlarweste gegen eine Panzerfaust. Aber auch ein Jahr bei einem sinnvollen Verein wie der Aktion Sühnezeichen hätte durchaus interessant und lehrreich sein können.
Schon 1885 war Friedrich Nietzsche von den gerade erst erfundenen Nationalstaaten genervt.
Wir sind mitten im gefährlichen Karneval des Nationalitäten-Wahnsinns, wo alle feinere Vernunft sich bei Seite geschlichen hat und die Eitelkeit der ruppigsten Winkel-Völker nach den Rechten der Sonder-Existenz und Selbstherrlichkeit schreit.
Und:
Der Nationalitäten-Wahnsinn und die Vaterlands-Tölpelei sind für mich ohne Zauber: „Deutschland, Deutschland über Alles“ klingt mir schmerzlich in den Ohren.
Bereits 1887 sah Nietzsche, dass man die wirklichen Probleme nur auf europäischer Ebene lösen kann:
Gibt es irgend einen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt wo Alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln?!
Weil der kleine aber feine Unterschied zwischen Radeberg, Radeburg und Radebeul verwirrend genug ist, lest bitte vor diesem Artikel den ersten Teil dieser Wanderung. Wenn wir uns schon in den sächsischen Wäldern verlaufen, dann wollen wir es in der richtigen Reihenfolge tun.
Ordnung muss sein, es ist ja schließlich ein deutscher Wald.
Ihr erinnert Euch: Wir waren irgendwie in einen dubiosen Wald nördlich von Radeberg geraten.
Zusätzlich zu den herumstreunenden Killerhunden höre ich das Kreischen von Kettensägen. Verlassene Häuser tauchen auf. Es raschelt im Gebüsch. Eine Glasscheibe birst. Die Amseln, Finken und Meisen verstummen unter dem drohenden Gekrächze eines pechschwarzen Raben.
In den Fenstern hängen Dosen und stehen Kerzen. In einem Horrorfilm wären das Warnsignale, bei denen das Publikum entsetzt ausruft: „Geh da nicht rein!“ Aber ich habe kein Publikum, und wenn, dann erfreut es sich gewöhnlich an meinen Kalamitäten.
Ich bin ziemlich neugierig, das muss ich zugeben.
Andererseits bin ich noch ganz am Anfang der Wanderung. Jetzt schon aufgehängt oder zerstückelt zu werden, das wäre doof. So etwas hebt man sich doch lieber für den späten Nachmittag auf.
Natürlich treibt mich die Frage um, was das hier war. Es sind erkennbar keine Wohnhäuser, sondern irgendetwas Großes, Besonderes, Mysteriöses. Normale Leute würden jetzt googeln. Aber ich bin nicht normal. Wenn ich aus dem Haus gehe, nehme ich kein Internet mit. Ich will mich bewusst auf etwas Neues und Unbekanntes einlassen, selbst erkunden oder einfach Leute fragen, die des Weges kommen. Außerdem will ich, wenn ich mir einen Tag in der Natur vornehme, nicht hören oder lesen, was in der Bundeshauptstadt oder im Nahen Osten vor sich geht.
Das Folgende habe ich also erst herausgefunden, als ich abends nach Hause kam: Diese Gebäude mitten im Wald sind die Überbleibsel von Augustusbad. Ein Heilbad, das mir bisher vollkommen unbekannt war, obwohl ich mich durchaus für einen Bäderexperten halte (Beispiel 1, Beispiel 2, Beispiel 3). Augustusbad wurde schon 1719 gegründet, und bald entwickelte sich ein reger Medizintourismus.
Wenn ich mir die Postkarte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ansehe, bereue ich doch ein bisschen, nicht tiefer in den Komplex eingedrungen zu sein. Da sind riesige Hotels, wie beim Zauberberg. Und ein See!
Ich weiß nicht warum, vielleicht lag es an der fehlenden Anbindung durch die Eisenbahn, aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts geriet Augustusbad ins Hintertreffen unter den Heilbädern dieser Hemisphäre. Plötzlich waren Marienbad, Karlsbad, Baden-Baden und Bad Ischl angesagter. Augustusbad musste sich etwas Neues einfallen lassen.
„Wenn die Könige und Kaiser wegbleiben, muss man sich eben um Kinder kümmern“, dachten sich die eifrigen Kurmanager. So konnte man sich einen sozialen Anstrich geben, und die AOK würde alles bezahlen. 1875 wurde hier mit dem Bethlehemstift das erste Kindererholungsheim Deutschland errichtet.
Ich weiß nicht, wie es konkret in Augustbad zuging, aber grundsätzlich werde ich skeptisch, wenn ich „Kindererholung“ höre. Das ist ja oft eher Kindesmisshandlung, was dann leider immer erst 50 Jahre später ans Licht kommt. Und dann glauben alle, dass es aktuell sicher viel besser abläuft, bis in 50 Jahren die nächste Generation von dem in ihrer Kindheit erlittenen Missbrauch berichtet. Eigentlich muss man klipp und klar sagen: Wer Kinder wirklich mag, der bekommt erst gar keine.
Wahrscheinlich aus genau diesem Gedanken verfügte die kinderfreundliche Rote Armee 1945 die Schließung der Einrichtung. Später übernahm die Volkspolizei der DDR, die hier eine Ausbildungsstätte betrieb. Ein Teil des Geländes war ein Altenheim. Das stelle ich mir eigentlich ganz nett vor, so mitten im Wald.
Nach dem Ende der DDR wurden diese beiden Einrichtungen geschlossen, das Gelände an die Nachfolger der früheren Eigentümer restituiert, und verfiel. Fast alles, was in Ostdeutschland verfällt, ist die Schuld von Wessis, die sich nach 1990 altes Familieneigentum zurück übertragen ließen, die bis dahin bestehende Nutzung beendeten, und dann nichts Neues anfingen. In Augustusbad gab es tatsächlich Pläne für die Wiederaufnahme des Kurbetriebs, aber dann kam 1996 die Gesundheitsreform, schränkte die Gewährung und Finanzierung von Kuren gewaltig ein, und das war’s.
Aber wir sind nicht zum Lamentieren über die Vergangenheit hier, sondern zum Wandern.
Bald endet der Wald, und man kommt nach Kleinwachau. Das strahlt noch etwas von Kurort aus, obwohl die Gäste längst weg sind.
Nur ein Doldi hat die Deutschlandfahne falsch herum aufgehängt. Der Weg vom Patrioten zum Patridioten ist halt doch kürzer als der Weg von Radeberg nach Radeburg.
Dafür ist mein Weg umso schöner, denn er führt jetzt durch ein weites Tal in einem Buchen- und Birkenwald, immer an der Großen Röder entlang. Die Große Röder ist nicht so groß, wie sie behauptet, aber bei Gewässernamen wird ja viel getrickst und gelogen. Das Schwarze Meer ist zum Beispiel gar nicht schwarz, das Rote Meer nicht rot. Nur das Tote Meer, das ist echt bald tot. Fast hätte ich gesagt: Wenn Ihr es noch sehen wollt, fahrt schleunigst hin. Aber dann fiel mir ein, dass die Eisenbahnlinie gerade gesprengt wurde. Schade.
Wanderwege, die an einem Fluss entlang führen, gefallen und behagen mir. Nicht nur optisch, sondern auch, weil man die Wanderkarte wegstecken und einfach dem Wasserlauf folgen kann. Einen Schritt vor den anderen, und irgendwann kommt man zum Meer. Oder zur Quelle, wenn man falschherum läuft. Aber ganz so doof bin ich dann doch nicht.
Vielleicht heißt die Große Röder auch so, weil hier eine Mühle an der anderen steht. 80 Mühlen an einem gerade mal 100 km langen Fluss. Und das sind ja doch mehr als an so manch anderem Fluss von Weltruhm. Am Nil oder am Amazonas gibt es fast gar keine Mühlen, soweit ich gesehen habe. Die bauen lieber Pyramiden und wundern sich dann, dass sie verhungern.
Apropos Pyramiden: Wusstet Ihr, dass die ältesten Pyramiden der Welt in Bosnien zu finden sind? Und nach Visoko kommt man sogar mit der Eisenbahn. Das Deutschlandticket gilt da leider nicht, aber dafür noch immer die D-Mark.
Und dann wandelt sich das Tal plötzlich in einen Landschaftspark: das Seifersdorfer Tal, einen der ältesten deutschen Landschaftsgärten. Die Idee dafür kam, wie für so vieles, aus England. Die sogenannten englischen Gärten setzten einen bewussten Kontrast zu den geometrisch perfekten, aber irgendwie unnatürlichen Barockgärten französischer Machart.
Die englischen Landschaftsparks sind zwar auch künstlich angelegt, aber sie fügen sich in die Begebenheiten der Natur wie Hügelketten oder Flussläufe ein, anstatt alles absolutistisch plattzumachen. Durchsetzt wird das ganze mit Staffagebauten wie Tempeln, Einsiedeleien, Brücken, Grotten. Manchmal, wie im Fürst-Pückler-Park Branitz in Cottbus, taucht sogar in diesen Parklandschaften eine Pyramide auf.
Aber ich will nicht weiter theoretisieren und erklären, wenn ich Euch stattdessen einfach ein paar Fotos aus diesem wunderschönen Tal zeigen kann.
Angeblich wurde das Tal von Christina von Brühl geschaffen, die hier ab 1775 lebte. In Ostdeutschland waren die Frauen schon immer ein bisschen emanzipierter, und auch die Gräfin wollte nicht nur Hausfrau sein. Stattdessen schnappte sie sich einen Spaten und eine Kelle und begann zu buddeln und zu mauern.
Weil sie literarisch, künstlerisch und musikalisch gebildet war, enthielt der Park allerlei Tempel, Statuen und Schnörkeleien, die auf die Epoche der Empfindsamkeit anspielten. Aber auch konkrete Personen aus jener Zeit wurden gewürdigt, von Herder bis Klopstock, Goethe bis Caspar David Friedrich.
Viele der Künstler schauten gerne vorbei. Als Künstler lebt man ja immer verarmt in einer Dachgeschosswohnung, da ist es praktisch, wenn Freunde einen großen Garten haben.
Andererseits kommt natürlich auch keiner von den schöngeistigen Schnöseln vorbei, wenn er im Wald übernachten muss. (Ich wäre da anders.) Deshalb gibt es oberhalb des Tals den Ort Seifersdorf und in diesem Ort ein Schloss.
Eigentlich muss ich dringend nach Radeburg und Radebeul und wollte deshalb allen unterwegs lauernden Ablenkungen entsagen. Aber dieses eine Schloss gönnen wir uns, auch wenn es ein beschwerlicher Umweg ist. Irgendwann laufe ich mir noch die Füße platt, nur weil die weltweite Leserschaft unersättlich nach Schlössern gelüstet.
Schloss Seifersdorf bekommt gerade ein frisches Make-Up verpasst, weshalb es nicht so gut aussieht wie sonst. Aber ein schöner Park gehört zum Schloss, ganz so wie wenn das Seifersdorfer Tal nicht schon genug wäre. Kein Wunder, dass die Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone für eine Bodenreform votierten, um gegen die ungleiche Parzellierung ihres Landes zu protestieren.
Von diesem kleinen Schloss in Sachsen stammt übrigens die britische Königsfamilie.
Das habt Ihr wahrscheinlich nicht gewusst, weil die Leserschaft meines Blogs kaum Schnittmengen mit der Leserschaft der Klatsch- und Tratschpresse hat. Ich muss gestehen, ich habe noch nie eine von diesen gelben Zeitungen gelesen, die zu Hunderten an den Supermarktkassen ausliegen. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, die haben in der Redaktion einen Zettelkasten mit hundert Prominenten (Katarina Witt, Boris Becker, der Hund vom Moshammer, und so weiter) und einen zweiten Zettelkasten mit hundert Schlagwörtern (Ehedrama, Gehirntumor, Insolvenz, und so weiter). Kurz vor Redaktionsschluss muss der Praktikant aus jeweils einem der beiden Kästen blind einen Zettel nehmen. Durch diese zufällige Kombination entstehen die Geschichten: „Ehedrama auf dem Eis: Der Mann rutscht immer aus“ „Boris Becker erleichtert: Kein Gehirn(tumor)“ „Moshammer: Ist jetzt auch der Hund pleite?“ Und so weiter, Woche für Woche. Passt einfach mal auf, wenn Ihr wieder an diesen Papierverschwendungsmagazinen vorbeigeht.
Jedenfalls ging das so: Friedrich Hauke war Sekretär beim Grafen von Brühl (das war der Mann von der Gärtnerin). Der Sekretär bekam 1775 auf Schloss Seifersdorf einen Sohn, Hans Moritz Hauke. Dieser wiederum hatte eine Tochter, nämlich Julia Hauke. Diese Julia heiratete Prinz Alexander von Hessen, der wegen der Heirat mit einer Nichtprinzessin enterbt wurde und daraufhin ein neues Adelsgeschlecht gründete, nämlich das Haus Battenberg.
Die Kinder aus dieser Familie zogen in alle Welt, um Unheil zu verbreiten, z.B. nach Bulgarien, nach Schweden, nach Spanien, nach Burma, nach Indien und auch nach Großbritannien. Während des Ersten Weltkriegs waren die Deutschen irgendwie nicht so gut angesehen, also änderte die Familie den deutschen Namen Battenberg in das englische Mountbatten.
Die Sprösslinge dieser Familie wurden alle Königinnen von Spanien und Schweden, Könige von Burma und Indien, Admiräle und Generäle. Nur einer, Philip Mountbatten, hatte keinen Bock und wollte einfach nur als Marineoffizier um die Welt fahren. Leider lernte er dabei Königin Elisabeth II. kennen. Die stammte ebenfalls aus einer sächsischen Familie (Sachsen-Coburg und Gotha), die ebenfalls im Ersten Weltkrieg einen englischen Namen angenommen hatte (Windsor). Jedenfalls verliebte sich Elisabeth in Philip und wollte ihn heiraten. Das ist eigentlich das Schlimmste, was dir im Leben passieren kann.
Philip dachte angestrengt nach, wie er aus der Nummer rauskäme. Ihm fiel nur eins ein: „Das geht nicht, ich bin Ausländer!“ Er hatte nämlich nur den griechischen, den dänischen und den deutschen Pass. Leider darf die Königin, weil sie von Gott eingesetzt ist, alles. Sogar die britische Staatsbürgerschaft verleihen. Also drückte sie dem verdutzten Leutnant einen Pass in die Hand und sagte: „Wenn der Krieg vorbei ist, findet die Hochzeit statt.“ Philip hoffte auf einen Dreißigjährigen oder gar Hundertjährigen Krieg, aber leider war zwischenzeitlich die Atombombe erfunden worden, was Kriege erheblich verkürzte. Das Uran dafür kam übrigens aus Sachsen, und so schließt sich der Schaltkreis.
Das war etwas verkürzt, aber wir haben hier nicht ewig Zeit.
Zurück im Seifersdorfer Tal schlage ich an dieser Gabelung natürlich den gefährlicheren der beiden Wege ein. Überhaupt sollte man immer im Leben so handeln, dass es eine bessere Geschichte ergibt.
Das versprochene Hochwasser zeigt sich nicht, wahrscheinlich hat es anderswo zu tun. Aber dieser Abschnitt des Seifersdorfer Tals, der nach Grünberg führt, ist noch einmal wunderschön.
Grünberg ist ein Kuhdorf.
Das soll jetzt kein despektierliches Verdikt eines Großstädters (der selbst aus einem kleinen Kaff stammt) sein. Nein, es ist einfach nur eine Feststellung. Denn die Grünberger und Grünbergerinnen scheinen sich wirklich sehr mit Kühen zu identifizieren. Überall sitzen, stehen, liegen und lauern Kühe. In den Gärten, auf dem Spielplatz, am Wertstoffhof, auf dem Verteilerkasten und sogar auf dem öffentlichen Bücherschrank.
Es ist nur eine Kleinigkeit, aber so wird der Spaziergang durch das Dorf zum Vergnügen. Man erfreut sich an jeder weiteren Kuh, die man erspäht. Und man wundert sich (bis heute), was es damit auf sich hat.
Am Ortsausgang steht ein Kirchlein. Als ich näher komme, denke ich mir: „Nein, die werden doch nicht etwa …“
Aber sie haben es getan.
In Grünberg triumphiert die Kunstfreiheit. Das ist ja mal eine kuhle Gemeinde!
In dieser lustigen Kirche wirkten die Pfarrer Magnus Adolph Blüher und Samuel David Roller, die eine Schule zur Vorbereitung auf die Mission betrieben. Zwischen 1837 und 1848 wurden junge Männer aus Sachsen zur Mission nach Australien verschifft. Die meisten von ihnen kehrten nicht zurück, sondern wurden Goldschürfer, Opalschleifer und Surflehrer. Allerdings scheint es noch regen Postverkehr zu geben, denn neben dem normalen gelben Postkasten gibt es einen für Briefe nach down under.
Außerdem ist Australien nicht so schön zum Wandern wie Mitteleuropa, wo gleich nach Grünberg der Hermsdorfer Park folgt. Dieser Park fängt wild und verwegen an, wird dann immer organisierter und gepflegter, bis man irgendwann merkt: Hoppla, der gehört ja schon wieder zu einem Schloss. Das ist auch so eine Sache, die mir in Australien fehlen würde. Da kannst du 2000 Kilometer wandern und findest kein einziges Schloss. Außer so nachgebaute Kitschschlösser.
Zum Glück tobt bei Schloss Hermsdorf gerade ein Fest, sonst wäre ich da auch wieder eine Stunde abgehangen und hätte weitverzweigte Ahnengalerien ausgegraben. Aber mit Festen kann man mich jagen, weil ich alles, wo mehr als zwei Leute fröhlich beisammen sind, als unangenehm empfinde. Wenn es nicht fröhlich sein muss, dann geht es. So wie an der Universität, im Zug oder auf Demonstrationen. Geburtstage, Fasching und ähnlich hirnloses Halligalli sind mir hingegen ein Graus.
Außerdem wird es langsam spät, ich bin ja schon seit dem frühen Morgen und seit Radeberg unterwegs. Nach Radeburg muss ich es mindestens schaffen, denn von dort fährt der Zug zurück nach Dresden und nach Hause.
Also lege ich einen Zahn zu, höre auf zu labern bzw. zu schreiben und mache nur hier und da ein kleines Foto. Gegen Ende des Tages verfliegen leider die Begeisterung und die Aufnahmefähigkeit. Ich kämpfe mich nur mehr Kilometer um Kilometer über Feldwege und durch Wälder, einen Schritt vor den anderen, im ständigen Kampf gegen Erschöpfung und Hunger.
Und dann ist es endlich da: Radeburg. Nur ein Zwischenziel, aber für heute reicht es. Verwechseln werde ich die beiden Orte jedenfalls nicht mehr!
Ich bin mir sicher, Radeburg hat höchstinteressante Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten zu bieten, aber die sich unaufhörlich dem Horizont zuneigende Sonne signalisiert: Jetzt ist Schicht im Schacht!
Mit letzter Energie marschiere ich zum Bahnhof und hoffe auf das Glück, das mir gewöhnlich stets hold ist und einen innerhalb weniger Minuten abfahrbereiten Zug in die gewünschte Richtung bereithält.
Leider gibt es auf diesem Bahnhof weder Glück noch Züge.
„Kulturbahnhof“ steht da. Das ist schön, aber es bringt mich nicht nach Hause. Es gibt keinen Informationsschalter, keinen Fahrkartenautomaten, keinen Bahnhofsvorsteher und überhaupt nichts, was einen Bahnhof zu einem Bahnhof machen würde.
Nur ein kleiner Aushang informiert mich, dass die Strecke von Radeburg nach Dresden nicht von der Deutschen Bahn, sondern von der Lößnitzgrundbahn und von den Dampfloks, die ich am Morgen im Hauptbahnhof gesehen habe, betrieben wird. Der letzte Zug fuhr um 16:06, vor etlichen Stunden.
Leichte Verzweiflung macht sich breit.
Schon denke ich darüber nach, wo ich die Nacht verbringen werde. Einen Pullover habe ich dabei, vielleicht genügt das gegen das Erfrieren. Ich könnte auch trampen, zumindest bis nach Dresden, von dort fährt sicher noch ein später Zug nach Chemnitz. Aber dazu muss ich an den Stadtrand, sonst nimmt mich niemand mit. Aber schnell, denn bei Dunkelheit nimmt mich erst recht niemand mehr mit. Die Verzweiflung steigt.
Auf dem Stadtplan entdecke ich einen Busbahnhof. Die letzte Chance. Schnell hin!
Ich laufe atemlos durch den Stadtpark, die örtliche Jugend mit ihren Bierdosen wundert sich. Aber es wäre wirklich ärgerlich, hier auch den letzten Bus zu verpassen. Falls überhaupt noch einer fährt an einem Samstagabend.
Auch hier hängt ein Zettel. Am Samstag fahren natürlich weniger Busse als sonst. Aber um die Leserschaft nicht unnötig auf die Folter zu spannen und um zukünftigen Ausflüglern behilflich zu sein: Selbst am Wochenende fährt um 19:09, um 20:54 und um 22:23 noch ein Bus von Radeburg nach Dresden.
Ende gut, alles gut. Und ich hätte nicht einmal so hetzen müssen.
Wann geht es weiter? Ist Radeburg vielleicht doch einen Besuch wert? Erwische ich das nächste Mal die Eisenbahn? Gibt es zwischen Radeburg und Radebeul wieder eine Menge Schlösser? Und warum kann es tödlich enden, Radeberg und Radeburg zu verwechseln?
All dies und vieles mehr beantwortet demnächst Teil 3 dieses Wanderberichts.
Links:
In der Zwischenzeit könnt Ihr Euch die Zeit mit weiteren Wandergeschichten vertreiben.
Gestern bin ich aus Versehen genau um die Uhrzeit nach Hause gegangen, zu der die Schülerinnen und Schüler aus den Lehr- und Bildungsanstalten entlassen werden, um das zu tun, was Kinder halt so mit dem Rest des Tages tun. Wahrscheinlich irgendwas mit Computern und Pokemon. Keine Ahnung, ich kenne schließlich keine Kinder.
Auf dem Weg durch eine der vielen als Kleingärten getarnten Cannabisplantagen in Chemnitz spazierten zwei Schülerinnen in den wohlverdienten Nachmittag. Sie waren sehr klein. Maximal 10 Jahre, schätze ich. Ihre Tornister waren sehr groß. Mindestens 10 Kilo, schätze ich.
Die beiden Schülerinnen schlurften gebückt, geplagt und erschöpft von ihrem Tagwerk, und ich dachte nur: „Haltet durch! Wenn Ihr erst einmal an die Universität kommt, dann kriegt Ihr einen Spind, in den Ihr Bücher, Pausenbrote und den Laptop einsperren könnt und nicht mehr mit nach Hause nehmen müsst.“
Ich weiß nicht, warum man Kleinkinder jeden Tag das Äquivalent einer Kohlenfuhre schleppen lässt und erwachsene Studenten verwöhnt. Vielleicht weil für die einen das Kultus- und für die anderen das Wissenschaftsministerium zuständig ist. Oder die Bundeswehr will das so, um die jungen Menschen auf spätere Gewaltmärsche vorzubereiten.
Zusätzlich zu den Tornistern hatten die Schülerinnen noch Turnbeutel und Zeichenmappen umgehängt. In einer Schuhschachtel trugen sie ein Projekt aus dem Werkunterricht. Im kommenden Schuljahr müssen sie dann wahrscheinlich einen Leiterwagen hinter sich herziehen, um immer einen Globus, ein Aquarium und eine kleine Sternwarte bei sich zu haben. Für den Fall, dass gerade das Jugend-forscht-Auswahlkomitee vorbeischaut.
Da klingelte bei einer der Schülerinnen das Handy.
„Oje“, sagte sie mit einem lauten Seufzer, „das ist meine Mama. Da muss ich rangehen.“
Die Kinder heutzutage sind sehr höflich und entschuldigen sich gegenüber anderen Kindern, wenn sie ans Handy gehen. Nicht wie die verzogenen Erwachsenen, die glauben, Anrufe seien ein Beleg für ihre Wichtigkeit. In Wirklichkeit ist man erst wichtig, wenn man gar kein Telefon mehr braucht.
„Wann wird dieser Blog endlich eliminiert?“
Was die Mama sagte, konnte ich nicht hören. Es ging mich ja auch nichts an.
Aber es muss etwas Dramatisches gewesen sein. Denn das kleine Mädchen wurde laut und bestimmt: „Beruhige dich, Mama! Ich komme so schnell wie möglich, ohne Umwege. Ich bin gleich zuhause.“
Nachdem sie aufgelegt hatte, sagte sie zu ihrer Freundin, ganz sachlich und unaufgeregt: „Manchmal denke ich, es wird mir alles zu viel. Zuerst sterben meine drei Kaninchen, eines nach dem anderen. Dann bekommt meine Oma Krebs. Mein Opa wurde gerade ins Krankenhaus eingeliefert, weil er Bauchschmerzen hat. Und jetzt hat der Freund meiner Mutter versucht, sich umzubringen.“
Was das andere Mädchen antwortete, konnte ich nicht mehr hören. Denn ich war, was selten vorkommt, etwas aus der Bahn geworfen und musste mich auf die nächstbeste Bank setzen.
Die beiden Mädchen hingegen spazierten weiter durch die Gärten. Kein Lamentieren, kein Wehklagen, kein Geheule, keine zur Schau gestellten Mitleidsbekundungen. Sie gingen nur ein bisschen zügiger, um hoffentlich noch rechtzeitig zur Mama zu kommen.
Manchmal sind diese kleinen Kinder erwachsener als die offiziell Erwachsenen.
Wenn Mandanten bei mir nach mehreren Stunden aus der erbrechtlichen Beratung kommen, dann schwirrt ihnen der Kopf.
Vorerbschaft, Zwischenerbschaft und Nacherbschaft. Apostille und Kodizill. Trusts, Stiftungen und Familienfideikommisse. Pflichtteil und Noterbrecht. Autonomes Kollisionsrecht oder Europäische Erbrechtsverordnung? Sächsisches Anerbenrecht oder römische Realteilung? Was sagt das Foralrecht des Königreichs Aragón zur Vererbbarkeit von Katzen? Warum hat das Gesetz des Großherzogtums Baden über geschlossene Hofgüter im Hochschwarzwald Vorrang vor dem Bürgerlichen Gesetzbuch? Aber gut, das Niederlassungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Persien von 1929 gilt ja auch noch, obwohl beide Staaten nicht mehr existieren. Darf man seine Cannabis-Pflanzen an Minderjährige vererben? Gelten die alten DDR-Testamente noch? Und immer wieder die Frage: Machen wir ein Damnationslegat oder ein Vindikationslegat?
Kein Wunder, dass niemand mehr durchblickt. Ich selbst übrigens auch nicht.
Manche Mandanten fragen dann ganz schüchtern: „Geht das nicht auch einfacher?“
Die gute Nachricht: Ja, es geht.
Weil § 2247 BGB das handschriftliche Testament erlaubt, könnt Ihr Euch einfach einen Zettel und einen Stift nehmen und über Millionen und Milliarden verfügen. Ein Satz, Datum, Unterschrift, das reicht. Ihr müsst das Testament auch nirgendwo registrieren oder eintragen. Einfach an die Pinnwand in der Küche heften, und gut ist die Sache.
So hat es jetzt das bürgerfreundliche Oberlandesgericht Oldenburg bestätigt.
Der Wirt einer Dorfkneipe schrieb eines Abends auf einen Kneipenblock, auf dem sonst die Bier- und Schnitzelbestellungen notiert werden: „Gabi kriegt alles“, Datum, Unterschrift.
Den Zettel legte er hinter den Tresen, zu einem anderen Haufen ähnlicher Zettel, auf denen ausstehende Zahlungen für Biere und Schnäpse notiert waren.
Die im Testament genannte Gabi war seine Lebensgefährtin gewesen. Durch ihre Einsetzung als Alleinerbin wurden die vier Neffen und Nichten des Erblassers – ob bewusst oder unbewusst – enterbt. Die gingen, nachdem sie sich vorher jahrelang nicht blicken haben lassen, erbost zum Amtsgericht Westerstede, das den Kneipenzettel nicht als wirksames Testament anerkannte. Angeblich sei kein ernsthafter Testierwille erkennbar. Außerdem genüge die Kurzbezeichnung „Gabi“ nicht, um jemanden als Erbin zu identifizieren.
Zum Glück hatte Gabi aber noch die Puste und die Knete, um in die nächste Instanz zum Oberlandesgericht Oldenburg zu gehen. Der Unterschied zwischen Amtsgericht und Oberlandesgericht ist, dass bei letzterem die älteren Richter sitzen. Die mit Lebenserfahrung. Die solche Kneipen noch aus der Jugend kennen. Und die wissen: Was der Wirt auf den Kneipenblock notiert, das ist Gesetz.
Das Oberlandesgericht Oldenburg entschied deshalb: Ja, der Schrieb auf dem Brauereiblock ist ein wirksames Testament. Als Argument wurde herangezogen, dass der Wirt auch andere wichtige Notizen (insbesondere die Ausstände säumiger Stammgäste) auf diesen Zetteln notierte und die dementsprechenden Urkunden ebenfalls hinter dem Tresen lagerte. Außerdem stellte das Gericht durch Nachfragen fest, dass der Erblasser generell ein eher unkomplizierter Typ gewesen war. Und weil es neben der Lebensgefährtin keine andere „Gabi“ im Leben des Erblassers gab, genügte auch diese Kurzbezeichnung zur wirksamen Einsetzung als Alleinerbin.
Ihr seht also: Testieren ist kein Hexenwerk. Aber macht es dem Gericht doch bitte ein bisschen einfacher und verwendet auch die Nachnamen der Bedachten. Und schreibt sicherheitshalber „Testament“ darüber.
Wenn Ihr ganz und gar zu faul zum Schreiben seid, dann hilft nur mehr das Nottestament. Dazu müsst Ihr entweder mit drei Freunden auf eine Bergtour gehen und Euch in Lebensgefahr bringen (§ 2250 II BGB) oder auf einem deutschen Kreuzfahrtschiff in internationalen Gewässern herumtuckern und die drei Tischnachbarn als Zeugen heranziehen (§ 2251 BGB). Ich finde es beruhigend, dass der Gesetzgeber von 1896 an alles gedacht hat, was uns heute noch das Leben (und Sterben) erleichtert.
Der Himmel tobt, und ganz Deutschland ist aus dem Häuschen.
Ein großes Spektakel, noch dazu kostenlos und ohne Parkplatzsuche. Das verspricht Spaß für die gesamte Patchworkfamilie.
Wenn alle begeistert sind, werde ich immer skeptisch. Besonders vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrung mit Massenhysterie. Aber dann dachte ich mir: Locker bleiben! Nicht jeder Sonnensturm muss gleich mit der Faschismuskeule bekämpft werden.
Außerdem hatte ich gehört oder gelesen, dass es diese Polarlichter sonst nur in Norwegen gibt. Das ist weit weg und auf absehbare Zeit unerschwinglich. Zumindest für mich. Viele wissen das nicht, aber ich bin ein armer Student. Ich frage mich, wie sich norwegische Studenten das Leben in Norwegen leisten. Wahrscheinlich gibt es da Bæføg.
Ich hatte mich also schon damit abgefunden, dass ich nie im Leben ein Polarlicht sehen würde. Aber wenn man um die 50 Jahre alt und auf dem absteigenden Ast des Lebensbaumes ist, findet man sich mit allerlei Dingen ab, die man nie mehr im Leben sehen wird. Pjöngjang, Port-au-Prince, Paderborn und eben auch die Polarlichter.
Dafür lebe ich in Chemnitz. Das ist auch eine ziemlich coole Stadt. Fast wie Pjöngjang.
Und jetzt schauen hier diese Polarlichter vorbei. Vielleicht weil wir nächstes Jahr Europäische Kulturhauptstadt sind. Na gut, dachte ich mir, wenn sich dieses Wetterleuchten schon auf den weiten Weg macht, dann sollte ich ihm guten Tag sagen. Beziehungsweise gute Nacht, denn die Dinger kommen ja immer reichlich spät, nach den Tagesthemen.
Ich habe also gut gegessen, ein paar Zigarren und einen Likör zurecht gelegt, und mich voller Vorfreude auf den Balkon gesetzt. Vierter Stock, super Aussicht übers ganze Erzgebirge. Das tolle am Leben im vierten Stock ist neben der Aussicht, dass es hier oben keine Mücken gibt. Außerdem kommen weniger Hausierer vorbei, weil sie das Hundegebell im zweiten Stock schon abschreckt.
Kamera hatte ich keine dabei, denn ich denke mir immer: Die Profis machen sowieso bessere Bilder, und ich selbst kann den Moment ohne diesen technischen Schnickschnack besser genießen. Ehrlich, ich kapiere nicht, wieso jeder Mensch von jedem Ereignis ein eigenes Foto braucht. Dafür gibt es doch am nächsten Tag die Zeitung. Außerdem geht viel von der Unmittelbarkeit des Erlebens verloren, wenn man ständig Metall und Plastik und Glas zwischen sich und die Welt hält. Mich nervt das zum Beispiel volle Kanne, wenn Menschen mich treffen und als erstes ein Foto machen wollen. Wie so ein Kopfgeldjäger.
Ein paar Stunden vergingen. Uhr hatte ich keine, aber drei Zigarren habe ich geraucht. So hat man früher die Zeit gemessen. Zumindest seit 1492, vorher gab es in Europa ja keinen Tabak. Deshalb nannte man es das finstere Mittelalter. Ist Euch schon einmal aufgefallen, dass das Mittelalter genau dann zu Ende ging, als Tabak und Schokolade nach Europa kamen?
Irgendwann wurde ich müde und ging ins Bett.
Gesehen hatte ich nichts.
Am nächsten Tag das gleiche Spiel. Irgendwann fragte ich mich, wie ich mir als armer Student so viele Zigarren leisten kann, und torkelte verwirrt ins Bett.
Gesehen hatte ich wieder nichts.
Am dritten Tag fiel mir in der prallen Mittagssonne auf, dass mein Balkon nach Süden zeigt. Diese komischen Lichter sind aber wohl eher im Norden zu sehen. Kein Wunder, dass das nicht funktioniert hat.
Aber egal. Es gibt Schlimmeres, als ein paar Stunden in den Himmel geguckt und die milde Frühlingsnacht genossen zu haben.
Seit ich wieder als Rechtsanwalt arbeite, werde ich ständig zu extravaganten Veranstaltungen eingeladen. Normalerweise mache ich mir daraus nichts. Außerdem habe ich keine Zeit.
Aber als ich sah, an welchem Ort die Sächsische Rechtsanwaltskammer ihren jährlichen Empfang abhalten würde, war mir sofort klar: Das war eine kodierte Einladung in den exklusivsten Klub der Welt. Also ging ich hin.
Wenn ich mein äußeres Erscheinen betrachte, verstehe ich gar nicht, warum meine Einladung und mein Ausweis am Eingang doppelt und dreifach überprüft wurden. (Ich meine, seit meiner Zeit als Landstreicher habe ich mich doch durchaus präsentabel gemacht.) Aber am Ende öffnete mein Charme doch alle Türen.
Möglicherweise habt Ihr noch nicht viel über die Bilderberg-Konferenz gehört. So sollte es auch sein, denn die Konferenzen sind höchstgeheim. Keine Fotos, keine Zitate, gar nichts darf nach außen dringen. Man tauscht dort nicht einmal Visitenkarten aus.
Er erzählte, wie er vor vielen Jahren dem Burnout gefährlich nahe war. Über den Jahreswechsel nahm er sich ein paar Tage frei, um über seine Optionen nachzudenken und zu entscheiden, ob er weiter als Rechtsanwalt tätig sein wollte. Er erkannte, dass es eigentlich nur eine Handvoll Mandanten waren, die all den Stress und die negativen Gefühle verursachten. Der Rest war in Ordnung, manche sogar ganz nett.
Als er zurück in die Kanzlei kam, schrieb er all den nervigen Mandanten, dass er nicht mehr für sie arbeiten wollte.
Natürlich verlor er dadurch Geschäft und Umsatz. Aber er wiedererlangte die Freude an der Arbeit, neue Energie, eine innere Ruhe. Und das sind ja dann doch alles wichtigere Dinge als Arbeit und Geld.
Er erzählte weiter, dass er seither jedes Quartal die Liste aller offenen Fälle durchgeht und die nervigsten 10% der Mandate kündigt. Das ist bei uns Rechtsanwälten nicht anders als in den meisten Branchen: Ein kleiner Teil der Kundschaft bereitet einen Großteil der Kopfschmerzen. (Und oft sind es auch noch diejenigen, die Probleme mit dem Bezahlen haben.)
Kurioserweise fallen die Mandanten oft aus allen Wolken, wenn ich ihnen kündige. „Das können Sie nicht machen“, echauffieren sie sich dann, wie wenn sie ein Anrecht auf einen ganz bestimmten Rechtsanwalt hätten. Ich kenne sogar Kollegen, denen diese Möglichkeit nicht so richtig bewusst ist und die glauben, dass man einmal begonnene Sachen auf Teufel komm raus zu Ende bringen müsse.
Mit der Erfahrung wird man außerdem ziemlich gut darin, die Querulanten zu identifizieren, bevor man sich mit ihnen einlässt. Im Privat- und im Geschäftsleben ist das Wort „nein“ wirklich eines der wichtigsten. Aber, wie in Beziehungen, erscheinen manche Menschen am Anfang ganz normal und stellen sich erst mit der Zeit als ein bisschen ballaballa heraus.
Lektion zwei:
Als es an die Nachspeise ging, empfahl mir eben jener Anwaltskollege eine mir bis dahin unbekannte Spezialität aus dem Erzgebirge: Quarkkeulchen.
Diese Dinger sind der absolute Hochgenuss. Ein Fest für die Augen, den Gaumen, den Magen und die Seele. Eine kulinarische Offenbarung. Ein Feuerwerk der Glückseligkeit. (Wenn Ihr Kaiserschmarrn kennt, seid Ihr schon in der richtigen Richtung. Wenn Ihr den auch nicht kennt, ist Euer Leben traurig und trist, trost- und hoffnungslos, leer und lausig.)
Vielleicht sollte ich diese zwei Lektionen verknüpfen und nur mehr mit Mandanten arbeiten, die mich zur Erstberatung zu einem großen Teller Quarkkeulchen einladen.