Hüben und Drüben von Außen betrachtet

Früher, vor Erasmus, war das mit dem akademischen Auslandsaufenthalt noch kompliziert: Visum, Krankenversicherung, Geld wechseln. Außerdem gab es kein Internet, so dass man nicht schon aus der Ferne eine Wohnung suchen konnte. Die erste Woche schlief man also im Hotel und telefonierte täglich die Kleinanzeigen der örtlichen Zeitung ab. Wenn man als ausländischer Student nach Deutschland wollte, trat eine zusätzliche Schwierigkeit hinzu: Man musste sich entscheiden, in welchem der beiden Deutschlands man studieren wollte.

Wen der letzte Satz überrascht, der ist entweder zu jung oder wurde (wie ich) in Westdeutschland sozialisiert, wo man ganz selbstbewusst davon ausging, dass jeder, der es sich aussuchen könne, den Westen dem Osten vorziehen würde. „In die DDR konnte man doch gar nicht so einfach“, werden viele einwerfen, aber ein Tondokument aus dem Jahr 1988 macht diese und weitere meiner diesbezüglichen Annahmen zunichte.

Der Deutschlandfunk interviewte im letzten vollständigen Jahr der deutschen Teilung britische Germanistik-Studentinnen, die Auslandssemester in der BRD und der DDR verbracht hatten, teilweise alternativ, teilweise kumulativ, und so von beiden deutschen Staaten aus erster Hand berichten und vergleichen konnten. Ich empfehle, die Sendung selbst anzuhören. Die erfrischende Offenheit und treffenden Beobachtungen der Studentinnen sind es wert. Und man wird doch immer wieder überrascht, schon von der Tatsache, dass es zwischen der DDR und Großbritannien einen Studentenaustausch gab. Den britischen Studierenden erschien die DDR exotischer als die BRD und letztere konnte man ja immer noch als Tourist bereisen, so dass sich viele von ihnen für den Aufenthalt in einem sozialistischen Land entschieden.

Wie es auch heute noch in Deutschland so ist, fanden die britischen Kolleginnen die BRD-Universitäten als anoyme Masseneinrichtungen vor, in denen sie sich alleingelassen fühlten. Es war schwer, Anschluss oder gar Freunde zu finden. „Die Deutschen hatten kein Interesse, mit uns zu sprechen“, erzählten sie, und viele, die sich derzeit in Deutschland zu integrieren versuchen, nicken wissend. In der DDR hingegen war die Aufnahme besser organisiert, aber auch freundlicher und herzlicher. Die britischen Studentinnen selbst vermuteten, dass es daran gelegen haben mag, dass sie als Westeuropäer in der DDR einen Exotenstatus genossen. Denn sie berichteten auch, dass die Gaststudenten aus „sozialistischen Bruderländern“ (z.B. Bulgaren und Polen) gar nicht brüderlich, sondern mit deutschnationalstolzer Überheblichkeit behandelt wurden.

Jeder, der aus dem Ausland nach Deutschland kommt, hat Angst vor der Bürokratie (auch heute noch). Bürokratisch waren beide Staaten. Aber in der DDR erklärte sich immer jemand bereit, zu helfen, während die in der BRD Studierenden am häufigsten die Sätze „dafür sind wir nicht zuständig“ und „das ist Dein Problem“ hörten.

Besser fanden sie in der BRD aber das Studium an sich. Zwar war die Freiheit an den bundesdeutschen Hochschulen am Anfang verwirrend, aber die Veranstaltungen lagen auf hohem wissenschaftlichen Niveau. In der DDR fühlten sich die Germanistinnen unterfordert und fanden den Unterricht sogar „kindlich“ in seiner antikapitalistischen Propaganda.

Große materielle Unterschiede konnten sie übrigens nicht feststellen. Wie wir im Westen hatten die Britinnen Geschichten von langen Schlagen vor leeren Geschäften in Ostdeutschland gehört und waren dementsprechend überrascht, als sie davon nichts sahen. Sie fanden zwar die Menschen in der BRD materialistischer (wenn sie das in den 1980ern schon feststellten, was würden sie heute sagen?), die Lebensqualität in der DDR aber etwas höher. Dort waren die Restaurants besser und für Durchschnittsbürger zugänglich. Selbst Studenten kochten nicht selbst, sondern gingen essen. Das Mensa-Essen war in beiden deutschen Staaten identisch: „Jeden Tag Kartoffeln, Fleisch und irgendeine Soße. Und in beiden Ländern das gleiche billige Plastikgeschirr. So habe ich mir immer eine Gefängniskantine vorgestellt.“

Außenstehende sind natürlich die idealen Gesprächspartner, um zu eruieren, was die Westdeutschen über die Ostdeutschen und umgekehrt dachten. Die Germanistinnen, die in Großbritannien anscheinend beide deutschen Staaten landeskundlich untersuchten, waren in der BRD schockiert über das mangelnde Wissen, ja das mangelnde Interesse an der DDR. Man hatte ein unumstößliches, negatives Bild, das nicht durch eigene Erfahrungen zustande gekommen war und das man auch gar nicht durch eigene Erfahrungen ins Wanken bringen wollte. Diese Schilderungen kamen mir sehr vertraut vor, denn noch heutzutage entspricht dies dem Osteuropa-Bild vieler Deutscher. Es ist arm, es ist negativ, man will nicht dorthin, man will niemanden von dort kennenlernen, und man will es auch gar nicht besser wissen. Eine der Studentinnen beschrieb, dass sie immer die gleiche Reaktion erhielt, wenn sie in der BRD erzählte, dass sie vorher in der DDR gelebt hatte: „Oh“ und dann Schweigen. Genauso geht es mir, wenn ich in Deutschland von Rumänien oder Litauen erzähle. „Oh“ und dann ein leerer Gesichtsausdruck, der die östlich der Oder-Neisse-Linie leere geistige Landkarte offenbart.

In der DDR hingegen herrschte ein mit der Realität nicht übereinstimmendes positives Westbild vor. Eine lustige Anekdote: Die britischen Jungakademikerinnen erzählten von der Arbeitslosigkeit in Großbritannien. Die ostdeutschen Kommilitonen waren ganz erstaunt, denn „wir haben davon immer in unseren Büchern gelesen, aber wir dachten, das sei antiwestliche Propaganda und haben es nicht geglaubt.“

Am Ende noch ein überraschender Moment (ab Minute 42:25). Die Interviewerin fragt die Studentinnen, die beide deutsche Staaten kennengelernt haben, wo sie lieber arbeiten würden, wenn sie zwischen der BRD und der DDR wählen müssten. Die Wahl ist eindeutig. Diese intelligenten, gebildeten Deutschlandexpertinnen (wie wir dank John le Carré wissen, rekrutierte der britische Geheimdienst damals vorzugsweise Germanisten) entscheiden sich alle für den Staat, der im darauffolgenden Jahr nicht mehr so bestehen wird, auch dank des Beitrags ihrer Kommilitonen.

Der Deutschlandfunk bietet noch drei weitere Sendungen mit Aufnahmen aus dem Jahr 1988, darunter mit Demonstranten aus Wackersdorf und den ersten Hackern jener Zeit.

(Dieser Artikel erschien auch im Freitag.)

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Warum die Demokratiebewegung der DDR keine Chance hatte

Gefunden im Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt.

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Breslau – erster Eindruck

Vor wenigen Jahren, als ich noch jung war, konnte ich problemlos 27 Stunden am Stück mit der Eisenbahn fahren. Und kurz darauf gleich nochmal. Und dann sogar sagenhafte 38 Stunden.

Aber mittlerweile bin ich alt und bequem geworden, so dass ich selbst eine kurze Zugreise ins Baltikum schon in Schlesien unterbrechen muss. Das gilt umso mehr, als es sich um eine Geburtstagsreise handelt, bei der man dummerweise schon wieder ein Jahr älter wird. (Wenn man nicht diesen völkerrechtlichen Trick anwendet.)

So bin ich diesen Sommer in Breslau gelandet, habe mich für einen Zwischenstopp entschieden und bin zwei Tage unvorbereitet und ziellos durch die Stadt gestreunt. Weil ich mich diesmal nicht in die Stadtgeschichte eingelesen hatte, kann ich Euch die langen und langweiligen Ausführungen sparen, und präsentiere Euch einfach ein paar unkommentierte Fotos. Die ersten Eindrücke.

Breslau ist eine ziemlich coole Stadt.

Eine interessante Mischung aus alt und neu. Viel Kultur. Vor allem für die Größe der Stadt erstaunlich wenig Hektik oder Stress. Ich habe mich sehr wohl gefühlt. Also, wenn jemand von Euch in Breslau wohnt und mal einen Katzensitter benötigt, bitte gebt Bescheid!

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Advocatus Diavolo

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Wannsee

Read this in English.

Ich fahre mal wieder mit dem Zug von der Kultur- in die Bundeshauptstadt, von Chemnitz nach Berlin. Weil ich das oft mache und weil mich das Deutschlandticket auf die Regionalzüge verweist, variiere ich die Strecke je nach Lust und Laune. Manchmal steige ich in Elsterwerda um, manchmal in Jüterbog, und heute in Dessau.

Der Zug ist schon ziemlich voll, so dass ich schnell entscheiden muss, zu wem ich mich platziere. Am liebsten setze ich mich zu Menschen mit Büchern. Oder zu alten Menschen, die haben interessante Lebensgeschichten.

Da sehe ich ein junges Paar, erkennbar aus Israel. Sie sprechen Hebräisch, und der Junge trägt eine Kippa. Ich setze mich zu ihnen, schon allein, damit sich beim nächsten Halt kein Antisemit dazugesellt und ihnen die Fahrt vermiest.

Weil ich nicht nur vorausschauend und stets auf das Wohlergehen all meiner Mitmenschen bedacht, sondern auch höflich bin, begrüße ich sie auf Hebräisch. So wissen die beiden Reisenden, dass ich ihre Sprache verstehe, und können ihre Konversation notfalls dementsprechend anpassen, um keine Privat- oder Staatsgeheimnisse auszuplaudern.

Die jugendlichen Reisenden befinden sich jedoch anscheinend auf Flitterwochen, denn sie unterhalten sich ganz ungeniert und verliebt.

Oder sie haben gemerkt, dass mein Hebräisch gar nicht so gut ist. Mittlerweile habe ich das meiste wieder verlernt und verstehe nur mehr die Zahlen, sowie die Wörter für Bier (בירה), Pizza (פיצה) und Kibbutz (קיבוץ). Was man halt so braucht für eine Reise durchs Heilige Land. Und das Wort „אצטרובל“ [itstrubál] für Putzelkuh. Es ist komisch, wie das Gehirn funktioniert. Was ich lernen und memorieren will, das bleibt nicht hängen. Aber dieses Wort, das ich vor mehr als 25 Jahren im Wald von Ben Shemen einmal hörte, das hat sich in einer Gehirnzelle so hartnäckig festgesetzt wie ein israelischer Siedler im Westjordanland.

Fast genauso putzig wie das Wort „אצטרובל“ sind die Namen der Orte, die wir passieren:

Jeber-Bergfrieden.

Bad Belzig.

Borkheide.

Beelitz-Heilstätten.

Oh, jetzt weiß ich endlich, wo dieser berühmte „Lost Place“ ist.

Brandenburg ist wie Oberägypten. Ein paar interessante Ruinen, aber sonst viel Sand und alle paar Jahre eine Überschwemmung. (Oberägypten ist übrigens der Teil von Ägypten, der auf der Karte unten ist. Das ist wie Oberbayern oder Obervolta.)

Ich schweife ein bisschen ab, weil ich das Unvermeidliche hinauszögern möchte. Am liebsten würde ich den Zug umlenken. Denn ich weiß ja, woran wir bald vorbeifahren werden.

„Naja,“ denke ich, „das sind junge Leute. Denen wird das gar nichts mehr sagen.“ Außerdem sind sie sehr glücklich und scherzen miteinander. Wahrscheinlich doch keine Hochzeitsreise, sondern in der schönen Zeit vor diesem fatalen Fehler, den viele Menschen trotz meiner beständigen Warnung begehen.

Falls das jemand für zu negativ empfindet: Ich bin auf dem Weg zum Familiengericht, weil sich zwei Eltern seit Monaten um die Umgangszeiten mit ihrem Sohn streiten. Eigentlich sollten heirats- und vor allem paarungswillige Menschen verpflichtet werden, sich anzusehen, wie schnell Liebe in Hass umschlägt, bevor sie „ja, ich will“ sagen dürfen. Wahrscheinlich sind deshalb die Verfahren beim Familiengericht dem Zugang der Öffentlichkeit entzogen, wie sonst nur Spionageprozesse. Der um die Bevölkerungspyramide besorgte Staat will nicht, dass die Menschen die Wahrheit sehen.

Wilhelmshorst.

Potsdam-Rehbrücke.

Potsdam-Babelsberg.

„Unser nächster Halt ist Berlin-Wannsee. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“

Das Mädchen neben mir zuckt zusammen: „? ואנזה בגרמניה“ (Wannsee ist in Deutschland?)

Da wird mir klar, dass Wannsee für sie nur einer der vielen Orte des Holocausts ist, über die sie in der Schule gelernt hat. Und weil einige der bekanntesten davon – Auschwitz, Sobibor, Treblinka, Babi Jar, Majdanek – weit im Osten liegen, entsteht manchmal der Eindruck, dass Morden sei weit weg vom Land der Mörder geschehen.

Vielleicht mögen deshalb die Deutschen diese Gedenkstätten in Osteuropa so gerne. Da kann man einmal im Leben pflichtschuldig hinfahren, und sich dann einreden, dass zuhause in Münster oder Bremen oder Fulda niemand etwas vom Holocaust hätte ahnen, geschweige denn wissen können.

Deswegen halte ich nichts davon, alle deutschen Schulklassen nach Auschwitz zu karren, wie es regelmäßig von Bildungspolitikern und Busunternehmern gefordert wird. Die sollen nach Sachsenhausen fahren, wenn sie aus Berlin sind. Nach Dachau, wenn sie aus München sind. Nach Neuengamme, wenn sie aus Hamburg sind. Nach Grafeneck, wenn sie von der Schwäbischen Alb sind. Nach Flossenbürg, wenn sie aus der Oberpfalz sind. Mit Tausenden von Konzentrationslagern, Gestapo-Gefängnissen, Zwangsarbeiterlagern, Euthanasie- und anderen Mordstätten muss man in Deutschland wirklich nicht weit schauen, um zu erkennen, wie allgegenwärtig der Völkermord und andere Verbrechen waren.

Am Bahnhof in Wannsee haben sie seit damals nicht einmal die Schilder ausgetauscht. Es wird mir immer noch unheimlich, jedes Mal wenn ich daran vorbeifahre.

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Juhu, ich bin in Timbuktu!

To the English version.

Kennt Ihr das auch?

Es gibt so Orte, Länder, Städte, in die man schon immer wollte, obwohl man eigentlich kaum etwas darüber weiß. Manchmal geht der Wunsch ewig zurück, wahrscheinlich bis zu irgendwelchen Comics, die man als Kind gelesen hat. Aber die Idee setzt sich fest, gerät manchmal aus dem akuten Blick, aber verschwindet doch nie ganz. Eine unerklärliche, aber tiefe Sehnsucht.

In meinem Fall ist Timbuktu eine dieser Traumstädte, obwohl ich die längste Zeit gar nicht wusste, dass es in Mali liegt. Für uns Europäer, das muss mal selbstkritisch gesagt werden, ist der ganze afrikanische Kontinent ja viel zu oft ein einziges großes, exotisches Land.

Gegen derartige Ignoranz hilft nur das Reisen.

Und endlich bin ich in Timbuktu!

Na gut, noch nicht ganz.

Denn das Foto entstand im ODF-Park in Chemnitz. Die im Boden versenkte Marmorplatte verweist auf die Städtepartnerschaft zwischen der schönsten Stadt Sachsens und der Perle der Sahara.

Eigentlich wurde die Städtepartnerschaft 1968 zwischen Timbuktu und Karl-Marx-Stadt geschlossen. Aber Ihr beendet ja auch keine Freundschaften, nur weil ein Bekannter seinen Namen ändert. Außer natürlich, wenn jemand promoviert und darauf besteht, künftig als Doktor Soundso angesprochen zu werden. Das erinnert mich an eine Geschichte, die ich mal in Osteuropa gehört habe: Eine Akademikerin aus Deutschland, wahrscheinlich Literatur- oder Theaterwissenschaftlerin, ging für ein Jahr nach Russland. Sie bestand beim Einzug in die Wohnung darauf, dass ihr Name auf dem Klingelschild den Zusatz „Dr.“ enthielt. Daraufhin wurde sie regelmäßig mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt, und zwar von Nachbarn, die Antibiotika brauchten oder sich mit Nierenkoliken auf dem Boden wanden. Selber schuld.

Ich jedenfalls bin begeistert, dass Chemnitz so eine sagenhafte Partnerstadt hat. Denn das ist wirklich ein Grund, endlich mal nach Timbuktu zu trampen. Der Hinweis, dass man dazu für 52 Tage die Wüste durchqueren muss, nötigt einem zwar ein bisschen Respekt ab. Aber dann muss ich halt ein paar Dosen Coca-Cola mehr einpacken.

Überhaupt bin ich der Meinung, dass man alle Partnerstädte seiner (Wahl-)Heimatstadt besuchen sollte.

In Chemnitz ist das allerdings eine ziemliche Herausforderung. Nicht nur, weil die Liste ellenlang ist und manche Orte 8.000 km entfernt sind. Stalingrad liegt dummerweise in einem Land, wo man als respektloser Blogger gleich für ein paar Jahre ins Straflager muss. Und Düsseldorf, naja, da will man auch nicht freiwillig hin.

Wie sieht es bei Euch aus? Welche Partnerstädte- oder Regionen hat Eure Heimat? Habt Ihr schon welche davon besucht?

Mein ansonsten unscheinbares Heimatdorf in Bayern hat eine aktive Partnerschaft mit der Region Modi’in in Israel, deren Herzstück ein jährlicher Jugendaustausch ist. Ich war etliche Male dabei, zuerst als Teilnehmer, später als Betreuer. Eine fantastische Erfahrung, von der ich noch Jahrzehnte später profitiert habe, sowohl kulturell wie intellektuell, persönlich wie sprachlich. Also, wenn Ihr Kinder habt, schickt sie hinaus in die weite Welt! (Besser, Ihr bezahlt den Austausch oder das Interrail-Ticket, sonst müssen sich die Kinder als blinde Passagiere durchschlagen.)

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Marx und Engels wünschen einen schönen Herbstausklang

To the English version.

Dies und die weiteren Fotos stammen alle aus dem ODF-Park in Chemnitz.

ODF steht für Opfer des Faschismus, und davon gibt es hier eine ganze Menge. Selbst wenn man die Opfer des Faschismus nicht mitzählt, die sich selbst Gliedmaßen abhacken, um den angeblichen Überfall der Antifa in die Schuhe zu schieben. Aber das sind vielleicht auch eher Opfer ihrer eigenen Dämlichkeit.

Jedenfalls ist der Park besonders jetzt im Herbst ein schöner Ort. Weil die Stadtbibliothek gleich ums Eck liegt, versumpfe ich hier manchmal, nachdem ich mich wieder mit Lesematerial eingedeckt habe.

Und, beim einen oder anderen Foto ist es schon durchgeschimmert, auch die Schulgebäude am Rande des Parks sind beeindruckend. Die Industrieschule (damals die größte Berufsschule in Deutschland) und das Agricola-Gymnasium wurden in den 1920er Jahren eröffnet und sind hervorragend erhaltene Beispiele des Backsteinexpressionismus.

Nur schade, dass man normalerweise die Schulbank drückt, bevor man die Möglichkeit gehabt hat, einen Sinn für Architektur zu entwickeln. Vieles im Leben läuft total falsch herum ab.

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Die Würde des Gerichts ist unantastbar.

Die Mandantin muss zum ersten Mal in ihrem Leben vor Gericht.

Sie war ganz besorgt, weil sie kein Kostüm hatte. Und wie sie sich verhalten solle, und ob sie einen Knicks oder eine Verbeugung machen solle. Ich glaube, sie stellte sich das vor wie beim englischen Königshof, mit Talaren und Perücken, mit Hellebarden und Posaunen.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte ich sie. „Wir gehen zum Familiengericht. Da geht es locker zu, richtig familiär.“ Wahrscheinlich heißt es deshalb Familiengericht, fällt mir jetzt erst auf.

Das Gericht ist am Marktplatz von Anklam. Ein schöner Ort. Vor allem an einem sonnigen Oktobertag.

Backsteingotik, Hansestadt, Patrizierhäuser, Rathaus, alles sehr schmuck und hübsch.

Wo hier das Gericht sei, frage ich in die Runde der eisessenden Kinder, der sich sonnenden Rentner und der schwatzenden Hausfrauen. Aber sie haben alle ein gesetzestreues Leben geführt und waren noch nie im Leben vor Gericht. Selig sind die Unwissenden.

Also gehe ich ins Rathaus. Bevor jetzt alle Staatsbürgerkundelehrer aufschreien: Ja, ja, mir ist schon bewusst, dass Exekutive und Judikative etwas anderes sind. Aber trotzdem sitzen im Rathaus kundige Menschen, die meist schon sehr lange in ihrer Stadt leben und die sich auskennen.

Tatsächlich: Im Rathaus sagt man mir: „Direkt gegenüber, einfach über den Markt.“

Direkt gegenüber, einfach über den Markt, steht das hässlichste Gebäude in ganz Anklam.

Der angehende Historiker in mir erkennt sofort die einstige Bombenlücke, die unter Verzicht auf jeglichen ästhetischen oder architektonischen Anspruch gefüllt wurde. Manchmal weiß man echt nicht, was schlimmer war, die Bomben oder die Bausünden.

Einkaufszentren sind die deprimierendsten Orte der Welt, finde ich. Kunstlicht wie in der Klapse. Sumsel- und Säuselmusik wie im Fahrstuhl zum Schafott. Flitter und Tand, den keiner braucht. Gelangweilte Verkäuferinnen. Traurige Männer, die Kalorienbomben verkaufen, weil das der einzige Job ist, der im Zeugenschutzprogramm noch frei war. Eltern, die ihre Kinder aussetzen wollen, diese aber leider von dem unterbeschäftigten Wachmann rechtzeitig aufgegriffen werden. Ballerspielautomaten für die Kinder, Geldspielautomaten für die Erwachsenen. In der Ecke ein Plastikbaum, noch mit dem Schmuck für ein längst vergessenes Fest.

Ehrlich, wenn Ihr mal zu gut drauf seid und so richtig traurig und depri und down werden wollt: Geht in ein Einkaufszentrum.

Noch trauriger sind Einkaufszentren in ostdeutschen Kleinstädten, bei denen die Hälfte der Läden schon seit Jahren leer steht. Wie ein Mahnmal für die enttäuschten Hoffnungen auf Konsum und Kommerz, auf Wirtschaftswunder und Warenverkehrsfreiheit.

Und über die Treppe beim Woolworth sowie um ein paar Ecken geht es zum hochehrwürdigen Gericht. In einer, wenn ich das spontan und subjektiv äußern darf, für ein Gericht etwas unüblichen Umgebung.

Aber da kann das Gericht natürlich nichts dafür. Es ist ja nur Mieter. Und die Eigentümer des Einkaufszentrums, wahrscheinlich irgendwelche steuerabschreibenden Wucherwessis, müssen halt vermieten, egal an wen oder was gerade kommt.

Wobei man sich schon fragt, warum das Land Mecklenburg-Vorpommern nicht in jedem Landkreis ein paar Schlösser oder Burgen requiriert, um darin Gerichte und Behörden stilvoll unterzubringen. Für den Landtag haben sie sich ja auch ein schmuckes Gebäude gekrallt.

Weil manche gefragt haben: Dass der Hinweis auf das Büro der Nazipartei hervorgehoben erscheint, hat nichts zu bedeuten. Die sind einfach erst später eingezogen, deshalb ist die Schrift noch weniger verblasst. Ist ja eigentlich logisch, dass es den Angel-Spezi schon länger gibt. Schließlich war der Fluss bereits vor den Faschisten da. Die Peene wird tatsächlich sehr eifrig beangelt und befischt, von früh bis spät, von jung bis alt.

Wenn man es mal durch das Einkaufszentrum geschafft hat, ist das Gericht ganz gemütlich. Die Verhandlungsführung war sehr freundlich, offen und entspannt, so dass die Würde des Gerichts wieder vollumfänglich hergestellt wurde.

Außerdem habe ich am Ende für meine Mandantin einen Unterhaltsanspruch von 4.000 Euro pro Monat zugesprochen bekommen. Davon lässt es sich leben, würde ich sagen.

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Feld-, Wald- und Wiesenanwalt

Als ich kurz nach Sonnenuntergang nach einer langen Fahrt durch die schaurige Moorlandschaft des Peenetals in der kleinen Hansestadt ankomme, werde ich durch einen polabischen Zauberspruch in einen Wald verwandelt.

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Mein Tag der Deutschen Einheit

Welches Land ist so doof, den Nationalfeiertag auf den 3. Oktober zu legen? Auf den grauesten, nieselregnerischsten und rundherum deprimierendsten Tag des Jahres.

Länder, die bei der Bestimmung ihrer hohen und höchsten Feiertage auch den Freizeitwert bedenken, legen diese auf den 4. Juli (USA), auf den 14. Juli (Frankreich) oder auf den 15. August (Italien).

Außer Deutschland begehen nur Österreich, Turkmenistan und die Volksrepublik China ihren Nationalfeiertag im Oktober. Das sagt ja schon alles. Und natürlich Palau, Tuvalu und die Fidschi-Inseln. Aber die liegen auf der Südhalbkugel, wo im Oktober die Kirschbäume blühen, die Krokusse sprießen und die Currywurstbuden am Strand aufmachen.

(Foto von der Osterinsel, weil ich noch nicht auf Palau, Tuvalu oder Fidschi war.)

Und noch ein Land hatte Nationalfeiertag im grauen Oktober: Die DDR feierte sich am 7. Oktober. Die Wiedervereinigung am 3. Oktober begann also damit, dass den Ostdeutschen schon in der ersten Woche ein Feiertag wegrationalisiert wurde. Kein guter Einstieg in so ein Projekt, finde ich.

Ich bin gerade am Bahnhof von Chemnitz. Der Bahnsteig ist voll mit Wandervögeln, die sich vom durchwachsenen Wetter nicht abhalten lassen. Große Rucksäcke, Wanderstöcke, breitkrempige Hüte. Menschen in der dritten oder vierten Lebenshälfte schleppen 20 kg auf dem Rücken und freuen sich auf die Sächsische Schweiz, auf den Malerweg, auf das Riesen-, das Erz- oder das Elbsandsteingebirge. Und natürlich auf den Sächsischen Jakobsweg.

Deutschland ist ein Wanderland, aber in Sachsen wird noch mehr gewandert, gebiwakt und gebooft als anderswo. Soweit ich das beurteilen kann, ist es aber auch wirklich das wanderbarste Bundesland von allen.

Im Zug stehen schon eine Menge Fahrräder, ebenfalls voll bepackt. Eines trägt zur Feier des Tages die schwarz-rot-goldene Deutschlandfahne.

Interessant, wie sich meine Gefühle diesbezüglich geändert haben. Hätte ich früher zusammengezuckt und an Nationalismus gedacht, der im Zusammenhang mit Deutschland regelmäßig in Weltkriegen und Völkermorden und zerstörten Kontinenten endet, so bin ich heute entspannter, ja fast erleichtert. Immerhin eine Deutschlandfahne, keine Reichskriegsflagge oder eine dieser Reichsbürger-Fantasiefahnen.

Ich führe keine Flagge mit mir, aber das Deutschlandticket. Dieser Fahrschein trägt meiner Meinung nach mehr zur nationalen Einheit bei als alle Sonn- und Feiertagsreden. Denn wenn man es einmal hat (und nicht weiß, wie man es wieder stornieren kann), will man es auch nutzen. Man fährt und flitzt von Freiberg nach Freital, braust von Buxtehude nach Bad Schandau, dampft und düst von Detmold nach Dippoldiswalde, eilt von Erkner nach Eisenhüttenstadt, und rast von Radeberg nach Radeburg nach Radebeul.

Noch lieber wäre mir ein Europaticket, für Fahrten bis auf die Färöer-Inseln, Ausflüge auf die Azoren, Exkursionen nach Edinburgh und Reisen nach Reykjavík.

Aber die strenge Schaffnerin im Zug von Chemnitz nach Dresden bringt die Passagiere zurück auf den Boden der kleinteiligen geographischen Einheiten.

„Für das Rad brauchen Sie noch eine Fahrradkarte.“

„Aber in Plauen hat man mir gesagt, das Fahrrad könne kostenlos mitfahren.“

„Ja, in Plauen schon. Das ist der Verkehrsverbund Vogtland VVV. Aber jetzt sind Sie im Verkehrsverbund Mittelsachsen VMS.“

„Oh. Kann ich eine Fahrradkarte für ganz Sachsen kaufen?“

„Wie weit wollen Sie denn?“

„Nach Zittau.“

„Ach du Schreck, da müssen Sie ja auch noch durch den Verkehrsverbund Oberelbe VVO und durch den Verkehrsverbund Oberlausitz-Niederschlesien ZVON.“ Jetzt muss sich auch die Schaffnerin setzen und Kombiangebote, Tarifstreckendistanzumrechnungstabellen sowie das Abkommen der Vereinigung der Sächsischen Verkehrsverbünde zur Feiertagsbeförderung von Zwei- und Dreirädern wälzen.

Im Sommer war ich in Litauen. Die haben am 6. Juli Nationalfeiertag, und da fuhren einfach alle Busse gratis.

Das geht in Deutschland nicht, denn kostenlose Busse, das wäre der Einstieg in den Sozialismus. Danach wollen die Leute wahrscheinlich kostenlose Mittagessen in der Schule, kostenlose Bibliotheken oder vielleicht sogar Lernmittelfreiheit. Alles Teufelszug. Bei uns darf es nur kostenlose Autobahnen geben.

Zurück zu den Verkehrsverbünden: Als jemand, der genau auf der Grenze zweier Verkehrsverbünde (VGN und RVV) aufgewachsen ist, weiß ich um die teilende Wirkung dieser grausamen Grenzziehungen. Wie ein Todesstreifen an der innerdeutschen Mauer zerreißen sie Familien und Freunde. Wie durch ein Minenfeld muss man sich durch die Tarifregeln lavieren. Und wer mit dem falschen Ticket erwischt wird, kommt in den Knast. Wie früher. Nur dass einen jetzt der Rechtsanwalt Vogel nicht mehr freikauft.

„Will noch jemand Ossis kaufen?“

Apropos Rechtsanwalt: Ich selbst fahre heute nicht zum Wandern. Auch nicht zum Feiern. Ich bin als Held der Arbeit unterwegs. Im Dienste der Gerechtigkeit. Im Kampf gegen Unterdrückung und Willkür. Allzeit bereit, auch am Feiertag, wenn Leute ihr Leid und Mandanten ihr Mühsal klagen.

Aber dazu später mehr. Wenn es die anwaltliche Verschwiegenheit gestattet.

Am Bahnhof in Dresden fällt mir auf, dass selbst am Nationalfeiertag keine Flaggen zu sehen sind. Eigentlich ist das komisch, aber das meiste Schwarz-Rot-Gold habe ich bisher in Albanien gesehen. Ich war dort während der Fußball-Weltmeisterschaft 2014, und das ganze Skipetarenreich war im Deutschlandtaumel.

Vielleicht sollten wir uns auch noch mit Albanien wiedervereinigen. Dann kämen die genauso schnell und einfach in die EU wie damals die DDR. Keine langwierigen Verhandlungen, keine Kontrollkommissionen, keine Auflagen, keine Wartezeit. Und wir bekämen schöne Berge, eine schöne Küste und noch so einiges Schöne mehr, was ich nicht erwähne, weil dieser Blog Frauen nicht nach ihrem Aussehen beurteilt.

Nur die Vermieterin der kleinen Pension in Tirana, deren Eltern jüdische Nachbarskinder vor den Nazis versteckt hatten, konnte das Ende des Fußball- und Fahnenfiebers kaum erwarten. Aber das ist eine andere Geschichte.

In Dresden suche ich den Zug nach Görlitz und steige in denjenigen, der nach Zgorzelec fährt. Ein Grund, warum ich als jemand, der nationalen Gefühlen eigentlich abhold ist, dennoch von Anfang an vom Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs begeistert war, liegt in der Einbettung der deutschen Wiedervereinigung in die europäische Wiedervereinigung. Ich habe Helmut Kohl nie gewählt, schließlich war ich damals schon bei den Jusos, aber das mit Europa hat der Kanzler schon gut gemacht.

Görlitz/Zgorzelec ist eine tolle Stadt. Vielleicht liegt es daran, dass beide Stadthälften von den Zentren ihrer jeweiligen Länder, ja sogar von der jeweils nächsten Großstadt (Dresden bzw. Breslau) so weit entfernt sind, dass sich eine eigene länderübergreifende Identität herausbildet. Vielleicht gibt es tatsächlich eine schlesische Identität, die selbst die Konferenzen von Jalta und Potsdam nicht brechen konnten. (Da fällt mir die Dissertation von Robert Lorenz ein, und ich bekomme plötzlich Hunger. Wer sie gelesen hat, weiß, was ich meine.)

Jedenfalls gehen die Leute in Görlitz/Zgorzelec ganz selbstverständlich auf einen Kaffee ins andere Land, zum Joggen wieder in ein anderes Land, ins Kino in das eine und zur Pizza danach in das andere Land. Wenn der blöde Fluss nicht da wäre, gäbe es wahrscheinlich noch viel mehr Austausch. Aber irgendwo muss die Neiße ja durchfließen, sonst hätte die Tschechoslowakei keinen Zugang zum Meer, der ihr nach Art. 363 des Versailler Vertrags gewährt wurde.

Die neu installierten Grenzkontrollen versuchen, die Europastimmung ein bisschen zu stören. Aber die Polizisten sind zu freundlich und winken die meisten Autos durch, so dass es keine ernsthaften Staus oder Beschwerden gibt.

Das ganze ist wohl doch weitgehend Symbolpolitik, weil manche glauben, man könne hier Terroristen abfangen. In Wirklichkeit radikalisieren sich Menschen nicht auf Brücken über deutsch-polnischen Grenzflüssen, sondern im Internet. Internetkontrollen wären also wichtiger, sinnvoller und dringender als Grenzkontrollen.

Und die Schmuggler gehen über die nicht kontrollierten Fußgängerbrücken oder schleichen über die Eisenbahnbrücke. Aber bitte nur, wenn gerade kein Zug kommt.

Vor kurzem hatte ich eine Anfrage von einer Familie aus Burma, deren Sohn in Deutschland vom Zug erfasst und getötet worden war. Sie wollten, dass ich der Sache auf den Grund gehe, die Meuchelmörder ermittle und außerdem die Verschiffung des Leichnams nach Burma organisieren würde.

Das ist genau die Art von Fall, für die ich Rechtanwalt geworden bin. Ich sah mich schon mit einer Holzkiste im Frachtraum eines Dampfschiffes. Vom Hafen in Rangun dann mit einem Floß den Irrawaddy-Fluss hinauf, bis nach Mandalay, vorbei an Pagoden und Tempeln. Dort auf einen Eselskarren umsteigen, um den Leichnam über das Arakam-Joma-Gebirge schließlich zu der Familie zu bringen. Auf dem Weg Banditenüberfälle, vielleicht sogar eine Revolution, nicht ohne ein paarmal er- oder zumindest angeschossen zu werden.

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Leider hatte die Familie kein Geld, um mich zu bezahlen.

Und deshalb bin ich heute in Görlitz für einen – ich hatte es schon angedeutet – ähnlich dramatischen Fall. Ein seit mehreren Jahrzehnten verheiratetes Ehepaar streitet anlässlich der endlich fälligen Scheidung erbittert darum, wer welche Möbel und Haushaltsgegenstände bekommt.

Bereits seit einem Monat hatte ich immer wieder auf meine Gebühren hingewiesen und dass es sich ökonomisch und finanziell nicht lohnt, mich für die Aufteilung von Teppichen, Tassen und Tupperware zu engagieren.

Jedes Mal hatten beide zugestimmt: „Das ist uns völlig klar. Wir wollen auch gar nicht um solche Kleinigkeiten streiten. Das wäre ja kindisch.“ Und dann stritten sie weiter.

An einem Punkt hatten sie sich schon auf eine Liste geeinigt, aber dann brach Streit darüber aus, wer den Hauptbeitrag zu der Einigung beigetragen hatte. Über den Streit, wer am meisten nachgegeben hatte, zerstob die Einigung.

„Dafür sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen“, dachte ich, bis mir einfiel, dass ich aus dem Westen bin.

Mittlerweile war die Lage so verfahren, dass keiner der beiden überhaupt noch sagen konnte, was die offenen Streitpunkte waren. (Nebenbei geht es auch noch um Luxusimmobilien in aller Welt und um Millionenabfindungen, aber das verblasst alles beim Streit um den Staubsauger.)

In der Hoffnung, dass sie ablehnen würden, hatte ich angeboten: „Wenn es gar nicht anders zu lösen ist, dann muss ich halt am Tag der Deutschen Einheit nach Görlitz kommen und, wenn schon keine Einheit, so hoffentlich doch eine kleine Einigung zu stiften.“

„Ja, sehr gerne“, sagten die beiden, und so bin ich um die Einheitswanderung, den Einheitsmuseumsbesuch und um jede andere Einheitssause gebracht worden.

Nach einigen Stunden, in denen ich mit einem Klemmbrett durch die Wohnung gegangen bin und Kaffeemaschinen, Klaviere und Klobürsten zugeteilt habe wie ein sowjetischer Kommissar, der ein Junkergut auseinandernimmt, bleibt nur noch ein Streitobjekt übrig: der Wäschetrockner.

Als der Streit darüber alle bisher erzielten Verhandlungserfolge zunichte zu machen drohte, so wie damals, als Jassir Arafat in Camp David in letzter Minute plötzlich ganz Jerusalem wollte, denke ich: Jetzt muss ich persönlich werden und meine ganze Autorität und Integrität in die Waagschale werfen, um den zum Greifen nahen Friedensschluss zu retten.

„Eigentlich braucht man gar keinen Wäschetrockner. Ich hänge die Wäsche einfach auf den Balkon“, gebe ich tiefe Einblicke in mein Privatleben preis.

Ich glaube, stolz und überzeugt von meiner Verhandlungsführung, dass ich damit deutlich gemacht habe, dass dieser Streit nicht wert ist, geführt zu werden, und dass sowohl das Land, als auch die Welt, ja sogar der Freistaat Sachsen vor wichtigeren Problemen als vor bügelfreier Bettwäsche stehen.

Aber die Eheleute sehen mich entsetzt an und sagen: „Das ist ja asozial.“

Sie tun es in solcher Einigkeit, dass ich schon fürchte, sie könnten sich versöhnen und die Scheidung absagen.

Einmal ist mir das beim Gericht passiert, dass ein älteres Ehepaar bei der Befragung durch den Richter gar nicht mehr wusste, warum es sich scheiden lassen wollte. Es stellte sich als Missverständnis heraus. Der Richter schickte beide nach Hause und gab ihnen auf den Weg, dass sie öfter miteinander reden sollen. Die Anwälte freuten sich, weil das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz in diesem Fall eine zusätzliche Aussöhnungsgebühr (Nr. 1001 RVG-VV) vorsieht.

Ich kürze die Erzählung jetzt ab, weil ich den Zug zurück nach Chemnitz erwischen muss, wo wir zwischen den Plattenbauten einfach ein paar Leinen spannen, an denen alle Nachbarn ihre Wäsche aufhängen können. Görlitz ist schon schön, aber Chemnitz ist cooler.

Die Einigung über den Wäschetrockner habe ich dann übrigens mit einem anderen Trick erreicht. Ich habe einfach gesagt, dass ich selbst der Aufteilung nicht mehr zustimme. „Mir schwant, wie lustig es sein wird, die Sache vor Gericht zu bringen und ellenlange Schriftsätze über Kommoden, Klappstühle und Kandelaber, über Schrankwände, Schaukelstühle und Schreibtische einzureichen. Das Verfahren dauert mindestens ein Jahr, aber es wird ein Fest und ein Feuerwerk, auch für Funk und Fernsehen.“ Und schwuppdiwupp war die Einigung erzielt.

Auf der Rückfahrt versuche ich angestrengt, aus diesem Tag irgendetwas zu ziehen, was sich als Metapher für die deutsch-deutsche Einigung heranziehen ließe. Aber immer wieder unterbricht die Schaffnerin meine Gedanken, wenn sie Passagieren die Tarifzonengrenzen erklärt, und warum das Kombiticket aus dem MDV nur an Wochentagen im VMS gilt, aber nicht für Kinder, und wo und warum und wie oft sich das Tarifgebiet des VGLG mit dem VMT überschneidet und dass man deshalb ganz genau überlegen müsse, welchen Fahrschein man löse. Dazu gäbe es am Bahnsteig ja auch zwei unterschiedliche Automaten.

Und da merke ich endlich, wo ich die Karte der Verkehrsverbünde schon einmal gesehen habe: Im Geschichtsunterricht, als es um die deutsche Kleinstaaterei ging.

Wenn wir mehr als 350 Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges unsere Zugtickets noch immer danach berechnen, wo es früher einen katholischen und wo es einen protestantischen Fürsten gab, dann sind 35 Jahre nach dem Fall der Mauer vielleicht einfach zu wenig, um schon etwas Schlaues über die Wiedervereinigung zu sagen. Es ist nichts weiter als ein schrecklicher Verdacht, aber möglicherweise liegen die Unterschiede zwischen Pasewalk und Passau gar nicht an der DDR und der BRD, sondern an den Differenzen zwischen Preußen und Bayern. (Zu diesem traurigen Thema empfehle ich meine König-Ludwig-Saga.)

Als ich spätabends nach Hause komme, bin ich erleichtert, wieder in meiner spartanischen Wohnung zu sein. Eine Matratze auf dem Boden. Schränke aus dem VEB Möbelkombinat, die der Vormieter zurückgelassen hat. Zwei Stühle, die ich je nach Bedarf ins Büro, in die Küche oder auf den Balkon trage. – Mit weniger materiellem Firlefanz lebt es sich wirklich freier.

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