So geht Abenteuer! Eine Anleitung in 24 Schritten.

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Ausgehend von La Paz in Bolivien wollte ich auf den Chacaltaya. Es schien mir ein recht einfach zu besteigender Berg über 5000 m zu sein, also eine gute Möglichkeit, einen neuen Höhenrekord aufzustellen, ohne Gletscherspalten überwinden und Yetis bekämpfen zu müssen.

Da in dieser Gegend niemand wohnt, gibt es keinen Linienbusverkehr wie fast überall sonstwo in Bolivien. Ich ging also zu einer der vielen Reiseagenturen, die in La Paz alle das gleiche anbieten: Salzsee in Uyuni, mit dem Fahrrad die „Todesstraße“ hinab, Tagesausflug nach Tiwanaku und auch einen Ausflug zum Chacaltaya. Letzteres gibt es nur gebündelt mit einem anschließenden Besuch des Valle de la Luna, in dem ich bereits einen halben Tag zugebracht hatte. Die Kombitour kostet 100 Bolivianos, etwa 15 Euro und damit eigentlich nicht viel. Ich brauchte aber nur den Bus am Morgen zum Chacaltaya, würde dort die Tour verlassen und entweder die 25 km zurück nach La Paz wandern oder irgendeine Mitfahrgelegenheit finden. Das klappte in Bolivien bisher immer. Dafür wollte mir das Mädchen in der Agentur die gleichen 100 Bolivianos abknöpfen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass mich ein Taxi locker 300 Bolivianos kosten würde.

In diesem Moment gingen Geiz und Ehrgeiz mit mir durch. „Dann gehe ich lieber zu Fuß.“ Das brachte mir einen entsetzten Blick ein, wie ihn Roald Amundsen im Reisebüro geerntet haben musste, als er mangels umsteigefreundlicher Zugverbindung seinen Entschluss kundtat, dann eben zu Fuß zum Südpol zu marschieren, was, wie jeder einsehen wird, kaum mit der tollkühnen Besteigung eines Berges von 5300 m Höhe zu vergleichen ist.

Lektion 1: Niemals auf Leute hören, die geschäftsmäßig Dienstleistungen anbieten! Die wollen immer ihre Touren oder anderen Dienste verkaufen und müssen jedes Unterfangen so kompliziert darstellen, dass es die meisten Menschen davon abschreckt, es selbst zu versuchen. Oft ohne Grund.

Ich halte nichts von den Wanderern, die solche Ausflügchen übervorbereiten und sich Bergschuhe, Skimasken, Thermosflaschen und allerlei gewichtsträchtigen Flitter und Tand anschaffen. Auf dem Weg nach Hause ging ich über den Markt und kaufte 3 Liter Wasser und 2 Snickers. Schließlich hatte ich – soweit Vorbereitung nichts kostet, bin ich nicht ganz so abgeneigt – gelesen, dass auf dem Gipfel eine Hütte des Alpenvereins steht. Dort würde ich wohl zumindest eine warme Suppe bekommen.

Ebenso hatte ich im Internet gelesen, dass jeden Morgen um 6 Uhr von El Alto ein Bus nach Zongo fährt, der die Arbeiter des dortigen Wasserkraftwerks in das Tal bringt, das auch meine Strecke war. Ich könnte unterwegs aussteigen und müsste nur mehr ein paar Kilometer den Weg zum Gipfel nehmen. Es führt sogar eine Serpentinenstraße bis auf 5200 m, die die vorgenannten Busse und Taxis nehmen. Mein Hintergedanke war natürlich, dass mir zufällig der von mir ausgeschlagene Bus begegnen würde und mich aus Mitleid oder für ein paar Bolivianos mitnehmen würde. Also alles bestens und schlauestens geplant von mir.

Am nächsten Morgen bin ich um 5:50 tatsächlich an der Plaza Ballivian in El Alto, der kälteren weil höhergelegenen, gefährlicheren weil ärmeren und deshalb von den Einwohnern von La Paz grundsätzlich nicht besuchten Nachbarstadt, die mittlerweile mit La Paz zu einer Konglomeration verwachsen ist. Es herrscht schon ein rechter Trubel am frühen Morgen, mit Klein- und Minibussen, Männern, die zur Arbeit fahren und eifrigen Händlerinnen, die Säfte und Tee verkaufen. Bei einer von ihnen erkundige ich mich nach dem Bus ins Tal von Milluni. „Oh, jetzt im Sommer fährt der schon um 3:30.“ – Plan kaputt. Noch bevor es richtig losgeht.

Lektion 2: Früh aufstehen! In der Natur zählt jede Stunde Sonnenlicht, und in 12 Stunden kann man eine Menge erleben. Wer sich erst mittags aus dem Haus macht, ist noch im Alltagsstress und muss schon die Minuten bis zur Rückkehr zählen. Ein Abenteuer verdient einen ganzen Tag. Arbeiten und Putzen könnt Ihr noch den Rest Eures Lebens.

Wenn ich aber schon mal früh aufgestanden und in Wanderstimmung bin, verschiebe ich die Expedition ungern auf morgen. „Gibt es einen Bus, der einfach ans Ende der Stadt in jene Richtung fährt?“ frage ich. Von dort aus könnte ich dann laufen. Klar gibt es das, schließlich wohnen dort Menschen. „Warten Sie einfach hier. Ich zeige Ihnen den richtigen Bus, wenn er vorbeikommt.“

Lektion 3: Einfach fragen, dann hilft einem jemand.

Tatsächlich dauert es weniger als eine Minute, bis die Dame einen Minibus anhält und dem Fahrer ausführlich meinen Plan erklärt und ihn bittet, mich so weit wie möglich ans Ende der Stadt zu bringen. Er fährt tatsächlich noch weiter als zu seiner letzten Station und lässt mich bei einer Kirche mit schmalem Turm aussteigen. „Einfach diese Straße entlang, nach dem Elektrizitätswerk links, und da hinten sehen Sie schon die Berge,“ gibt er mir auf den Weg. Ich sehe nichts, denn es ist dunkel, aber die Richtung ist mir klar.

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Als die Sonne sich langsam hinter dem Illimani hervorschiebt, sehe ich zuerst nur Nebel. Oder sind es Wolken? Ja, ich bin schon über den Wolken, bevor es richtig losgeht.

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Im Nu bin ich aus der Stadt. Leere Häuschen stehen an grünen Hängen, diese leeren, fensterlosen Häuschen, die man überall in Bolivien sieht, und deren Sinn ich noch nicht ganz verstanden habe. Sie sind zu klein, um darin zu wohnen, die offene Tür verrät, dass nichts in ihnen gelagert wird.

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In Peru habe ich ähnliches in er Wüste gesehen, und dort erklärte mir jemand, dass Menschen, die noch kein Eigenheim haben, einfach diese Minihäuser in die Landschaft setzen, um nach fünf Jahren kollektiv zu behaupten, dass sie schon immer da gewohnt hätten und dass der Staat doch bitte endlich eine Straße, Wasserversorgung, Anschluss ans Stromnetz und eine Schule errichten solle. Und schwuppdiwupp ist eine neue Siedlung entstanden. (Wenn nicht, wird protestiert.) Irgendwann wird Schwäbisch Hall den bolivianischen Bausparermarkt für sich entdecken, dann ist mit dieser unkonventionellen Methode Schluss.

Ich bin schon auf etwa 4000 m, es ist noch nicht einmal 7 Uhr, aber kalt ist es nicht mehr. Zuhause würde ich frieren, aber die Sonne, die auf grüne Wiesen scheint, auf denen Kinder jetzt Lama-Herden zum Grasen treiben, und meine forschen Schritte wärmen mich besser als es mein Bett könnte.

Lektion 4: Draußen ist fast immer besser als drinnen. In miefigen Gebäuden habt Ihr schon genug Lebenszeit verbracht.

Die etwa 10 km bis zum Gipfel sollte ich in einigen Stunden schaffen, aber dennoch strecke ich jedes Mal den Daumen raus und blicke freundlich-hoffnungsvoll, wenn ein motorisiertes Fahrzeug vorbeifährt. Denn ganz menschenleer ist das Tal anscheinend doch nicht. Nach nicht ganz einer Stunde Marsch hält ein Deutsche-Post-knallgelber Kleinbus. Ich steige dankend ein, ohne dass Fahrer und ich uns über das Ziel der Fahrt unterhalten, denn die Richtung stimmt. Im Bus sitzen ein junger bolivianischer Bergsteiger, der die nächsten drei Tage den Huayna Potosi besteigen wird, dessen schneebedeckten Gipfel wir schon verlockend vor uns sehen, die mit farbigen Röcken und einem Hut bekleidete Frau des Fahrers und auf der Rückbank zwei sehr alte Männer vom Typ Fischer/Bauer/Hirte. „Können Sie mich dort rauslassen, von wo aus der Weg auf den Chacaltaya geht?“ frage ich nach einer Weile. „Klar, mein Junge“ antwortet er. In Bolivien werde ich trotz meiner 41 Jahre oft „Junge“ (joven) genannt, manchmal auch von Leuten, die jünger als ich sein könnten. Beklagen möchte ich mich darüber keinesfalls.

Da ruft der zahnlosere der beiden Männern von der Rückbank: „Hey, es ist besser wenn Du noch ein Stück weiterfährst. Der Weg über die Straße auf den Chacaltaya ist verdammt lang. Ich kenne eine Abkürzung, von dort aus musst Du nur mehr eine halbe Stunde laufen. Geht direkt zum Gipfel.“

Auf meiner Landkarte ist kein anderer Weg eingezeichnet. Aber

Lektion 5: Wenn Dir in der Wildnis oder im Hochgebirge ein Fremder begegnet, der Dir einen kürzeren oder schöneren unbekannten Weg vorschlägt, nimm das Angebot an. Es ist der Wink des Abenteuers!

„In Ordnung, vielen Dank!“ sage ich, und der Bus fährt an der Straße, die ich eigentlich einschlagen wollte, vorbei. Alle zwei oder drei Kilometer fragt der Fahrer den selbsternannten Pfadfinder „Du meist hier, oder?“ und der entgegnet immer: „Nein, fahr noch weiter! Ich kenne da einen Geheimweg, eine Superabkürzung. Von dort ist es nur eine halbe Stunde zum Gipfel.“ Jedes Mal sieht mich der Bergsteiger etwas skeptischer an, jedes Mal streiten die beiden alten Männer untereinander mehr. Aber derjenige, der jetzt die Führung über meine Expedition übernommen hat, beteuert immer wieder „media hora, media hora“, also dass ich mit seiner (anscheinend sehr geheimen) Abkürzung nur eine halbe Stunde benötige.

In einer Kurve ist es endlich so weit. „Hier!“ bringt der alte Mann den Bus zum Stehen. Er deutet nach rechts aus dem Fenster und erklärt, dass dies der Weg sei. Ich erkenne keinen Weg, aber immerhin die Richtung. „Und der Weg geht links oder rechts des Tales?“ frage ich schüchtern. Er brummelt irgendetwas Unverständlich-Ausweichendes, „aber Du siehst den Gipfel da oben, oder? Einfach immer drauf los gehen. Media hora!“ Na gut. Jetzt habe ich keine andere Wahl mehr. Ich biete an, ein Fahrtgeld zu entrichten, und die Frau des Busfahrers bittet nach etwas Überlegung um 5 Bolivianos, weniger als einen Euro.

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Dort muss/will ich hinauf.

Und schon stehe ich allein in einer spürbar sauerstoffarmen Landschaft mit perfekt geschwungenen grünen Hügeln und den weißen Zacken des Huayna Potosi, hinter mir Erdhügel, deren Farbe zwischen kräftig-ocker und rötlich-gelb schwankt, unten im Tal ein See, umgeben von in der Morgensonne golden glänzendem Gras. Der Himmel ist blau, kein Laut ist zu hören, und die Schönheit dieses Orts, die Einsamkeit, der vor mir liegende volle Tag und das mich erwartende Unbekannte sowie das Anerkennen der Gefahren von Verirren und Abstürzen bis Höhenkrankheit und Verdursten führen dazu, dass ich lachen muss. Lautes, herzhaftes, glückliches, langes Lachen.

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Lektion 6: Je weiter ich in die Natur gehe und mich von Städten, Straßen, Autos und Menschen entferne, desto glücklicher bin ich. Wahrscheinlich sind nicht alle Menschen gleich gestrickt, aber einen Versuch ist die Flucht in die Natur allemal wert.

Noch mehr lachen muss ich allerdings als ich auf der Karte die Strecke ansehe, die ich zum Gipfel zurücklegen muss. Es sind 2,8 km Luftlinie. Selbst für 2,8 km im Flachland benötige ich fast eine halbe Stunde. Ich kann aber nicht Luftlinie wandern, denn es geht steil bergauf, über brüchige Steinfelder, ohne einen erkennbaren Weg und zum ersten Mal in meinem Leben auf über 5000 m. Jetzt bin ich es, der immer wieder „media hora!“ ausruft, kopfschüttelnd und lachend über den Optimismus des alten Mannes.

Alle 15 Minuten muss ich mich setzen, pausieren und heftig durchatmen.

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Es ist ein Kampf, aber ein Kampf in wunderschöner Umgebung. Etwa so wie einstmals bei den Schlachten am Isonzo. Immerhin hat zwischenzeitlich jemand Snickers erfunden. Das erste ist bald verzehrt. Jetzt wird mir erst bewusst, dass ich mich mit der Wahl der sogenannten Abkürzung jeglicher Möglichkeit beraubt habe, einen vorbeifahrenden Bus anzuhalten. Ich bin wirklich auf mich allein gestellt.

Zeitweise finde ich tatsächlich einen Weg, der sich in Serpentinen den Hang hinaufschlängelt. Einige Häuser tauchen auf.

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Ich rufe laut „buenos dias“, um meine wahrscheinlich unerwartete Ankunft anzukündigen und nicht mit Schrotflinten und Hunden, sondern mit Tee und Kuchen empfangen zu werden. Vergebens, denn niemand lebt hier mehr. Zwischen den Häusern sind ein paar Wasserläufe mit Moos. Ich will das weiche Moos spüren, aber es ist noch hartgefroren wie Stein. Die Türen der teilweise schon verfallenden Häuser stehen offen, aber keines enthält etwas interessantes. Nur an einer Tür steht „Diebstahl verboten“. Dieser Hinweis ist absurd, weil das (1) schon durch das Strafgesetzbuch geregelt ist, (2) auch Nichtjuristen bekannt sein dürfte, (3) eventuelle Gesetzesbrecher kaum von ihrem Vorhaben abhalten wird. Aber wir sind in Bolivien, dem Land der Höflichkeit und des Respekts. Diese Tür ist tatsächlich als einzige nicht aufgebrochen.

Lektion 7: Mit offenen Augen findet man überall Kurioses.

Hinter den Ruinen erspähe ich den Grund für diese entlegene Behausung: Bergwerksstollen. Das erklärt die knalligen Farben der Geologie, allerdings kann ich mangels Studium derselben nicht erklären, auf welche Mineralien diese Farben hindeuten. Im Höhenrausch träume ich schon von einem Goldfund.

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Minen auf 5000 m Höhe – in Europa ist allein die Höhe unvorstellbar, für uns ist das schon halb im Weltraum – sind in den Anden keine Seltenheit. Nachdem ich den Chacaltaya bestiegen haben werde, womit ich jetzt nur wegen eines kaum zum Thema gehörenden Einschubs das Ergebnis der Expedition vorwegnehme, berichte ich einer Freundin aus Peru, die im Bergbau arbeitet, stolz von meinem Höhenrekord auf 5300 m. „Ach, ich habe mal ein paar Monate in einer Mine auf 5300 m gearbeitet. Das war wirklich saukalt“, entgegnet sie.

Lektion 8: Wenn Ihr im Freundeskreis Alpinisten habt, die ständig mit ihren Zugspitz- und Watzmannerzählungen nerven, fahrt einfach nach Bolivien, geht ein bisschen wandern und erstickt ab da jede Prahlerei im Keim.

Von wegen „media hora“! Mittlerweile bin ich schon eine Stunde unterwegs, zugegeben mit vielen und langen Pausen, und ich habe noch 2 km vor mir. Luftlinie. Und es wird erst richtig steil. Bis hierher war es Wandern, ab jetzt muss ich stellenweise die Hände zur Hilfe nehmen oder auf allen Vieren den Hang hochkrabbeln. Manchmal klettere ich in eine Sackgasse, in der ich nicht mehr weiterkomme, ohne dass mir schwindelig würde, und muss umkehren und einen anderen Weg finden. Nur der Blick zurück über glasklare Lagunen auf die grünen Hügel und dramatischen Gipfel in der Ferne entschädigt mich immer wieder. Nirgendwo auf der Welt habe ich so schöne Farbkombinationen gesehen wie im bolivianischen Altiplano.

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Mit der Höhenkrankheit bin ich vertraut. Ich habe sie bereits zweimal vorher gespürt, als ich das erste Mal über 4000 m stieg, zum Wara-Wara-See bei Cochabamba, und bei meinem bisherigen Höhenrekord von 4800 m auf dem Cerro Rico in Potosi. Man bekommt ganz starke, stechende Kopfschmerzen, die beim ersten Mal einige Tage anhielten, so dass ich schon Angst hatte, in meinem Kopf wäre irgendetwas dauerhaft beschädigt. Ist aber alles wieder OK, keine Sorge. Dazu tritt ein Gefühl der Übelkeit auf, das bei mir allerdings nie zum Ausbruch führte. Und manchmal spürt man die Finger nicht mehr, allerdings anders als wenn sie erfrieren. Man spürt keinen Schmerz, kann sie auch ganz normal bewegen und kontrollieren, spürt aber gar nichts, was man anfasst.

Heute kommt ein weiteres Symptom dazu: Wenn ich mich für eine Erholungspause hinsetze, kippe ich um und schlafe auf der Stelle ein. An diesem Tag passiert es dreimal. Zweimal wache ich dann auf weil mir kalt wird, und einmal weckt mich die Sonne, die mir unter der Hutkrempe in die Augen scheint. Es kam mir allerdings jeweils so vor, wie wenn ich nur wenige Minuten eingenickt war. Wahrscheinlich ist es nichts mehr als die Erschöpfung.

Lektion 9: Am Abend vor so einem Abenteuer zeitig schlafen, um nicht übermüdet zu sein.

Außerdem spricht die Fähigkeit, schnell einzuschlafen, dafür, dass man glücklich ist und nicht von Sorgen geplagt wird. Also alles in Butter, zumindest psychologisch. Und diesmal habe ich vorgesorgt und mir Anti-Sorojchi-Pillen aus der Apotheke eingepackt. Bei meinem letzten Anfall von Höhenkrankheit haben die schnell und sehr wirksam geholfen, und auch diesmal beseitigen sie die Kopfschmerzen. Nach dem, was ich so von anderen Reisenden gehört habe, sagt etwa die Hälfte, dass die Pillen gar nicht helfen, und bei der anderen Hälfte schlagen sie wie bei mir sofort an.

Lektion 10: Wenn Ihr von möglichen Problemen vorab wisst, packt die passende Medizin ein. Das bisschen Gewicht ist es wert. Manchmal konnte ich damit anderen Reisenden oder Wanderern helfen, womit man sich sehr beliebt macht.

Die wichtigste Maßnahme gegen Höhenkrankheit ist eigentlich, umzukehren und abzusteigen. Aber dafür bin ich nun wirklich nicht so weit gekommen.

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Lektion 11: Etwas Grundkondition ist hilfreich. Ich gehe hin und wieder Laufen und gehe eigentlich alles zu Fuß, was sich im Rahmen von einigen Kilometern hält. Bis zum zehnten Stock nehme ich die Treppe. In dafür ausgelegten Städten fahre ich mit dem Fahrrad. So habe ich noch keinen Euro für Fitnessstudios ausgegeben und bin meist trotzdem fitter als Personen, die fürs Schwitzen bezahlen.

Ich komme etwa im Tempo von einem Kilometer pro Stunde voran. Versteckt zwischen den Felsen liegt eine weitere verlassene Unterkunft von Goldsuchern. Ein alter Schutzhelm und verrostete Konservendosen liegen herum. Auch hier lebt niemand mehr. Ich habe ein bisschen Bammel, menschliche Skelette vorzufinden. Aber alle haben es nach dem Ende des Goldrauschs sicher nach Hause geschafft.

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Nach drei Stunden Plackerei habe ich den Aufstieg endlich geschafft. Als ich zurückblicke, schüttle ich den Kopf: Selbst den Abstieg würde ich niemals in einer halben Stunde schaffen. Unmöglich. Aber dennoch bin ich dem alten Mann dankbar als ich vom Gipfel aus den „normalen“ Weg sehe, den ich ohne seine Intervention gegangen wäre. Die von ihm empfohlene Strecke ist hundertmal schöner und reizvoller. Die Route für die Autos hingegen ist fast langweilig. Wie es sowieso langweilig ist, mit dem Auto bis auf 5200 m zu fahren und dann die restlichen 100 m zu laufen. Weicheier!

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Lektion 12: Der Weg ist das Ziel. Das ist ein abgegriffener Spruch, aber an solch einem Tag kann ich aus vollem Herzen zustimmen.

Lektion 13: Jeder kann mehr schaffen als er glaubt, schaffen zu können. Es sind immer Kraftreserven da, und wenn keine Möglichkeit zum Aufgeben besteht, dann reißt man sich eben zusammen. Nach meiner Erfahrung von den wenigen Malen, an denen ich mit anderen Personen gewandert bin, ist der Wille viel wichtiger als Training, Kraft oder Ausrüstung.

Und da ist sie, die ersehnte Hütte des Alpenvereins. Es ist fast Mittag, also wird am Herd schon der Eintopf brodeln. Nach einer großen Strapaze können einen so einfache Dinge glücklich machen. Recht vertrauenerweckend sieht die Hütte zwar nicht aus, wie sie so windschief am Abhang steht, aber sie ist ja auch schon von 1939.

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Erbaut wurde sie von österreichischen Flüchtlingen. Ja, damals mussten Europäer fliehen, und in Bolivien sagte zum Glück niemand „das Boot ist voll“ oder „die passen ja gar nicht zu unserer Kultur“, obwohl man in Südamerika durchaus Grund gehabt hätte, nach der Geschichte seit 1492 skeptisch gegenüber europäischen Einwanderern zu sein. Die Österreicher waren zwar hauptsächlich Juden und Sozialisten und Intellektuelle, aber eben auch typische Österreicher. Als solche sahen sie die Berge und dachten sofort „Skifahren!“ Mit einem Automotor brachten sie einen Schlepplift zum Laufen (jemand saß im Auto und regulierte mit dem Gaspedal die Geschwindigkeit des Schlepplifts), und von da an war der Chacaltaya das höchstgelegene Skigebiet der Welt mit dem höchsten Skilift der Welt. Für die Einheimischen war der neumodische Sport genauso befremdlich wie Kaiserschmarrn, der sich in Südamerika leider nicht durchsetzte.

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Dem geneigten Leser wird aufgefallen sein, dass ich bei der Beschreibung des Skigebiets in die Vergangenheitsform verfallen bin. Der Grund ist, dass das Skifahren Vergangenheit ist. Warum? Nicht weil die Österreicher nicht mehr hier sind (Ja, liebe Flüchtlingsfürchter, wenn es in der Heimat zeitnah wieder Frieden gibt, kehren viele Flüchtlinge zurück.), sondern weil es keinen Schnee mehr gibt.

Der Gletscher am Chacaltaya, der 18.000 Jahre bestand, ist weg. Futsch. Vollständig verschwunden. Die ehemalige Skipiste ist nur mehr eine Halde aus Geröll und Steinen. Das ganze passierte relativ kürzlich. Nachdem der Gletscher aufgrund steigender Temperaturen im ausgehenden 20. Jahrhundert immer kleiner und dünner wurde, war nach dem Winter 2009/2010 plötzlich gar nichts mehr hier. So geht das mit der globalen Erwärmung, nicht nur an den Nord-, Süd- und anderen Polen. Wahrscheinlich unumkehrbar, da brauchen wir uns mit unseren Klimakonferenzen nichts vormachen.

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Hier war das Skigebiet.

Auch deshalb wollte ich zum Chacaltaya, denn ich hatte natürlich vorher schon über dieses drastische Beispiel für den Klimawandel gelesen. In Mitteleuropa, wo wir ein relativ gemäßigtes Klima haben und uns die Alpen vor der vorrückenden Wüste schützen, kann man die globale Erwärmung vielleicht noch als etwas Abstraktes abtun, etwas Theoretisches, etwas schwer Greifbares. Klar kennen wir die Statistiken. Aber wenn man nicht neben einem Berg wohnt, der seit Menschengedenken mit einem Gletscher bedeckt war und seit 7 Jahren kahl, nackig und hässlich ist, dann wird einem die Dramatik, die Geschwindigkeit und die Unumkehrbarkeit dieses Prozesses nicht bewusst.

Dabei geht es natürlich nicht ums Skifahren. So ein Gletscher ist ein Süßwasserspender, enorm wichtig für die Landwirtschaft. Ohne ihn wächst nichts, das Tal stirbt aus, und die Menschen müssen in die Slums von El Alto ziehen. Auch sie sind Flüchtlinge, wie einstmals unsere österreichischen Freunde. Klimaflüchtlinge und, deshalb fallen sie in Statistiken kaum auf, Binnenflüchtlinge. Überall in den Anden stößt man auf tote oder halbleere Dörfer, wo noch ein paar widerborstige Alte ausharren, aber jeder unter 50 Jahren in die Stadt abgewandert ist, weil der Boden nichts mehr hergibt. Das Ganze wird verschärft durch das Bevölkerungswachstum, wieder so etwas, von dem wir in Europa zwar die Statistiken kennen, uns aber eigentlich keinen Eindruck machen können. In Bolivien hat sich die Bevölkerung seit 1980 verdoppelt.

Lektion 14: Obwohl dieser Artikel für eine gewisse Spontanität argumentiert, halte ich überhaupt nichts von den Leuten, die einfach so um die Welt reisen, am Strand liegen, Fotos machen und alles super, schön und wunderbar finden. Das ist etwas fürs Auge, aber was ist mit dem, was uns als Menschen ausmacht, dem Gehirn? Ich will auch die Probleme der Welt kennen, erkennen, verstehen, analysieren, will darüber lesen, nachdenken, diskutieren, schreiben. Und deshalb plädiere ich für jede Reise, die über einen Spaziergang hinausgeht, für vorbereitendes Lesen. Denn wenn ich nicht weiß, wonach ich die Augen offen halten soll, wie sollte ich dann z.B. erkennen, dass hier mal ein Gletscher war? Wie sollte ich etwas über die Geschichte des Orts erfahren?

Dabei lasse ich, wie schon beschrieben, genug Raum für spontane Entscheidungen, für Planänderungen und für unerwartete Entdeckungen (von den verlassenen Bergarbeiterdörfern hatte ich zum Beispiel vorher überhaupt nichts gewusst). Diese Kombination von Bildung, Erleben und Reflektieren macht das geistig anregende Reisen aus. Oder mit den Worten von Wilhelm Dilthey: „Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, dass das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in die Region des Ganzen und Allgemeinen.“

Jetzt, wo ich die Hälfte der Leser abgeschüttelt habe, ist aber wirklich Zeit für eine Gulaschsuppe. Ich öffne also die knarzende hölzerne Tür, bin bereit ein „Grüß Gott“ in die wohlig warme und gefüllte Gaststube zu werfen, aber – auch hier – sind alle tot oder weggezogen. Auf einem Tisch stehen noch ein Kaffeetassen und eine Zuckerdose, wie wenn eben der letzte Gast gegangen ist. Im Zimmer mit dem jetzt kalten Kamin stehen Sessel, dem Stil nach aus den 1950er Jahren.

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Die Fenster scheinen alle intakt zu sein, zur Not könnte man also hier übernachten. Aber ich habe keinen Schlafsack mitgebracht.

Lektion 15: Wandern an sich ist gar nicht so beschwerlich. Aber jedes zusätzliche Gramm im Rucksack spürst Du. Ein Kilogramm mehr über 20 Kilometer ist etwas ganz anderes als ein Kilogramm auf dem Weg zur Arbeit. Deshalb immer so wenig wie möglich mitnehmen!

Es variiert wahrscheinlich von Person zu Person, aber alles über 5 kg spüre ich deutlich. 15 kg ist die absolute Grenze, die nicht überschritten werden sollte, denn sonst hasst man den eigenen Rucksack abgrundtief bei jedem Schritt. Als ich in England den Hadrianswall entlang ging (125 km), wollte ich das gesamte Essen, das ich in fünf Tagen brauchen würde, mitnehmen. Nach zwei Tagen warf ich die schweren Dosen mit Bohneneintopf und Linsensuppe wutentbrannt ins Gebüsch, nur um mich um ein paar Kilogramm zu erleichtern.

Lektion 16: Übrigens ist es im Leben genauso. Je mehr materielle Dinge man anhäuft, desto komplizierter macht man es sich selbst.

Neben der Geisterhütte befindet sich auf dem Berg noch eine Station der Universidad Mayor de San Andres, die allerhand meteorologische und geophysische Daten misst und von einem zuerst neugierigen, dann bellenden Hund bewacht wird. Auf den letzten hundert Höhenmetern zum eigentlichen Gipfel über dem Skigebiet begegne ich vier Arbeitern in Overalls, die Geräte mit sich schleppen, die wie große Radios aus den 1950ern Jahren aussehen. Sie erklären mir, das sie irgendetwas messen müssen, aber ich verstehe nicht, was. „Kommt Ihr hier öfter her?“ frage ich, mehr um irgendetwas zu fragen als mit einem zielgerichteten Gesprächsleitfaden im Kopf. „Jeden Tag.“ Na, wenigstens haben sie eine schöne Aussicht und frische Luft.

Bei der Aussicht auf den Huayna Potosi denke ich an meinen Onkel, der vor 40 oder 50 Jahren diesen Berg bestieg.

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Damals muss eine Reise nach Südamerika noch ein richtiges Abenteuer gewesen sein. Kein GPS, kein Mobiltelefon, kein Internet, mit dem man mal schnell vor Ort recherchieren konnte. Man fuhr einfach los und hoffte aufs Beste. Der größte Luxus waren ein Reiseführer mit nicht mehr aktuellen Informationen und vielleicht ein Wörterbuch. Die Hälfte der Staaten in Südamerika waren Diktaturen, und jede Woche gab es irgendwo einen Putsch, eine Revolution oder einen Staatsstreich. Wenn man sich mit jemandem verabreden wollte, schrieb man fünf Monate vorher einen Luftpostbrief: „Ich schlage vor, wir treffen uns am 3. Juni 1972 um 14 Uhr in der Stadtbibliothek in La Paz. Wenn es Dir nicht passt, hinterlege dort bitte eine Nachricht für mich mit weiteren Instruktionen.“

Lektion 17: Es geht auch ohne Technik. – Ich gestehe zu, dass ich eine Ausnahme mache: Ich habe ein kleines Tablet mit GPS und verwende das kostenlose Programm Maps.me, um mich zu orten und zu orientieren. Es dabei zu haben, ist beruhigend, aber ich will mich nicht zu sehr darauf verlassen. Viel interessanter ist es, nach dem Weg zu fragen, oder sich an Bergen und Flussläufen zu orientieren. Oder sich auch einfach mal zu verlaufen!

Lektion 18: Im Vergleich zu dem, was Eure Eltern und Großeltern gemacht haben, sind all unsere Abenteuer Pipifax. Also keine Angst!

Für den Rückweg wähle ich die Straße, auch in der Hoffnung, dass mich die Arbeiter bei ihrer Rückfahrt nach La Paz sehen und mitnehmen. Aber wir werden uns nicht mehr begegnen. Denn der vorgesehene Weg ist so langweilig und staubtrocken, dass ich mir auf der Karte ein neues Ziel suche und jetzt querfeldein darauf zusteuere: das Dorf Milluni. Wieder ist es mehr der Weg als das Ziel, das mich lockt. Ich will einfach noch mehr Zeit über diese Hügel wandern, den See im Blick, das Alleinsein genießen.

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Dass ich mir von dem Dorf keine großen Vorstellungen gemacht habe, ist gut, denn als ich nach weiteren zwei bis drei Stunden dort ankomme, ist das Dorf wie alles andere, was ich heute gesehen habe: tot und verlassen. Sogar noch toter als alles bisher. Es ist nur mehr ein Friedhof übrig. Aber was für ein Friedhof, in was für einer Lage! Ich hatte schon mal darüber geschrieben, dass ich gerne dort begraben werden will, wo ich irgendwann zufällig umkippe. Hier wäre ein schöner Ort zum Sterben.

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Aber nicht heute, denn ich bin noch fit. Muss ich auch sein, denn die Sonne neigt sich langsam dem Horizont zu und zeigt an, dass es Zeit für den Rückmarsch nach El Alto ist.

Lektion 19: Niemals eine Uhr mitnehmen! Die Sonne teilt einem schon mit, wann es Zeit ist, nach Hause zu gehen oder einen Platz für das Nachtlager zu suchen.

Zurück sind es 20 km auf relativ ebener Strecke, dafür werde ich etwa 4 Stunden benötigen. Vielleicht etwas mehr, weil ich schon erschöpft bin und die Beine schmerzen. Also gehe ich auf der Straße zurück, wieder in der Hoffnung auf eine Mitfahrgelegenheit.

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Es kommt nur alle halbe Stunde ein Auto vorbei. Die ersten beiden halten nicht an. Es wird immer kälter, der Schatten länger, die Zeit rennt mir davon. Am Morgen hatte ich gemerkt, dass meine Taschenlampe kaputt ist, ich müsste also durch die Dunkelheit laufen.

Lektion 20: Besser bei Vollmond wandern. Im freien Gelände und unter wolkenlosem Himmel gibt der Mond genügend Licht, um den Weg zu finden. Das ist sogar eine ganz besonders schöne Erfahrung.

Dann kommt ein LKW, dessen Fahrer sich erbarmt weil ich ihm durchs offene Fenster die Frage zurufe, ob er noch einen freien Platz hat. Der Beifahrer bedeutet mir, auf die Ladefläche aufzusteigen. Es ist ein Kipplaster, ich muss also auf den Hinterreifen steigen und mich dann hochziehen und in den Staub der Ladefläche werfen. Dort stehen schon zwei Bergarbeiter, die in diesem Tal in einer Zinkmine arbeiten, wie sie mir erzählen. Sie zeigen mir, wie ich mich mit beiden Händen festhalten muss, um nicht von der Ladefläche des mit etwa 60 km/h über eine staubige Piste und um enge Kurven donnernden LKW zu fallen.

Lektion 21: Macht Euch keine Sorgen, wenn Ihr zu weit gewandert seid oder Euch verlaufen habt. Es hält immer jemand an, der Euch zurück in die Stadt fährt.

Ich höre schon den Einwand „das funktioniert vielleicht in Bolivien, aber nicht in Deutschland/Österreich/Schweiz“. Stimmt nicht. Ich kenne einige Leute, die grundsätzlich nur per Anhalter reisen (hier ein Beispiel), und die haben es auch durch Mitteleuropa ohne Probleme geschafft.

Ich habe den Platz hinter dem senkrechten Auspuff, so dass mir ständig Ruß ins Gesicht strömt. Es ist saukalt, meine Hände schmerzen vom Festhalten an der scharfen Metallkante, ich kann mich kaum auf den Beinen halten, aber diese rumpelige Fahrt ist das schönste Anhalter-Erlebnis, das ich je hatte. Denn wenn ich den Blick zurückwerfe, sehe ich das Tal zwischen Huayna Potosi und Chacaltaya. Das saftige Grün der Wiesen und das glänzende Weiß des Schnees wirken in der späten Nachmittagssonne viel kräftiger als zuvor. Der See spiegelt dies und verdoppelt die Schönheit der Natur. Lamas und Schafe laufen über die Straße. Es ist das Paradies. Weil ich mich ständig festhalten muss, kann ich die Kamera nicht bedienen, was mich zuerst ärgert, aber bald kaltlässt, weil ich selbst jede Minute der etwa halbstündigen Fahrt genießen kann.

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Rechts seht Ihr die Straße, auf der ich in dem LKW fuhr.

Lektion 22: Was immer Ihr macht, macht es nicht, um anderen davon zu erzählen oder es mit anderen zu teilen. Macht es für Euch selbst. Auf einigen meiner besten Reisen hatte ich gar keine Kamera dabei, und wenn ich nicht diesen Blog schriebe, würde ich immer noch nicht fotografieren. Ein Foto kann sowieso nur einen kleinen Teil dessen einfangen, was auf Euch wirkt.

Wer wissen will, wie das Tal auf mich an jenem Abend wirkte, möge sich an die Natur in den „Herr der Ringe“-Filmen erinnern. Ja, so spektakulär war es. Überhaupt hätte man diese Schmonzette auch in Bolivien drehen können.

Als ich von El Alto, wo die beiden Minenarbeiter und ich vom LKW springen und dem Fahrer jeweils 5 Bolivianos (weniger als einen Euro) zahlen – in Bolivien verdienen sich viele LKW-Fahrer ein Zubrot durch die Mitnahme von Passagieren – , nach La Paz fahre, starren mich einige Leute etwas komisch an. Erst zuhause merke ich, dass mein Gesicht vollkommen verrußt ist und ich wie ein Schornsteinfeger aussehe. An diesem Abend schlafe ich schnell ein. Am nächsten Morgen habe ich aufgrund der zugigen Fahrt eine verdammt starke Erkältung, die sich über ein paar Wochen hinziehen wird. Aber es war die Erfahrung wert.

Lektion 23: Ein Abenteuer muss nicht viel kosten. Für alle Busse und Transporte zusammen habe ich an jenem Tag weniger als 3 Euro gezahlt. Das Wasser und die zwei Snickers waren sogar noch billiger als wenn ich in der Stadt geblieben wäre und im Restaurant Mittag gegessen hätte. – Also kommt mir nicht mit dem Argument „ich kann mir das nicht leisten“!

Lektion 24: Wenn jetzt jemand entgegnet „aber dafür hast Du zuerst nach Bolivien fliegen müssen“, stimmt das erstens nicht, weil ich mit dem Schiff nach Südamerika kam, und zweitens missverstünde es die Kernaussage dieses Artikels. Ihr könnt überall ein kleines Abenteuer erleben und für einen Tag aus dem Alltag ausbrechen!

  • Fahrt oder geht einfach mal wohin, wo Ihr noch nie wart.
  • Macht das alte blind-mit-dem-Finger-auf-die-Landkarte-tippen-Spiel.
  • Fahrt 30 km mit dem Zug, steigt in einem kleinen Dorf aus und wandert zurück nach Hause.
  • Schreibt „Helsinki“ oder „Bratislava“ auf ein Pappschild, stellt Euch an die Landstraße und seht, wie weit Ihr kommt.
  • Geht aus der Haustür, an der nächsten Kreuzung rechts, an der folgenden Kreuzung links, dann wieder rechts, links, rechts und so weiter, bis Ihr nicht mehr wisst, wo Ihr seid.
  • Macht eine Wanderung bei Vollmond.
  • Fragt Eure Freunde, was die langweiligste und hässlichste Stadt in der Umgebung ist, und versucht, dort etwas Interessantes und Schönes zu finden.
  • Ladet einen Couchsurfer ein. Wenn jemand von seinen Weltreisen erzählt, ist das fast so gut wie selbst zu reisen. Manchmal sogar besser, weil Ihr nicht die Moskitos und anderes Ungemach erleiden müsst.

Es gibt Hunderte von Ideen. Wenn Ihr noch mehr braucht, schreibt mir einfach. Und dann schreibt mir, wie es Euch ergangen ist. Viel Spaß!

Links:

  • Das war harte Arbeit! Nicht die Wanderung, sondern der Artikel, der Euer Interesse gefesselt und Euch hoffentlich motiviert hat. Meine Motivation kommt aus Euren Kommentaren und Rückmeldungen und der Unterstützung für diesen Blog. Dafür vielen Dank!
  • Mehr Geschichten übers Wandern und übers Trampen.
  • Mehr Berge.
  • Und mehr aus Bolivien.

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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47 Antworten zu So geht Abenteuer! Eine Anleitung in 24 Schritten.

  1. Günter Moser schreibt:

    Hallo Andrew,

    der Artikel war meine Sonntagmorgen-Lektüre. Es war ein Vergnügen.

    Grüße Dad

    • Andreas Moser schreibt:

      Das freut mich sehr, denn ich habe bewusst bis spät in die Nacht gearbeitet, damit der Artikel rechtzeitig für die Leser in Europa am Sonntagmorgen fertig ist.
      Wann sonst hat man auch Zeit, so etwas langes zu lesen?

      Nächsten Sonntag gibt es etwas Neues, damit Du an dem einen Tag in der Woche ohne SZ nicht lektürelos frühstücken musst.

      Es ist mir ein aufrichtiges Anliegen, zu zeigen, dass es gar nicht vielen Geldes und Mutes bedarf, um ohne große Vorbereitung mal einen interessanten Tag zu erleben, von dem man dann die folgenden Wochen zehren kann. Mit dieser Einstellung könnte ich mittlerweile sogar in Deutschland interessante Gegenden, Dinge und Menschen entdecken.

  2. Lakritze schreibt:

    Große Freude, danke sehr. (Und das kann ich bestätigen: zu Fuß in Deutschland auf dem Lande wird man angestaunt wie ein Weltreisender.)

    • Andreas Moser schreibt:

      Mit meinem Roma-Hut werde ich wahrscheinlich noch mehr bestaunt werden. 🙂 Aber gut zu wissen. Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, kann ich die Geschichte von einer Wanderung nach Sibirien oder Istanbul spinnen.

      Wenn man im Rest der Welt auf Wanderer trifft, kann man dagegen fast mit Sicherheit davon ausgehen, dass es Deutsche oder Franzosen sind.

  3. Pingback: How to do Adventure – a Guide in 24 Steps | The Happy Hermit

  4. benwaylab.com schreibt:

    Hat dies auf rebloggt und kommentierte:
    Ein schöner Text mit guten Anregungen.

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  9. Martin schreibt:

    Wow, durch Zufall hierher gekommen und eine Perle entdeckt! Sehr schön geschrieben.

    Danke,
    Martin

  10. Andreas Moser schreibt:

    Die Idee, in der eigenen Stadt nach Neuem, Unbekanntem und Außergewöhnlichem zu suchen, greift Jens Mühling jetzt für Berlin auf: http://www.tagesspiegel.de/berlin/neue-kolumne-muehling-kommt-rum-in-96-texten-durch-die-stadt/19496950.html

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  29. Kasia schreibt:

    Sehr lebhafter Artikel, ich habe ihn sehr genossen. Bilder, die man auf Reisen macht, sind mir persönlich schon wichtig, doch in einem Blog sind sie mir nur Beiwerk. Denn ein guter Bericht schafft es, mit Worten zu malen, so dass sich der Leser mitten in der beschriebenen Landschaft wähnt.

    Eine Anmerkung habe ich allerdings zum Thema „rein ins Abenteuer, immer und überall“: loslaufen und sich verlaufen oder bei Vollmond spazieren zu gehen, oder mit einem Snickers auf Berge steigen ist in (…Bolivien…) spannender als in Buxtehude. Ist nun mal so. Und klar, kann ich ab meiner Haustür versuchen, mich zu verlaufen, aber hm… es ist meine Stadt, da kenne ich jeden Stein mit Vornamen. Es kommt doch sehr darauf an, wo man ist 😉

    • Andreas Moser schreibt:

      Dann bist du aber schon immer mit offenen Augen unterwegs.
      Mir ist es immer wieder passiert, dass ich ein paar Tage in einer fremden Stadt bin, wild umherlaufe, und dann Leuten, die dort wohnen, schon etwas Neues zeigen kann. Weil die Einwohner oft nur schnurstracks von Zuhause zu Arbeit laufen.

      Vor ein paar Monaten gab es mal die 15-km-vom-Wohnort-Beschränkung wegen Corona. Ich bin dann in den Wald gegngen, bis ich an den ersten Weg kam, den ich noch nicht kannte. Und dann immer weiter, nur Abzweigungen, von denen ich nicht wusste, wohin sie führten. Und ich habe wieder eine Menge Neues entdeckt. Burgen im Wald, Kapellen, gut versteckte und ebenso verdächtige Holzhütten, Aussichtsfelsen. Alles im nächsten Umkreises des Dorfes, in dem ich schon mehr als 20 Jahre gelebt habe.

      Aber lustig, dass du Buxtehude erwähnst!
      Das ist nämlich schon lange eines meiner Traumziele. Nach Corona wird mich hoffentlich eine der ersten Reisen dorthin führen.
      Ich weiß zwar gar nichts von der Stadt, aber manchmal genügt ein exotischer Name. Kandahar. Timbuktu. Buxtehude.

    • Kasia schreibt:

      Der letzte Abschnitt deines Kommentars gefällt mir ganz besonders. Ein exotischer Name? Ich bin dabei. Ein Ort, ein Land, von dem ich nix weiß? Her damit. Je weißer der Flecke auf der Landkarte, umso besser…

      Und ich verkünde hiermit offiziell, dass ich in deine Fußstapfen treten werde. Na gut, temporär zumindest. Es gibt da so eine Osterchallenge, wo man am Karfreitag draußen übernachten soll. Egal, wo draußen, Hauptsache draußen. Bei jedem Wetter. Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, mein schickes Ikea-Bett in den Garten zu schieben… 🙂

      Mal schauen, ich habe mich schon mal angemeldet. Momentan sammle ich Ausreden. Ich werde berichten, was daraus geworden ist… 🙂

    • Andreas Moser schreibt:

      Oh, das ist ja bald!
      Und da wird noch fast voller Mond sein, also ausreichend hell.

      Vielleicht zählt ja der Balkon oder die Terrasse? 😉 So habe ich auch angefangen…

      Oder du schläfst dich vorher gut aus und bleibst einfach die ganze Nacht wach, praktisch wie eine Nachtwanderung.
      Das ist auch weniger Aufwand. Und du kannst von Tankstelle zu Tankstelle gehen und Snickers essen.

    • Kasia schreibt:

      Ich glaube, „von Tankstelle zur Tankstelle“ zählt nicht, es geht da schon ums Übernachten… Ja, die Terrasse oder der Balkon zählt auch, ich werde wohl auf unserer Terrasse verbleiben. Dann hat man die Möglichkeit, mal schnell ins Haus zu hüpfen, falls man was vergessen hat…

      Die Veranstalter hätten zwar gerne einen „kreativen Übernachtungsort“ gehabt, aber die sollen nur froh sein, dass ich das überhaupt durchziehe, ohne mir vor Angst… du weißt schon 😉

      Wenn ich gaaanz, ganz viel Mut habe, fahre ich vielleicht auf einen Berg, von wo man einen Blick runter auf das Heidelberger Schloss hat. Aber nur vielleicht. Rechne eher mit dem Garten… 😉

    • Andreas Moser schreibt:

      Auf jeden Fall viel Spaß!
      Und wenn man vor Angst oder vor Wolfsgeräuschen nicht einschlafen kann, so kommt man wenigstens endlich zum Podcast-Hören. 🙂
      (Aber immer nur mit Kopfhörer in einem Ohr, damit man sicherheitshalber doch noch den Bären oder so hört.)

    • Kasia schreibt:

      Lach, ich werde es mir merken… 🙂

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